10. Andere Saiten (4)


Den soeben aus der Tasche geborgenen Puppenkopf in den vor sich gestreckten Händen haltend begann Irene Hasmann durch das Prasseln des Regens unhörbare Worte und Phrasen zu murmeln. Dann blickte sie Brack an, nickte deutlich ohne im Redefluss innezuhalten und schloss die Augen. Brack sog tief Luft ein, streckte noch einmal die Schultern durch und stapfte entschlossen los in Richtung Brücke. Als er Beil und Mohrek passierte, drehte er den Kopf zu ihnen um, grinste kalt und knarrte im Kommandoton: "Meine Herren, am besten  bleiben Sie hier, halten Maulaffen feil und fragen sich, warum Sie lieber ein Kind vorgeschickt hätten als sich selbst ein paar Schrammen einzufangen." Dann zog er mit völlig routinierter Geste sein Schwert aus der Scheide und setzte seinen Fuß auf den Brückenabsatz.

In vollem Bewusstsein der gebannten Blicke von Beil, Mohrek und Irene Hasmann schritt Brack den Brückenbogen entlang. Ein Anfänger hätte wohl nach ein paar Metern auf der Brücke Hoffnung geschöpft, doch sicher auf die andere Seite zu gelangen. Nun ja, Brack wusste es besser - aus Erfahrung: Trolle warteten gerne, bis sich ihr Opfer mitten auf der Brücke befand - das machte den Versuch, das rettende Ufer zu erreichen, aussichtsloser. Es war nicht die Frage ob, sondern viel mehr wann und wie der Angriff erfolgen würde. Alle Sinne weit offen konzentrierte sich Brack auf jedes Detail seiner Umgebung, versuchte das Unbekannte zu erwarten. Diese Form der Anspannung, der gerade Weg hin zu einer Konfrontation, das gewohnte Gewicht des Schwertes in seiner Hand und das vertraute Gefühl des Mantels auf seinen Schultern - genau so etwas hatte er heute noch gebraucht. Insgeheim hoffte er, dass der Troll dieser Brücke mindestens so fies sein würde, wie er gehört hatte ...

Überhaupt Trolle. Underdogs der Feenwelt. Brack konnte sich mehr oder weniger schmerzhaft an einige Zusammentreffen mit diesen groben Vertretern des "Volkes von Arcadia" erinnern. Im Grunde genommen gab es drei Möglichkeiten, an einem Troll vorbei zu kommen: Bezahlen, wenn der Troll einen "Trollzoll" verlangt, den Troll mit irgendeinem Trick verarschen oder aber eine frontale Auseinandersetzung. Weder die erste noch die zweite Möglichkeit zog er in Betracht. Überhaupt war ihm nicht bekannt, dass der Schlosserbrückentroll jemals Trollzoll verlangt hätte.

Es war eine kleine Veränderung in Rhythmus und Klang des Regens auf dem Plexiglasdach der Brücke, der Brack abrupt in Alarmzustand versetzte. Das Prasseln wurde leiser aber gleichzeitig dumpfer und klingender. Während sich sein Griff um das Schwert festigte, schlich ein sarkastisches Grinsen auf Bracks Lippen - übertrieben betonte Sinneseindrücke waren anscheinend ein Nebeneffekt des Feenglamours, den eben auch Trolle dafür verwendeten, ihre "Domäne" nach ihren Wünschen zu gestalten. Erkenne deinen Gegner an seinen Spuren, lies sie und lies ihn und nutze seine Schwächen! Das Lächeln auf Bracks Lippen verflog, als seine freie Hand in eine Manteltasche glitt und sich leicht um einen kleinen Beutel (nicht um die Phiole) schloss.

Dann wuchs der Troll aus dem Boden der Brücke, was Brack gelassen beobachtete - bis sich die Form des Wesens vor ihm deutlicher ausprägte.

Zunächst hatte sich in der Fläche der dunkelroten und grauen Betonsteine, die den Bogen der Neuen Schlosserbrücke bedeckten, eine etwa tellergroße Pustel aufgeworfen, fast so, als schafften sich die Wurzeln eines Baumes Platz unter einem naheliegenden Weg. Diese Wölbung war dann aber in erschreckendener Geschwindigkeit auf einer Fläche von drei Metern im Durchmesser angeschwollen und wuchs unablässig immer höher hinauf. Bald waren die ersten Pflastersteine zur Seite gefallen und gaben den Blick auf die Kreatur frei, die sich darunter ihren Weg aus dem Leib der Brücke hinaus bahnte.

Dumpfer, fauliger Gestank quoll heraus und Büschel von räudigem Fell traten ans fahle Licht der Brückenbeleuchtung, unter deren strähnigen Zotteln sich ölig schwarze, warzige Trollhaut spannte, an einigen Stellen jedoch krass kontrastiert von matten cremefarbenen, irgendwie künstlich wirkenden Flächen, die zwar offenbar zum selben Wesen gehören mussten - jedoch in keinster Weise zu dem passten, was Brack über Trolle wusste. Adrenalin schoss durch seine Adern, als sein Körper in Kampfhaltung ging, die Klinge zwischen sich und dem unerwartet unbekannten Gegner.

Weiter und weiter drang das Monster in ruckartigen Schüben aus dem Boden empor und immer mehr Brückenmaterial platzte von seiner bereits über drei Meter hohen Gestalt ab. Ein ungeschlachter knorriger Trollschädel mit triefenden schwarzen Schweinsaugen brach hervor, eine gewaltige, haarige, klauenbesetze Pranke wurde hochgerissen und schleuderte mit Leichtigkeit einen Zentner Steine über das Brückengeländer - und dann war da ein zweiter Kopf. Von Größe und Form her das Idealmaß eines menschlichen Kopfes, machten die deutlichen Spalten links und rechts des Unterkiefers sowie die klaffenden, randlosen Löcher dort, wo die Augen hätten sein sollen klar, dass es sich um eine Puppe handeln musste. Eine Puppe, deren grundlegende Gestalt dem Kopf glich, den Irene Hasmann am Ufer in den Händen hielt. Eine Puppe, auf deren neben der Trollfratze absurd perfekten Zügen ein Ausdruck wahnsinnigen Hasses in Plastik eingefroren war.

