Beute (abgeschlossene Geschichte, HTML)


Hell, dunkel, hell, dunkel, ...

Aus der Dunkelheit jenseits der Scheinwerferkegel glitten weiße Mittelstreifen in endloser Abfolge, immer wieder unterbrochen von der glänzenden Schwärze des nassen Asphalts und flackerten einen hypnotischen Rhythmus auf Benno Trenkers Netzhaut. Die Hände fest um das Lenkrad seines weißen 69er Firebirds gekrallt, starrte er in die Finsternis, heizte die lodernde Wut in seinem Inneren mit Geschwindigkeit und dem Alkohol in seinem Blut und ließ das kehlige Grollen des mächtigen Triebwerks seine düsteren Gedanken untermalen.

Was für eine Nacht. Was für eine beschissene Nacht. Was für eine gottverdammte Nacht! Von wegen still und heilig! Erst die heuchlerische Familienfeier bei den Eltern seiner Freundin, die einfach nicht anders als mit Schnaps zu ertragen war, dann fangen alle an zu streiten und zu giften und er muss sich von diesem Flittchen anhören, er würde sich nicht für sie interessieren! Weibergeschwätz!

Wenigstens ließ sie sich dann von ihrer flennenden Mutter wegschleppen zum Weihnachts-Special im "Roundhouse". Dabei war das auch ein Scheißplan gewesen! Spätestens als sein "Kumpel" Maik aufgetaucht war und angefangen hatte seinem ... seinem! ... Mädchen einen vom verständnisvollen Softie vorzumachen, war es aus. Er hatte Maik erst mal die Fresse poliert. Dann war er aus der Disko geflogen und konnte noch zusehen, wie sich Maik von diesem Drecksflittchen trösten ließ!

Was wollten diese Weiber denn? Einen Kerl, der ihnen erzählt, was sie wollen? Das konnten sie haben! Er würde diesen Schlampen schon klarmachen, was sie wollten! Ihn! Und zwar mit allem, was er zu bieten hatte! Was war denn nicht genug an ihm? ... Und wieso war er dann nacheinander aus zwei weiteren Dissen rausgeflogen?

Weg von hier! Wohin? Keine Ahnung. Irgendwohin, wo die Frauen noch wussten, wie sie sich für einen Mann verhalten mussten! In seinem Auto. In seinem schnellen starken geilen Auto! So schnell, so stark, so geil wie er.

Die Scheinwerfer erfassten eine Gestalt am Straßenrand. Trenker blinzelte. Keine Veränderung, die Gestalt war da. Die schmale Silhouette, die sich unter dem hellen Wintermantel abzeichnete gehörte eindeutig einer jungen Frau, unter der Wollmütze quoll eine Flut aschblonder Haare hervor - und das Mädchen gestikulierte mit einer hübsch-hilflosen Art ein "Anhalten" in seine Richtung.

Wenn das mal kein Geschenk des Himmels war! Trenker stieg in die Eisen und genoss den kraftvollen Griff der Racingbremsen. Gut, der Firebird schlitterte ein wenig auf dem Schneematsch, aber schließlich kam der Wagen fast auf den Punkt vor der Anhalterin zum stehen, die dem Geschehen mit etwas unsicherem aber leicht fasziniertem Gesichtsausdruck folgte. Trenker setzte sein bewährtes Siegergrinsen auf, lehnte sich durch den Fahrgastraum und ließ mit geübtem Griff von Zeige- und Mittelfinger die Beifahrertür aufschnappen.

"Wohin soll's gehen, Hübsche?"
Kälte und Lichtverhältnisse ließen die Miene der Frau zu einem verklemmten Blinzeln geraten.
"Breitlitz. Kommen Sie da vorbei?"
Ehrlich gesagt hatte Trenker keine Ahnung, wo er das Ortsschild "Breitlitz" schon einmal gesehen hatte - aber was taugt schon ehrlich?
"Klar doch, liegt fast auf dem Weg! Spring rein!"
Für einen Moment lang zögerte das Mädchen im Widerstreit mit sich selbst.
"Geiler Wagen!"
Ihr Blick irrlichterte über die Instrumente, vor zur langgestreckten Motorhaube mit dem dort schwarz auf weiß im fahlen Licht der Straßenlaterne prangenden kunstvoll gezeichneten Hirschgeweih.
"Sollte das nicht ein weißer Vogel auf schwarzem Lack sein?"
"Wow! Ich seh' schon, eine Frau mit Geschmack!" Trenker zwinkerte ihr zu "Der Vogel kann - muss aber nicht. Ich hab' den Wagen komplett umlackieren lassen - nach meinem Geschmack eben. Was sagst du?"
Die junge Frau wog ab, dann nickte sie zustimmend.
"Irgendwie gut. Breitlitz ist sicher kein Umweg?"
Lässig winkte Trenker ab und legte noch mal alles, was sein leicht alkoholisierter Charme hergab in ein möglichst gewinnendes Grinsen.
"Ach was, ein paar Minuten - los steig ein, sonst wird es hier drin noch so kalt wie da draußen!"
Ein letztes Zögern, dann ließ sich die Anhalterin mit von ihrem Mantel gedämpfter Eleganz in den sportwagentiefen Beifahrersitz fallen.