10. Andere Saiten (3)


Er drehte sich zu dem Straßenbengel um, der ihn stockend kaugummikauend mit weit offenen Augen unter struppigen dunkelblonden Haaren ansah, die Hände in die Taschen der fleckigen braunen Jacke gestemmt und der offenbar nicht ganz begriff, worum es hier ging. "Noch Interesse an einem Geschäft?"

"Klar!" Eine Kaugummiblase und eine angehobene Augenbraue unterstrichen das Angebot. "Die Sache klingt aber mächtig schräg und ziemlich heiß. Was soll der Bullshit mit 'nem Troll? Dreht ihr hier 'n Film oder was?"

"Nicht dein Problem, Kleiner. Anderer Auftrag. Du rennst zu meiner Karre da hinten und holst hinter dem Beifahrersitz eine blaue Sporttasche raus. Nur die Tasche und keine Witzchen - verstehen wir uns? Dann bringst du die Tasche der Dame hier." Bracks Kinn wies auf Irene Hasmann. "Das Ganze bitte vorsichtig, als wäre in der Tasche ein Marmeladenglas mit einer ganzen Melone drin. Klar? Wenn du das erledigt hast, kriegst du von mir die Zahlenkombo für ein Schließfach am alten Westbahnhof, in dem du ein nettes und noch genießbares Fresspaket findest. Das gehst du dir dann holen - und zwar sofort."

"Sie sind so ein Grenzer, nicht?" Die Augen des Jungen verengten sich zu argwöhnischen Schlitzen. "Die Frau wollte mir auch kein Geld geben, ihr redet von komischen Sachen wie Trollen und Gehirn im Glas und hey, Sie haben so'n Riesenmesser auf Ihrem Rücken hängen ohne dass es irgend'nen Furz hier stört. Kein Geld, abgedrehte Sachen und irgendwie sieht euch keiner. Grenzer." Das letzte Wort spie er geradezu aus und machte vorsichtig einen Schritt rückwärts.

"Bist ja gut informiert." Brack wirkte unbeeindruckt, zog den linken Mundwinkel hoch und spuckte etwas Tabakreste in die Gosse. "Weißt du auch, was man noch über uns sagt? Über unsere Versprechen und unseren Handel?"

Nachdenklich nickte der Junge leicht und zögerte in seinem Rückzug. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach Brack weiter.

"Wenn der schlaue Mensch, der dir von uns erzählt hat, wirklich was von der Sache versteht, dann hat er dir erklärt, dass ein von uns gegebenes Wort zählt - und zwar auf den Buchstaben und  ohne Wenn und Aber. Ich hab' heute 'nen Scheißtag und verdammt noch mal keinen Bock auf Spielchen. Also hol uns die Tasche und hau ab - oder hau einfach nur ab."

Einen letzten Moment lang zögerte der Junge, nickte dann und rannte dann eilig in Richtung von Bracks Kübelwagen.

Nun wandte sich Brack zu der gleichzeitig empört und betreten wirkenden Irene Hasmann. "Ich nehme an, wenn ich Ihnen den Rest des Puppenkopfes hier lasse, können Sie etwas damit anfangen. Richtig?" Irene Hasmann nickte erst nachdenklich, dann mit Nachdruck und Brack hielt ihr auffordernd die behandschuhte Hand entgegen: "Na dann geben Sie mir mal ihr trollseitiges Fernende."

Die Magieradeptin musste kurz umdenken, dann holte sie aus ihrer braunen Lederhandtasche eine etwa fingerlange von silbrigen filigran geschwungenen Metallstangen umschlossene Phiole, in deren milchig trübem Inhalt träge ein graugrünliches Klümpchen trieb. Brack schätzte mit geübtem Blick die Zerbrechlichkeit des Objektes ab bevor er es nahm und in seiner Manteltasche verschwinden ließ. Aus den Augenwinkeln sah er den Jungen, der sich mit hinreichend vorsichtig getragenen Tasche wieder der Hörweite näherte. Die Moralpredigt über das leichtfertige Opfern von Normalos, insbesondere Kindern, musste wohl noch etwas warten.

"Da haben Sie ihre komische Tasche - und wenn da Marmelade drin ist, seid ihr Grenzer noch abgefahrener als ich dachte." Wieder zögerte der Junge, sah auf die Tasche hinunter und stellte sich offensichtlich gerade zum ersten Mal die Frage, was da wohl tatsächlich drin wäre und warum er noch nicht hineingesehen hatte. Bracks Mundwinkel verschoben sich zu einem schiefen Grinsen: der Kleine war scheinbar noch normal genug, um durch den Schleier von den gröbsten Einblicken abgehalten zu werden. Grund und Zeit ihn loszuwerden. Aus einer der zahlreichen Innentaschen seines Mantels fummelte Brack einen mehrfach gefalteten Zettel und reichte ihn ohne weiter Überprüfung an den verwirrt wirkenden Jungen weiter.

"Hier. Die Nummer von Schließfach steht über der Kombination."

Etwas abwesend nahm der Junge das Papierstück entgegen, wendete es zwischen nassen ungewaschenen Fingern und steckte es dann ein, während er Irene Hasmann beobachtete, wie sie sich an der Tasche zu schaffen machte. Brack beschloss, ihm keine Zeit für Erkenntnisse oder Fragen zu haben und polterte im Kommandoton los: "Wartest du auf etwas Bestimmtes? Armageddon lässt angeblich noch etwas auf sich warten und bis dahin möchte ich hier fertig und aus dem Regen raus sein! Mach die Fliege! Aber flott!"

Noch einmal sah sich der Junge zur Brücke, zu Brack und zu der mit dem Reißverschluss der Tasche ringenden Irene Hasmann um, schickte sich an etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber doch anders und rannte durch den Regen in Richtung Uferpromenade davon. Brack sah ihm ein paar Sekunden nach, erneut abwägend, ob er die Hasmann zur Schnecke machen sollte. Dann wischte er sich die Regentropfen aus den Augenbrauen, beschloss, die junge Magierin jetzt nicht noch mehr zu verunsichern und stattdessen die Sache hier zu Ende zu bringen. Außerdem war er das Wetter leid und die Neue Schlosserbrücke war immerhin überdacht.

"Bereit, Frau Hasmann?"

10. Andere Saiten (2)


Es war Beil, der nach einigen Sekunden des klammen Schweigens die Initiative und das Wort ergriff.

"Abend Boss! Hätten nicht gedacht, Sie hier zu sehen!"

"Mhm?" Brack fixierte ihn fragend, sagte aber weiter nichts.

"Ahm - Frau Hasmann hier hat 'nen Plan wegen der Brücke. Meint, wir sollten da was mitten drauf legen und sie könnte dann mit dem Ding in der Brücke reden - also nicht mit dem Troll."

"Mhm?" Sollte sich Beil ruhig noch ein bisschen winden.

"Aber ... " Beil geriet ein wenig ins Stocken und sah hilfesuchend zu Mohrek, der sofort versuchte helfend einzuspringen.

"Sie haben uns doch gesagt, wir sollten zusehen, dass Frau Hasmann nichts passiert, nicht? ... und ein Auge darauf haben, dass alles glatt geht, nicht? Jetzt hatte Frau Hasmann die Idee, dass der Junge da so ein Ding auf die Brücke tragen könnte, damit sie von hier aus ihren Zauber machen kann. Alles unter Kontrolle also... nicht?"

"Mhm." Brack zog die Augenbrauen zusammen und drehte sich zu Frau Hasmann und dem geschätzt Zehnjährigen um.

"Frau Hasmann!" Bracks vom Leben gegerbte Stimme drang durch den prasselnden Regenvorhang und überbrückte mühelos die paar Meter, die ihn von der stämmigen Magierin trennten.

Überrascht drehte sich die Angesprochene um und auch der Aufmerksamkeitsfokus des neben ihr stehenden Bengels verschob sich mit trainiertem Gespür für Hackordnungen zu Brack.

"Ah! ... Herr Brack! Schön, Sie zu sehen. Wir - äh - brauchen noch einen Moment." Irene Hasmann schob eine klatschnasse schmutzigbraune Haarsträhne weg, die vor ihre im trüben Nacht-und-Regen Licht matt wirkenden grünen Augen gerutscht war, und wirkte völlig bar jedes Planes und Konzepts.

"Einen Moment, ja? Sie wirken eher so, als bräuchten Sie ein bisschen handfeste Unterstützung. Wie es aussieht, muss ich hier einen schweren Mangel an Initiative" - er gestikulierte zu Beil und Mohrek - "und Entschlossenheit ausgleichen." Er grinste ihr unverblümt aber nicht unfreundlich ins Gesicht. "Was brauchen Sie, um mit den Resten der Beschworenen in der Brücke Kontakt aufzunehmen?"

"Ich ... äh ... habe eine quasiresonante synergetische Verbindung zu der Probe cerebraler Masse in einem Gefäß erstellt, die Sie mich vorher haben aus der neostatischen Kanope entnehmen lassen. Den Telenodus - also das Fernende der Quasiresonanz - soll der Kleine da hinten am Apex der Brückenkonstruktion platzieren . Sobald die Foki in der korrekten Konstallation temperiert ..."

Mit abwehrender Geste unterbrach Brack: "Also Sie wollen, dass der Junge ein ... Stück Gehirn in einem Glas auf die Mitte der Brücke trägt. Richtig? Ja oder nein."

"Ahm ... ja."

"Ihnen ist klar, dass der Junge so nahe an der Grenze ist, dass der Troll ihn und Ihr kleines Einmachglas einfach verschlingen wird? Ja oder nein."

Irene Hasmann stockte, drehte sich kurz halb zu dem Straßenjungen um, der mit skeptisch ungläubigem Gesicht immer noch ein paar Schritt entfernt stand und wirkte betreten.

"Ahm ... nein."

"Denken Sie daran: Paradox von einem magischen Gegenstand färbt auf den ab, der ihn trägt." Ein Funkeln trat in Bracks Augen und seine Stimme wurde steinhart und so laut, dass sie auch zu Beil und Mohrek dringen musste. "Findet hier keiner eine bessere Lösung für das Problem, als ein verdammtes Kind an den verdammten Troll zu verfüttern?"

10. Andere Saiten (1)


Mürrisch starrte Brack über das Lenkrad seines grauschwarzen VW 181er Kübelwagens durch die regenverschmierte Scheibe auf die  in endloser Folge unter ihm hinweg gleitenden Reflektionen der Straßenlaternen auf der nassen Straße. Unbehaun hatte ihm zwar zugesagt, dass Marina Vanderduhn ihre seherischen Fähigkeiten ohne Widerrede zum Einsatz bringen würde, allerdings war die Dame derzeit offenbar bei einem 'Außerordentlichen Convent' in Venedig - und stand damit für eine rasche Befragung nicht zur Verfügung.

Beim Gedanken, einmal mehr ohne Ergebnisse zurückkehren zu müssen, verzog er schmerzhaft das Gesicht. Eine andere Lösung musste her. Irgend etwas würde er vorweisen müssen, wenn er nicht schon wieder die Launen Unbehauns zu fühlen bekommen wollte - aber was?

Nach kurzer Überlegung hatte er Kurs auf die Neue Schlosserbrücke genommen. Vielleicht hatte Frau Hasmann es irgendwie geschafft, mit dem "Geist in der Brücke" zu sprechen - und hoffentlich, hoffentlich waren seine Leute irgendwie mit dem verdammten Troll fertig geworden, so dass niemand zu Schaden gekommen war. Brack verdrehte die Augen: Eine vom Troll gefressene Irene Hasmann wäre das allerletzte, das er Unbehaun heute noch melden wollte! Nun gut, so schlimm würde es schon nicht gekommen sein. Sie war zwar noch ziemlich grün, was das harte Leben auf der Straße anging und er hielt von ihrem magischen Talent nicht besonders viel, aber so unbeholfen? Andererseits ...