Innerlich triumphierte Trenker - es würde doch keine einsame spaßlose Nacht werden. Noch bevor die Gurtschnalle seiner Beifahrerin eingerastet war, trat er auf das Gaspedal, und untermalt vom kraftvollem Aufbrüllen katapultierte der Achtzylinder den Sportwagen zurück auf die Straße.
"Hey, fahren Sie immer so? Es ist glatt!"
In der Stimme des Mädchens klang Vorwurf und Zweifel.
Mit entwaffnender Selbstsicherheit wiegelte Trenker ab.
"Immer mit der Ruhe, ich kenn' die Strecke und meine Reifen - alles kein Problem. Ich will ja auch ankommen, nur halt nicht erst morgen."

Ein paar Minuten des Schweigens entstanden, bis Trenker beschloss, das Eis zu brechen.
"Party oder Familienfeier?"
"Ein bisschen Feiern mit ein paar Freundinnen von der Arbeit. Ich wollte eigentlich nicht so viel trinken, sonst hätte ich mein eigenes Auto nehmen können - na ja, das von meinem Vater halt."
Sie runzelte kurz die Stirn.
"Hoffentlich ist der Wagen morgen früh noch da."
"Was ist es denn für einer?"
"Ein VW Passat mit Stufenheck - hellbraun."
"Na ja, so ein Seniorenjuwel klaut doch keiner!"
"Sagen sie nicht sowas, der fährt und kommt immer an. Vielleicht nicht so flott wie ihr Schlitten, aber immerhin..."
Trenker lachte kurz.
"Kannst du bitte aufhören, mich zu siezen? So etwas bin ich nicht gewohnt! Ich bin Benno."
Über die Schulter warf er ihr einen freundlich kameradschaftlichen Blick zu, den sie mit einem etwas schüchternem Lächeln erwiderte.
"Ok, ich bin Jessica - also Jessy..."
Ohne seine Augen von der matschnassen Fahrbahn abzuwenden nutzte Trenker ihr Stocken zur Offensive.
"Na dann, Jessy, wer wohnt denn in Breitlitz? Du, deine Eltern oder dein Freund?"
"Das ist doch eigentlich egal, oder? ... Wie viel PS hat die Kiste? Schluckt das Ding nicht unglaublich viel Sprit?" Jessys Faszination für den Firebird war unverhohlen.
"Eine ganze Menge Pferde - und jedes davon ein ganzer Hengst!"
Trenker versuchte den Spagat zwischen scherzhaftem und anzüglichem Ton, was seiner Beifahrerin deutlich missfiel.

Wortloses Schweigen breitete sich aus, untermalt vom monotonen Grollen des Motors, während beide Insassen es für ein paar Minuten nicht über sich brachten, die erstorbene Konversation wiederzubeleben. Trenkers Stimmung verdüsterte sich mehr und mehr. Noch so 'ne Umständliche! Erst zu einem harten Kerl in ein starkes Auto einsteigen und sich dann noch zieren und die Sache kompliziert machen... Von "kompliziert" hatte Trenker für heute die Schnauze voll! Gestrichen voll! Er würde schon noch zu seinem Recht kommen - einfach und unkompliziert - und sie würde es sein, die ihn als nächstes mit einem Hengst vergleichen würde! Aus seinem Unmut wuchs Entschlossenheit, und zu dem hell-dunkel-Rhythmus der vorbeihuschenden Mittelstreifen gesellten sich Gefühle und Erwartungen aus den Untiefen seiner von Alkohol, Trieb und Frust angefachten Fantasie.


Grell aufflackernde Lichter im Rückspiegel rissen Trenkers Aufmerksamkeit zurück in die nasskalte Realität. Gleißend helle Scheinwerfer. Motorräder, keine Autos. Vielleicht zwanzig, dreißig Meter hinter ihm. Die Säcke mussten gerade aufgeblendet haben!