Brack fluchte herzhaft und entschloss sich, den Gedanken nicht zu Ende zu denken. Statt dessen angelte er sich aus dem halbvollen Aschenbecher des Wagens eine halb abgebrannte Zigarre, wartete, bis diese von der Magie des Aschers pflichtschuldig angezündet wurde, und klemmte sie sich in den Mundwinkel. Der beißende Geschmack des wiederentflammten Tabaks lenkte ihn ab und nur wenig später tauchte hinter einer Ecke der im Regen glitzernde Beton, Stahl und Plexiglasbogen der Neuen Schlosserbrücke auf.

Alle Fußgängerzonen-Schilder geflissentlich ignorierend bugsierte Brack sein röhrendes Gefährt bis unmittelbar zum Fuß der Brücke, brachte es knatternd zum Stehen und stieg mit wuchtigen Bewegungen aus. Bereits bei der Anfahrt hatte er die pummelige Silhouette von Irene Hasmann erkannt, die anscheinend intensiv auf ein sowohl gerissen als auch abgerissen wirkendes Kind einredete. Mohrek und Beil, zwei seiner "Schergen für's Grobe" standen nur wenige Schritte entfernt am Betonansatz der Brücke und hielten ein (hoffentlich) waches Auge auf die Situation.

Mit einem letzten Zug, der seinen verglimmenden Zigarrenstumpen aufglühen ließ, bückte sich Brack zur noch offen stehenden Tür des Kübelwagens und zerrte unter dem blanken Gestänge des Fahrersitzes ein paar sorgsam in schwarzes Leinen gewickelte Pakete heraus. Wenn seine Leute unschlüssig vor der Brücke standen, war die Angelegenheit mit dem Troll wohl noch offen und er rechnete sich eine gute Chance aus, dass es an ihm liegen würde, sich mit dem Troll anzulegen. Als sein Blick dabei den hinter dem Beifahrersitz liegenden glasig aus einer Sporttasche ins Leere starrenden schwer lädierten Kopf der Schaufensterpuppen-Mumie streifte, überlief ihn einmal mehr ein unangenehmer Schauder. Beherzt und angewidert zog er den Reißverschluss der Tasche über deren grotesker Füllung zu. Lieber ein dreckiger grober stinkender Troll als diese ganze abartige Schwarzmagiescheiße!

Nachdem er ungeachtet des strömenden Regens in aller Seelenruhe einige Ausrüstungsteile angelegt hatte, schlug er lässig die Autotüre zu, spuckte den Tabakstummel auf die nasse Straße, schob grimmig den Unterkiefer vor und hielt auf seine ihn sichtlich unentspannt erwartenden Untergebenen zu. Seine Füße steckten jetzt in grob und kantig wirkenden Stiefeln, eine klobig und seltsam wirkende Armschiene verunzierte seinen rechten Arm und schließlich trug er eine mattschwarze Schwertscheide auf seinem Rücken, aus der der schlichte, etwas abgenutzt aber gut gepflegt wirkende Knauf einer Klinge ragte. Ein wenig musste sich Brack trotz seiner mürrischen Laune zusammenreißen, um nicht unwillkürlich über die betretenen Gesichter von Beil und Mohrek grinsen zu müssen - während Frau Hasmann offenbar noch keine Notiz von ihm genommen hatte. Mal sehen, wer sich trauen würde, ihm zu erklären, dass sich noch niemand mit dem Troll anlegen wollte...

9. Querungen (4)


Die Hände tief in die Jackentaschen vergraben, hielt Fiedler zielstrebig auf die unten am Brückenboden wartende Gruppe zu. Mit der leichten latenten Paranoia, die ihm das Überleben an der Grenze so oft erleichtet hatte, war auch ihm bereits aufgefallen gewesen, dass die beiden Männer sehr für das Geschehen auf der Brücke interessierten. Die dazugehörige Frau redete in der Zeit auf einen verwahrlost wirkenden Zehnjährigen ein - offenbar eine Art Straßenkind, mit dem sie dem Anschein nach in harten Verhandlungen stand. Währenddessen musterten ihre in lange Mäntel gehüllten Begleiter jeden Einzelnen, der die Brücke betrat oder verließ. Irgendwo in Fiedlers Hinterkopf regte sich das Gefühl, Fiedler hätte einen der Typen und vielleicht auch die Frau schon einmal gesehen. Grenzer? Egal. In jedem Fall war ein ungestörtes Vorankommen in seinem Sinn und Steinmeier sollte ruhig seinen Verschwinde-Trick vorführen und Sina Steinmeiers Gabe ausloten dürfen. Im Grunde genommen wurden mit diesem albernen Experiment zwei Dinge ausprobiert, deren Auswirkungen aber schwer auseinanderzuhalten sein würden: Kann Finn die Aufmerksamkeit auch von anderen Menschen ablenken und betrifft der Effekt die Abzulenkenden oder denjenigen, von dem abgelenkt wird. In letzterem Fall dürften die Beobachter am Brückenende ihn gleich mustern.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Sinas Aufmerksamkeit zwischen den beiden Typen und ihm selbst hin und her sprang - mit einem Grad von Anspannung, der einer Raubkatze kurz vor dem Sprung alle Ehre gemacht hätte. Impulsiv, die Dame. Oder? Irgendwo in Fiedlers Hinterkopf klingelte ein Alarm.

Er erreichte den stadtseitigen Fuß der Brücke.

Es geschah - nichts.

Die beiden Mantelträger würdigten ihn keines Blickes, keine Gefahr tauchte aus dem Hinterhalt auf - nicht mal der Troll ließ sich blicken. Nur der Regen prasselte auf das Plexiglasdach über der Brücke - und auf seinen Kopf und seine Schultern, als er darunter hervortrat.

Fiedler seufzte einmal mehr. Hinter ihm atmete Steinmeier vernehmbar auf, kaum dass ein paar Meter zwischen ihnen und seinen "Opfern" lagen. Sina war begeistert aber deutlich ruhiger als vorher auf der Brücke.

"Super! Das hat ja richtig gut funktioniert! Die haben Fiedler vollkommen ignoriert! Ist das anstrengend für Sie?"

 "Ach was - ein bisschen Fokus, ein bisschen Zen, sonst nichts." Finns kurzer Atem strafte ihn Lügen. "Es ist schwieriger, je mehr Leute abgelenkt werden sollen und je länger ich die Sache durchziehen muss. Irgendwie geht es auch noch darum, wie wachsam und clever mein Publikum ist oder so... Der Troll war jedenfalls ziemlich einfach."

Lakonisch schaltete sich Fiedler ein: "Trolle haben keine besonders lange Aufmerksamkeitsspanne - sie schauen nur, wer ihre Brücke betritt, nicht wer darauf bleibt."

Der verspielte Ausdruck auf Sinas Gesicht wich schlagartig wieder ihrem irgendwie gefährlich wirkenden Lächeln mit leicht zusammengekniffenen Augen:

"Trolle vielleicht - allerdings gehört Herr Steinmeier sicher nicht dazu."

An dieser Stelle ruckte Finn in völliger Überraschung herum und man sah ihm an, dass er nicht wusste, ob er nun geschmeichelt, beleidigt oder alarmiert sein sollte. Ungerührt fuhr Sina fort:

 "Ich bitte Sie, mir meinen Ausbruch von Neugier zu verzeihen, die Herren. Mir ist natürlich klar, dass Sie" - Sinas Augen bohrten sich freundlich aber nachdrücklich in die von Steinmeier - "sicherlich noch auf Fiedlers weitere Erläutungen warten, was unser nächstes Ziel angeht. Nicht wahr? Und Sie, Herr Fiedler, waren gerade so gründlich mit Ihren Ausführungen, dass es fast schon unhöflich von mir war, Sie dabei zu unterbrechen. Verzeihen Sie mir also bitte und fahren Sie fort!"

Mit ungewohnter Verlegenheit senkte Sina den Blick - ohne allerdings das Lächeln aus den Winkeln ihrer Augen zu verlieren.

Finn hatte sich wieder gefangen und besonnen und richtete seine Aufmerksamkeit mit krauser Stirn und angehobenen Augenbrauen auf den Sina grimmig anfunkelnden Fiedler.

"Ahm, genau. Also nochmal: Sie hatten gesagt, das Geschäft Ihres Kontaktes würde uns erwarten - und ich solle das auf mich zukommen lassen. Soweit so gut. Wo ich mich allerdings nicht einfach abwimmeln lassen möchte ist, welche Rolle ich bei der Sache spielen werde. Ich kann also nützlich sein. Nützlich als was? Als Helfer, Köder oder Gastgeschenk? Lassen Sie doch mal diese dämliche Geheimniskrämerei sein! Welche Rolle spiele ich in Ihrem Plan? Den Typ mit der Sprechrolle, der als erster in einer dunklen Gasse vom späteren Endmonster gefressen wird?"

Unvermittelt bog Fiedler den beiden anderen voran nach links über die Straße ab - hinein in eine vom regengedämpften Zwielicht der Laternen an der Hauptstraße nur indirekt erhellte Seitengasse.

Editorial: Spaß mit der Trollbrücke

Spaß mit Brack und Brücke

Kapitel 9 neigt sich dem Ende zu - und ich hatte gestern Abend das Vergnügen, Kapitel 10 für den "Reload" überarbeiten zu dürfen. Wer sich nicht mehr daran erinnert: Nummer 10 ("Andere Saiten") ist wieder ein Kapitel mit Brack - und diesmal kommt auch noch der Schlosserbrückentroll mit vor! Banzai! Da sowohl Kapitel 5 (mit dem Troll) und Kapitel 6 (mit Brack) zu meinen Favoriten gehören, zeigt sich hier vielleicht ein Muster?

Im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln musste diesmal recht viel umgeschrieben werden. Der Charakter Brack war ursprünglich inkonsistent, ein paar Abläufe an der Grenze waren widersprüchlich und so ganz am Rande passte das Geschehen in Kapitel 10 nicht zu seinen Anknüpfungspunkten in Kapitel 6. Nein, die Änderungen sind nicht revolutionär, aber für mich war das ein interessanter Ausblick auf die kommenden Kapitel 11 und 12, in denen ebenfalls mehr Änderungen zu erwarten sind. Was soll ich sagen - es hat geklappt. Diesmal.

Podcastcrew

Neben meiner Schreiberei haben meine beiden "Märchenonkel" damit begonnen, sich gegenseitig mit Ideen anzustecken. Wenn sich die Dynamik so weiterentwickelt, wird da noch ein ausgewachsenes Hörspiel draus - mit mehreren Sprechern, Kulisse und allem drum und dran. Will jemand vielleicht ein Filmprojekt starten, um noch etwas drauf zu setzen? Langsam bin ich jedenfalls selbst darauf gespannt, wie die Geschichte im Podcast läuft.

Also viel Spaß ab nächster Woche mit Troll, Brack und hoffentlich bald auch mit dem Podcast!

Bernhard

9. Querungen (3)


Mit spitzen Fingern begann er eine Zigarette aus der in Fiedlers Tasche wohl etwas malträtierten Packung zu herauszupulen.

Fiedler verzog leicht entnervt das Gesicht. "Oh das - na ja, wir haben hier an der Grenze keine E-Mail, kein Facebook, wenige Telefone und mitunter sehr merkwürdige Gewohnheiten bei der Postzustellung. Ich versuche einen meiner Kontakte zu erreichen, der uns dabei helfen kann, Astrid Kirchners Seele aus der Ödnis wieder hier her zu bringen. Dieser Jemand verwendet gerne Automaten aller Art als 'tote Briefkästen' - das genaue Procedere will und muss ich Ihnen aber ersparen. Jedenfalls erwartet sein Geschäft uns in den nächsten Stunden in einer Kneipe im alten Hafenviertel."

"Sein Geschäft erwartet uns? Normalerweise würde ich sagen, Sie hätten sich verquatscht, aber ..." Skepsis stand auf Finns Gesicht.

"Lassen Sie es auf sich zukommen. Keine Totengötter diesmal." Während Fiedler mit zuversichtlicher Miene voranschritt, schüttelte Finn resigniert den Kopf und begann, eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, in seinen Jackentaschen zu wühlen.

"Verdammt, kein Feuerzeug!"

"Darf ich helfen?" Sina lächelte zuvorkommend.