Für einen Moment verfluchte er seinen nächtlichen Tagtraum; er hätte die Kerle kommen sehen müssen. Er zählte: fünf, sechs ... vielleicht sieben. In dem Nebelschweif, den sein Wagen von der nassen Straße aufwirbelte, war alles schwer zu erkennen. Überhaupt mussten die irgendeinen schwerwiegenden Grund haben, so nahe an ihn heranzufahren! Nässe, Kälte und Geschwindigkeit mussten Motorradfahren unter diesen Umständen so richtig zur Hölle machen. In Trenkers Gehirnwindungen arbeitete es.

Polizei? Nein, die fuhren immer nur zu zweit, waren nicht so hart und er konnte zum Verrecken keine farbigen Blau- oder Warnlichter sehen.

Wer dann?

Eine Motorradgang, die es mit ihm und seinem Firebird aufnehmen wollte? Gab es Hell's Angels hier draußen? Keine Ahnung.

Er konnte jetzt keine Gesellschaft brauchen, die ihm die Tour mit der Kleinen vermasselte. Mal sehen, ob die wussten, wessen Verfolgung sie aufgenommen hatten. Trenkers Konzentration wandte sich ab vom Rückspiegel und seine Augen bohrten sich zusammen mit den Scheinwerferkegeln in die nassschwarz-weiße Dunkelheit, aus der die Blitze der Mittelstreifen in immer rascherer Folge heranflogen während er das Gaspedal Grad für Grad weiter zum Bodenblech drückte.

"Ähm ... kannst du bitte ein bisschen langsamer fahren?"
Jessys leicht vorwurfsvolle Stimme drang als Fremdkörper in Trenkers Gedanken.
"Du musst mir nicht beweisen, wie schnell dein Wagen läuft. Meine Güte, es ist glatt!"
Was wusste sie schon. Die Lippen verkniffen aufeinandergepresst, warf Trenker einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel. Keine Lichter mehr. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf seine Miene. Na, hatten die Biker doch zu viel bekommen? Da hatten sie sich wohl den falschen Mann im falschen Auto ausgesucht!

"Hallo? Hörst du mich? Bist du noch ganz bei Trost!?"
Jessys Ton war lauter und eine deutliche Spur verängstigter geworden.

"Fahr sofort langsamer!"
Wollte sie ihn etwa in seinem eigenen Wagen rumkommandieren? Zeit ihr zu zeigen, wo der Hammer hängt! Trenkers Gasfuß drückte noch etwas stärker auf das Pedal, der Wagen gehorchte willig und presste Fahrer und Beifahrerin sanft aber nachdrücklich in die Sportsitze. In Jessys Augen flackerten Angst und Panik auf. Trenker blieb betont gelassen.
"Hör mal, Mädchen, das ist mein Auto. Mein Auto, meine Regeln. Und Regel Nummer eins ist, dass ich bestimme, wohin und wie schnell ich fahre. Hast du das kapiert?"
Wie von einem Schlag ins Gesicht getroffen prallte Jessy fassungslos zurück.
"Sag mal hast du sie nicht mehr alle? Ich will sofort aussteigen! Ich finde schon einen besseren Weg nach Hause zu kommen!"

Zorn und Frustration flammten heiß in Trenker auf. Ruckartig wandte er sich ihr zu, das Gesicht vor Wut verzerrt. Aussteigen und den Deal platzen lassen? So wurde hier nicht gespielt! Plötzlich riss eine unsichtbare Kraft an seinem Lenkrad und wüst ratternd wurde der dahinrasende Wagen durchgeschüttelt. Verdammt! Er war auf den Fahrbahnrand gekommen. Erschrocken kreischte Jessy auf. Eine flammende Adrenalinwoge spülte Wut und Angst aus Trenkers Geist als ursprüngliche und antrainierte Reflexe für Sekundenbruchteile miteinander rangen und die Situation entschieden. Schließlich siegten Übung und Erfahrung und nach ein paar zehn Metern des Schleuderns konnte er den scheuenden Wagen wieder einfangen und stabilisieren.

Anspannung, Adrenalin und Triumph brachen ihren Weg.
"Yeeehaaw!"
Mit heftigem Atem und schweißnasser Stirn brüllte Trenker seinen Sieg über Straße, Geschwindigkeit und Tod hinaus. Auf Jessys Gesicht stand blankes Entsetzen und auch ihre Stimme brach sich an Lautstärke und Emotion.
"Anhalten! Sofort Anhalten! Du bist ja völlig irre! Halt das Ding an! Ich will hier raus!"
Trenker war unbesieg- und -erschütterbarer Herr der Situation. Gelassen und süffisant grinsend lehnte er sich zurück in seinen Sportschalensitz.
"Gut. Halten wir also an. Wenn du das jetzt willst..."
Zügig aber kontrolliert trat er auf die Bremse. Offenbar war Jessy von seinem plötzlichen Umschwingen so aus dem Konzept gebracht, dass sie keine passende Erwiderung parat hatte. Trenker kam das gerade durchaus gelegen - genau so wie die beiden orangen Begrenzungspfähle vor ihnen, die eine Abzweigung auf eine Nebenstraße oder einen Feldweg signalisierten. Besser hätte er das nicht planen können!


Beim Abbiegen schlichen sich erneute Zweifel auf Jessys ohnehin besorgtes Gesicht. Egal. Sie war eine erwachsene Frau und wusste, was Sache war. Zeit für seine Trophäe des Abends! Er fuhr ein Stück in den neben der Hauptstraße wie eine Mauer stehenden Wald hinein. Nun kam blanke Angst in ihrem Ausdruck auf.
"Hey, was soll das? Oh, Scheiße!"

Ihre Hände zitterten, als sie nach ihrer Handtasche griff und umständlich den Schnappverschluss auffummelte. Trenker brachte den Wagen zum stehen und ließ den Motor im Leerlauf vor sich hin blubbern. In einer blind funktionierenden Bewegung betätigte er den Schalter der Fahrgastraumverriegelung.
"Na na, für mich brauchst du dich jetzt nicht hübsch zu machen!"
Fast noch sanft fixierte Trenker das Handgelenk der zierlichen Frau, während er ihr mit Nachdruck die Tasche wegnahm. Wenn sie es härter wollte, dann sollte ihm das nur Recht sein. Ihm war gerade sowieso eher danach.
"Für mich siehst du super aus, Kleines - und hier wird uns sicher niemand anderes stören."

Mit der Kraft der Verzweiflung riss sich Jessy los und versuchte, den Türgriff zu packen, jedoch war Trenker einfach stärker und drehte ihr linkes Handgelenk schmerzhaft um. In Pein und Panik schlug sie nach ihm - und traf seine Stirn.
"Au, verdammt!"
Vom stechenden Schmerz geweckt loderten Wut und Zorn wieder in hellen Flammen durch Trenkers Adern. Fluchend rang er die wild und hilflos um sich schlagende Jessy nieder, wobei er versehentlich mit dem Fuß das Gaspedal streifte. Wie ein großes mechanisches Tier röhrte die Maschine ihre Kraft in die Nacht.

... und die Nacht antwortete.

Zunächst kam die Antwort einzeln. Ein heiseres Aufheulen, höher und dichter als der Ruf des V8-Motors. Dann fiel eine zweite Stimme ein, dann weitere und noch eine, während die erste Stimme ihren abklingenden Ruf erneuerte. Mitten in der vielstimmig dröhnenden Kakophonie der Motoren (waren es wirklich Motoren?) blendeten keine fünfzig Meter hinter dem stehenden Firebird etwa ein Dutzend Scheinwerfer auf. Motorräder, keine Autos ...

Die chaotische Szene im Inneren des Wagens war beim ersten Aufheulen von draußen geradezu eingefroren. Jetzt kam wieder Leben in die Insassen. Ein weiterer Fluch verließ Trenkers Lippen. Er ließ von Jessy ab, wirbelte herum, zurück in den Fahrersitz, haute den Gang rein und trat aufs Gas. Der Motor heulte gierig auf, und alle Kraft, die die Maschine auf den nassen Asphalt bringen konnte katapultierte den Wagen vorwärts auf die Straße. Eine Sekunde später setzten sich die Verfolger Stück für Stück in Bewegung und auf seine Fährte.


In Trenkers Kopf raste es. Drecksbiker! Wo kamen die jetzt her? Ein flüchtiger Seitenblick zeigte ihm, dass seine Beifahrerin an den Türgriff geklammert in ihrem Sitz zusammengesunken war, nach dem Rückspiegel schielte und wahrscheinlich heulte. Weibergeflenn! Wie er das hasste! Die würde er sich noch packen! Jetzt musste er aber erst die Motorräder abschütteln. Die schmale Nebenstraße verlangte alle seine Konzentration, vor allem jetzt, da er das Gaspedal fest auf das Bodenblech gepresst hielt.