"Haben Sie ..." Gerade als Finn seine Hand nach dem erwarteten Feuerzeug ausstrecken wollte, begann die Spitze der Zigarette zu glimmen und eine dünne Rauchfahne stieg auf. "Netter Trick!" Finn zog angetan an seinem Glimmstengel während Fiedler ein paar Schritte weiter vorne die Augen verdrehte und schweigend weiter den Brückenbogen hinaufstapfte. "Was können Sie noch alles?"

"Dies und das." Einmal mehr präsentierte Sina ihr unergründliches Raubtierlächeln. "Ich finde allerdings die Fähigkeit, die Sie gerade eben zur Schau gestellt haben, viel faszinierender. Den Blick eines niedrigen Gottes abweisen - durchaus eine beeindruckende Gabe! Haben Sie so auch den Troll abgewehrt?"

Fiedler konnte förmlich zusehen, wie Finn bei Sinas Worten aufblühte. Die anfängliche Überraschung wich, seine Haltung wurde aufrechter und der Ansatz eines leicht rebellischen, siegesgewohnten und -sicheren Grinsens, das vor seinem hastigen Schritt an die Grenze das Markenzeichen des Schauspielers Finn Steinmeier gewesen war, breitete sich über sein Gesicht aus.

"Klar!"

Sina wirkte angetan und fast schon begeistert - oder imitierte diesen Ausdruck zumindest täuschend echt. "Sie können Ihre Gabe also auch lenken! Nicht schlecht - manche brauchen Jahre, um die entsprechenden Fertigkeiten zu erlernen. Bezieht sich Ihre Fähigkeit nur auf Sie? Ich meine - können Sie auch anderen Leuten so verschwinden lassen? Also mich zum Beispiel? Oder vielleicht sogar unseren wackeren Fiedler?"

Beim letzten Teil von Sinas Anfrage zog Fiedler interessiert die Augenbrauen hoch - die Sache könnte interessante Einsichten liefern. Nun gut, eigentlich war abzusehen gewesen, dass jemand wie Sina nicht einfach Smalltalk betreiben oder einen Fanclub gründen wollte. Nun, zumindest war jetzt klar, wohin sie die Unterhaltung lenken wollte. Finn wirkte wieder ein wenig unsicherer, beherrschte sich aber deutlich. "Ahm - das hab' ich noch nie ausprobiert. Also Sie ... oder Fiedler ... das müsste schon gehen!"

Offenbar reizte der Gedanke an Finns Möglichkeiten Sinas Neugier. "Klasse! Oh bitte! Probieren Sie 's aus! Ich wüsste zu gerne, ob das klappt!" Während Finn noch etwas verstört aber geschmeichelt dreinsah, blickte sie sich um und fuhr fröhlich und aufgeregt fort: "Blöd nur, dass die Normalos uns alle hier sowieso nicht wahrnehmen - aber Fiedler scheint so wenig Paradox zu haben, dass er gesehen wird. Au ja - lassen Sie doch mal Fiedler verschwinden! Ist das in Ordnung, Herr Fiedler?"

 Bei seiner Antwort versuchte Fiedler, sein eigenes Interesse an der Sache zu unterdrücken und maulte nur ein mürrisches "Tun Sie sich keinen Zwang an ...", da sprudelte Sina schon weiter.

"Sehen Sie mal, Finn, da vorne an der Brücke, die zwei Kerle und die Tussi daneben. Die warten offenbar auf irgendwas oder -jemanden und schauen sich die Leute auf der Brücke alle einzeln an. Versuchen Sie mal, die drei von Fiedler abzulenken! Ja? Oh bitte! Ich bin ja so gespannt!"

Finn zögerte einen Moment. "Ahm ... ja, klar - warum nicht. Ich glaube zwar nicht, dass das mit Fiedler funktioniert, weil bei dem doch gar nichts funktioniert - aber was soll schon passieren..."

Er konzentrierte sich.

9. Querungen (2)


"Anderwelt? Das war die komische Sache mit den Toren aus dieser Welt ... hinaus in irgendwelche anderen Ebenen?" Offensichtlich versuchte Finn gerade angestrengt, sein Weltbild der darauf einprasselnden nicht-passenden Konzepte anzupassen. "Ist die Ödnis nicht generell sowas wie ein Totenreich?"

"Nicht wirklich. Aber eins nach dem anderen: Wie Boris offensichtlich versäumt hat Ihnen beizubringen, gibt es neben dieser unserer Realität noch andere Welten, in die man durch verschiedene mehr oder weniger leicht zugängliche Tore gelangen kann. Die Ödnis ist im Grunde genommen eine sogenannte Zwischenwelt - sie besteht mehr oder weniger aus Orten, die keinen Platz mehr in der normalen Welt haben und vergessen wurden. In der Ödnis finden Sie die von Monstern und Drachen bewohnten Höhlen und Seen, die in dieser Welt zum Mythos wurden, die vergessenen Täler mit den mordenden Affenmenschen, die alten, von Geistern und Flüchen bewachten Gräber - und die Schreine der alten Gottheiten, wo sie ihre Wunder wirkten und Opfer nahmen. Die Natur dieser Anderwelt spielt eigentlich sogar in unsere Tasche - weil alle Orte unterschiedlich sind, gibt es zwischen ihnen so eine Art Barriere, die verhindert, dass ein Wesen einfach von einem Ort zum anderen wechselt. Die Seele der Kirchner ist also wahrscheinlich immer noch beim Ort des Orakels. Tatsächlich waren Sie natürlich auch schon einmal dort: Erinnern Sie sich an die Rückggabe der Tarotkarten?"

"Ja. Deutlich. Dunkler Ort mit großen Steinen, leuchtenden Zeichen und wispernden Stimmen. Passt ziemlich gut auf Ihre Beschreibung - so was hat in der realen Welt irgendwie keinen Platz - so wie die Besessene in der Kneipe, Sie beide ... und ich." Finn dachte einen Moment nach und blickte Fiedler dann argwöhnisch an. "Aber wieso ist es ein Problem einfach wieder dorthin zu gehen? Wir waren doch schon einmal dort? Können Sie nicht einen einfachen Weg nehmen? Und überhaupt - warum haben Sie das Angebot von diesem Samedi nicht angenommen, Astrid einfach wiederzubeleben? Wollen Sie das denn nicht?"

"Eine teilweise berechtigte Frage, Herr Fiedler!" Sina trottete mit fließenden Bewegungen und skeptisch interessiertem Gesichtsausdruck hinter den beiden her. "Sie hätten ihm sicher mehr bieten können, als unser grüner Neuling hier."

Es zuckte in Finns Gesicht, als er sichtlich mit sich ringen musste, nicht auf Sinas Sticheleien einzugehen. Im Gegensatz dazu blieb Fiedler völlig gelassen. "Wieder zwei Fragen, Herr Steinmeier, die ich nacheinander beantworten kann - übrigens ohne jegliche Bedenken.

Selbstverständlich wäre es naheliegend, das Orakel einfach durch das selbe Tor wiederzufinden, das wir damals benutzt haben - im Prinzip. Dagegen spricht, dass wir einerseits das Tor nicht ohne weiteres öffnen können - da hatten wir letzten Herbst mehr als nur Glück. Außerdem hat Boris nach den Geschehnissen um das Orakel ein paar Nachforschungen über das Tor angestellt und dabei herausgefunden, dass dieses Portal zur Ödnis im Grund ganz gut bekannt ist - mit der Einschränkung, dass es definitiv nicht zum Orakel führt. Es ist also anzunehmen, dass das Orakel, von Samedi so liebevoll als toter Gott bezeichnet, irgendeine seiner Fähigkeiten genutzt hat, um den Ausgang des Portals umzuleiten. Fazit: Der Weg, den wir letztes Mal genommen haben, ist diesmal verschlossen. Seien Sie aber beruhigt, dieser Weg wäre auch meine erste Wahl gewesen, schließlich möchte ich diese Geschichte auch möglichst einfach und schnell hinter mich bringen.

Was Ihre andere Frage angeht: Ich habe bereits ein paar Geschäfte mit Samedi hinter mir und auch schon ein paar seiner anderen Geschäftspartner getroffen - auch solche, die sich auf solch verlockende Deals mit ihm eingelassen haben, wie er ihn auch uns angeboten hat. Wobei ... ich weiß nicht, ob man bei diesen Leuten noch von Partnern oder besser von Opfern sprechen sollte. Wie unsere offenbar erfahrene Begleiterin hier Ihnen sicherlich bestätigen kann," ein scharfer Blick zur betont unschuldig dreinschauenden Sina, "ist der gute Baron in erster Linie im Toten-, Untoten-, Maden- und Fäulnisgeschäft tätig. Eine Wiederkehr unter seiner Regie wäre wahrscheinlich eher eine Auferstehung des Leibes - und zwar im jetzigen Zustand mit allen dazugehörigen Verfallserscheinungen und Samedis heißgeliebten Fliegenschwärmen. Ob diese Wiedergängerin dann tatsächlich von Kirchners Geist beseelt wäre, das halte ich doch für mehr als zweifelhaft. Wahrscheinlich kann Samedi auch eine wahrhaftige Auferstehung inszenieren - mit ein paar Einschränkungen, die hier aber nicht zutreffen dürften - aber dafür müssten wir ziemlich hoch in seiner Gunst stehen, was weder für Sie noch für mich und am allerwenigsten für die geschätzte Sina der Fall zu sein scheint. Davon abgesehen denke ich nicht, dass der Preis, den Samedi auch nur für eine Zombifizierung der guten Frau Kirchner verlangen würde, von den Spesen abgedeckt ist..." Fiedlers Blick kam schneidend kalt auf Sina zu liegen.

Ein paar dutzend Sekunden lang herrschte  völliges Schweigen, untermalt vom unablässigen Prasseln des Regens auf das nächtliche Straßenpflaster, während Fiedler der Gruppe auf den Bogen der Neuen Schlosserbrücke zu führte. Um Ärger mit dem Troll machte er sich dabei keinerlei Gedanken. Erst als sie die Brücke betreten hatten, entsann sich Finn seiner ursprünglichen Frage.

"Und was hat das jetzt mit der Zigarettenpackung zu tun?"

9. Querungen (1)


Vor den mit acrylfarbenen Palmen geschmückten Türen der Jungle Lounge schlug den drei Grenzbewohnern erst einmal die kalte, klamme, nach Großstadt und Regen schmeckende Luft der noch jungen Nacht entgegen. Während Sina auch in der Bar ihre dicke Bomberjacke nicht hatte ablegen oder verschwinden lassen wollen, klappte Fiedler wieder den Kragen seiner Lederjacke hoch.

"Reizendes Wetter. Ziemlich passend für einen Tag wie heute." Fiedlers gewohnter Sarkasmus ließ sich vom Regen nicht aufweichen. "Immerhin wissen wir jetzt, wo wir Frau Kirchner finden können - oder das, was von ihr übrig ist. Ich schlage vor, wir setzen die Kneipen-Tour fort und suchen uns ein neues Lokal, um unser Vorhaben und den Abend voranzutreiben!" Ohne auf eine Reaktion seiner Begleiter zu warten, machte er sich auf den Weg zurück in Richtung Elmufer.

"Das ist alles? Mehr Informationen gibt es nicht? Das können Sie nicht machen, Fiedler! Letztes Mal, als Sie mich irgendwo mitgeschleift haben, wäre ich beinahe von einem durchgeknallten Voodoo-Gott gefressen worden ... oder so ..." Finns Stimme war erbost und aufgebracht. "Hören Sie zu: Wenn Sie wollen, dass ich bei Ihrem beschissenen und völlig wahnsinnigen Plan mitmachen soll, dann will ich wissen, was läuft und was Sie vorhaben. Ansonsten bleibt Ihnen wohl doch nichts anderes übrig, als mich zu zwingen - denn dann steige ich aus. Kam das an?"

"Oh! Herr Fiedler, ich fürchte, Ihre überragenden Führungsqualitäten sind gerade gefordert ... nicht, dass Ihnen die Situation außer Kontrolle gerät..." Sina schnurrte geradezu vor Belustigung und Spott.