Schneller und schneller brach die heranstürmende mondhelle Straße zwischen nachtschwarzen Wänden aus Wald von vorne über ihn und seine ausgelaugten Reflexe herein, während die Tachonadel unermüdlich nach oben kletterte. Leise triumphierend registrierte er, dass keines der immer noch drohend im Rückspiegel verharrenden Motorräder ihn bislang eingeholt hatte. Fresst Dreck, ihr Schlappschwänze! Der Abstand zu den Motorrädern wuchs. Immer mehr verschwommen die Umrisse ihrer Scheinwerfer in der aufgewirbelten Wasserschleppe des kraftvoll dahinrasenden Sportwagens. (Wurden die Scheinwerfer dabei nicht auch kleiner ohne sich zu entfernen?)

Nur nicht nachlassen!
Schneller!
Nicht nach hinten blicken!

Eine Bewegung neben ihm brachte Trenker beinahe aus dem Konzept. Das Mädchen hatte sich plötzlich in ihrem Sitz aufgerichtet und für einen Moment war ihm so, als würde sie ihn angreifen. Bevor er aber etwas Unüberlegtes und bei der gegebenen Geschwindigkeit Halsbrecherisches tun konnte, registrierte er, dass sie sich nach hinten umwandte und über die Schulter fassungslos aus dem engen Heckfenster starrte.

Bloß keinen Fehler machen! Über das Brüllen des V8-Motors hinweg drang ein heiseres Aufheulen an seine Ohren. Offenbar ließ einer der Verfolger zum Spott noch einmal seinen Motor hochdrehen! (Wie konnte er das in voller Fahrt tun? Klang das überhaupt wie ein Motor? War das vielleicht ein Signalhorn?) Bloß auf der Straße bleiben!

Er bemerkte, dass sich Jessys Mund bewegte, aber er konnte in dem Tumult keine Worte ausmachen. Was hatte sie? Wollte sie, dass die Gangverbrecher hinter ihnen sie retteten? Gehörte sie etwa zu denen? Wie ein Blitz schoss es ihm die Erkenntnis durch den Kopf: Das Mädchen hatte die Biker mitgeschleppt!

Fast hätte die Schlussfolgerung eine heranjagende Bodenwelle aus Trenkers Wahrnehmung verdrängt und nur mit Mühe behielt er die Kontrolle. Keuchend entwich die Luft aus seinen Lungen. Ein Stück gerade Strecke. Er brauchte Wahrheit. Jetzt. Seine rechte Hand holte aus, packte die junge Frau rüde am Kinn und riss ihren Kopf herum, so dass sie ihn anblicken musste.

"Sind das deine Kumpane oder rennst du vor ihnen davon?"
Trenker fauchte und schrie, ein Auge auf der Fahrbahn vor ihm, das andere auf der völlig verstört und irgendwie geistesabwesend wirkenden Jessy. Sie sagte etwas. Es war keine Antwort und es machte keinen Sinn. Erst als es sich träge wie ein Wassertropfen in einem Ölbad in Trenkers Geist gesenkt hatte, begriff er die Bedeutung.

"Die Männer! Sie reiten auf Pferden!"


Reflexartig drehte sich Trenker um.
Sie hatte Recht!
Und sie waren fast zum Greifen nah!

Durch das flache Heckfenster waren keine auf Rädern dahinrasenden Motorräder zu sehen, sondern in unwirklich weiten Sprüngen dahingallopierende Pferde. Die Scheinwerfer waren auch keine Lampen mit Glühdraht und Reflektor, sondern die flammend hell mit Feuerbrand umgebenen Augen und Nüstern der Tiere - und da waren auch Reiter.
Konnte das sein?
War das Wahn?

Wie in Zeitlupe trafen die unwirklichen Bilder auf Trenkers völlig unvorbereitete Wahrnehmung. Er sah wehende Umhänge, im Sturm geduckte Gestalten mit irgendwie unmenschlichen Proportionen und nass glänzendende schwarze Rüstungen und Speere. Aus der Mitte der dahinjagenden Menge aus Pferden und Reitern ragte eine übergroße Gestalt empor, auf ihrem mächtigen Haupt ein Helm (ein Helm?) mit einem prächtigen, vom Mondlicht surreal plastisch hervorgehobenen Geweih! Gebannt, wie unter Hypnose, musste Trenker zusehen, wie einer der Verfolger (Jäger?) ein Horn an die Lippen hob, sich reckte und dem Instrument einen heiser heulenden Ruf entlockte (oder war es Motorheulen?).

Ein gewaltiger Schlag traf den Firebird mit der Urgewalt eines unverrückbaren Hindernisses und riss Trenker jäh aus dem Albtraum, den er mit offenen Augen angestarrt hatte. Er schrie. Ohne auf Lenkrad, Bremse, Gas oder Aufbrüllen zu reagieren wurde der Wagen mit kreischenden Reifen herumgeschleudert, traf mit immer noch viel zu hoher Geschwindigkeit erneut auf einen Widerstand. Als sich das Fahrzeug wieder und wieder überschlug, versank Trenkers Welt rasch immer weiter hinter dem Schleier der Bewusstlosigkeit.

Der letzte Eindruck, der durch den Wirbel der Realität in seinen verlöschenden Geist vordrang, war eine rasend schnell näher kommende schwarze Säule mit Blättern und Rinde.

Dann ein Ruck,
ein reißender Schmerz
und schließlich eisige Kälte,
sich ausbreitend,
alles auslöschend.


Die Jagdgefolgschaft stand vor der Beute. Heute war die Jagd nicht gut gewesen. Die Beute war erlegt, doch der Jäger hatte kein Herz mit dem Speer durchbohrt. Sie war zu Tode gehetzt worden.

Der Jäger grollte ob des kapitalen Fangs, der Ihm entgangen war - und Sein Zorn war gefürchtet. Doch die Alten Regeln galten auch für Ihn. Es war klar: Die Beute gehörte den Treibern.

Rasch hatten sich die zwei stärksten Treiber den besten Teil gesichert: das Fleisch der beiden Menschen. Während sich einer bereits am Blut des Mannes berauschte, hatte der andere dessen Weibchen aus dem Wrack gezerrt.

Unschlüssig zögerte er, denn er roch, schmeckte das Leben in ihr, fühlte ihr warmes Blut in ihren Adern pulsieren. Sie lebte noch. In ihrem Geruch lag mehr. Angst. Angst, und der angstgeborene Wunsch zu leben. Nebenan wütete der Jäger.

Der Treiber dachte nach. Er griff nach seinem schwarzen Dolch - und steckt ihn wieder ein. Nein. Wie konnte es an ihm sein, den Tod zu geben, wenn der Jäger kein Blut vergossen hatte? Doch die Beute war sein.

Das Weibchen wollte Leben - und den Tod zu geben geziemte sich nicht. Also würde er Leben geben, nicht den Tod! Heißer Atem dampfte aus seinen ledrigen Nüstern, als er ihren bewusstlosen Leib davon trug.


Den Zeitungen war die Nachricht eine Achtelseite im Lokalteil wert: Ein tragischer Unfall auf einer Landstraße mit einem kleinen Wunder. Wegen geradezu fahrlässig überhöhter Geschwindigkeit hatte der Fahrer eines Sportwagens die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Wagen überschlug sich mehrfach und prallte schließlich gegen einen Baum. Während der Fahrer sofort tot war, schaffte es die schwer verletzte Beifahrerin wie durch ein Wunder, sich fast einen Kilometer bis zu einem nahe gelegenen, zufällig gerade bewohnten Ferienhaus zu schleppen, wo sie gefunden und gerettet wurde.

Ein Polizeisprecher gab Auskunft, die Frau sei trotz zahlreicher Prellungen, Schürfwunden und angebrochener Rippen in stabilem Zustand. Detailliertere Angaben über Personalien und Aufenthaltsort der Frau wollte die Polizei vorerst aber nicht freigeben, bevor nicht die genauen Umstände des Unfallhergangs geklärt wären.

Während es von offizieller Stelle keine weiteren Auskünfte gab, war von Quellen im Polizeiumfeld zu erfahren, dass die Verwicklung weiterer Personen in die Angelegenheit noch untersucht wird. Die Frau hätte in ihrem Zustand unmöglich die Strecke zwischen dem Ferienhaus und dem Unfallort zurücklegen können, wo unter anderem ihre Handtasche sichergestellt worden war. Darüber hinaus wäre die Spurenlage ungewöhnlich unklar und auch ein Sexualvergehen oder ein Drogenhintergrund sei nicht auszuschließen.

Über den Artikeln prangte stets das Bild des in der Rauhnacht an einem Baum in zwei Hälften zerrissenen 69er Pontiac Firebird - mit einem trotz aller Schäden deutlich erkennbaren stolzen schwarzen Geweih auf der strahlend weißen Motorhaube.

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