Mit einem tiefen Seufzer hielt Fiedler inne, drehte sich zu Steinmeier um - nicht ohne Sina einen vernichtenden Blick zuzuwerfen - und hob einladend die Hand. "Na gut, mein lieber Herr Steinmeier, wenn Sie mehr wissen wollen, dann erzähle ich Ihnen, wie ich die Sache angehen möchte. Seien Sie aber bitte nicht zu sehr enttäuscht, wenn Sie feststellen, dass auch ich nur einen oder zwei Schritte weiter geplant habe. Wenn es eine einfache Lösung für die Sache geben würde, hätte man wahrscheinlich nicht mich engagiert." Er zögerte kurz und fügte in Gedanken hinzu: "Allerdings sieht die Sache gerade viel zu einfach aus, als dass da nicht noch ein Haken wäre."

Laut fuhr er stattdessen fort: "Wir können diese Unterhaltung natürlich hier führen, wo in absehbarer Zeit ein besoffener, gewissermaßen transsexueller, latent mordlustiger Loa aus der Tür kommen wird, und uns bis dahin nass regnen lassen. Alternativ besprechen wir das Ganze auf dem Weg zu unserem nächsten Stop, werden dabei nicht nasser als nötig und bringen zudem noch ein Stück Weg zwischen Samedi und uns."

Finn überlegte kurz und setzte sich dann in Bewegung. "Und woher wissen Sie, wohin wir gehen müssen?"

"Ich habe gewissermaßen eine Einladung in dieser Zigarettenpackung gefunden." Als ob das die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, hielt Fiedler die etwas unsachgemäß geöffnete Schachtel Finn entgegen. "Ach ja - Sie rauchen doch, nicht wahr? Bitteschön - der Tod hat Sie ja schon kennengelernt."

Etwas verdattert nahm Finn die Zigaretten entgegen, während Fiedler fortfuhr: "Auch wenn Ghedes Auskunft eher wenig hilfreich war, gibt sie uns einen Anhaltspunkt, wo wir mit unserer Queste ansetzen können. Wir wissen jetzt grob, wo die Kirchner gerade ist - die Beschreibung klingt stark nach einer Zwischenwelt oder einem Limbo, wahrscheinlich nahe beim Ort des Orakels. Wenn wir sie wieder zurück holen wollen, bietet es sich an, diesen Ort aufzusuchen, um zumindest in räumlicher Nähe zu ihrer 'einsamen Seele' zu sein. Ungeschickt an der Sache ist, dass wir dazu leider diese Welt verlassen und in eine Anderwelt namens 'die Ödnis' übertreten müssen."

 Jetzt war es an Sina, die Augen zu verdrehen und zu seufzen: "Och nöö. Das wird anstrengend."

Editorial: Neuer Podcast am Horizont und Planänderungen

Die Reise gleicht einem Spiel; es ist immer Gewinn und Verlust dabei und meist von der unerwarteten Seite.

Nein, ich neige normalerweise nicht dazu, jeden Text mit Goethe-Zitaten zu beginnen, aber das obige passt gerade sehr gut auf die Situation bei Vox Solis:

Ein unerwarteter Gewinn: Märchenonkel Flo

Kurz vor Weihnachten meldete sich ein Freund aus fast schon vergessenen Zeiten bei mir, er habe über den Facebook-Stream meiner Frau von Vox Solis erfahren und in das erste Kapitel hineingeschnuppert. Was er da gelesen hatte (ich erinnere: Steinmeier, das Selbstmitleid und der Speicheltropfen) gefiel wohl, denn er fragte nach, ob es mir Recht wäre, wenn er aus der "Vox Solis Reloaded" Geschichte ein "Vox Solis Reloaded" Audiobuch machen würde.

Klar ist mir das recht - und einen Jahreswechsel, eine Testaufnahme und ein paar technische Details später bin ich zuversichtlich, dass das ein hübsches Projekt mit sehr hörenswertem Ergebnis werden wird. Willkommen an Bord, Märchenonkel Flo! 

Als Platform für die in Podcast-Form ausgegebenen Hörbuchkapitel stellt wahrscheinlich Stefan den bewährten Ploing-Feed zur Verfügung (und mischt auch sonst mit). Natürlich werde ich es auch hier posten, wenn es dann wirklich etwas "Vox Solis auf die Ohren" gibt.

Ein unerwarteter Verlust: Schreibzeit zwischen den Jahren

Das erste, was der Realität zum Opfer fällt ist immer die Planung. In diesem Fall hatte ich eigentlich vor, während des Familienurlaubes "zwischen den Jahren" ordentlich Vorsprung an Kapiteln zu schaffen, damit ich, wenn es dann ab Kapitel 11 zäher wird, noch eine Zeit lang den dreimal-wöchentlichen Veröffentlichungsplan schaffe. Doch dann kam alles anders.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, wie es passiert ist, aber nachdem ich noch die Haarbürste meiner Tochter, die Kuscheltiere meines Sohnes, das Babyfon und Schuhe für Katrin eingepackt habe, blieb die Tasche mit meinem kompletten Technikkram zuhause am Treppengeländer hängen. Keine Ladegeräte, keine Kopfhörer - und vor allem: kein heißgeliebtes Transformer-Tablet zum Vox Solis schreiben!

Als uns der Verlust auffiel, waren wir dann auch schon so weit von zuhause entfernt, dass umkehren nicht mehr in Frage kam. Damit wurde aus dem Schreiburlaub eine Schreibpause und nur mit Hängen und Würgen (und meinen einsatzbereiten Lektoren) kam Kapitel 9 "Querungen" rechtzeitig für den Dienstagstermin in die Pipeline.

Was bedeutet das nun für die Zukunft von Vox Solis? 

Ganz einfach. Wahrscheinlich werde ich nur noch bis Kapitel 11 die Veröffentlichungstermine am Di, Do und Sa halten können. Spätestens ab Kapitel 13 muss ich die Geschichte deutlich langsamer erzählen. Derzeit hoffe ich noch, mit einem bis zwei Abschnitten pro Woche weiterlaufen zu können (gut, wahrscheinlich eher einer), aber es kann dann auch sein, dass mal eine Woche lang der Blog kalt bleibt und die Fortsetzungsgeschichte pausiert. 

Ich hoffe, meine treuen Leser, Ihr bleibt trotzdem dabei und verfolgt die Geschichte weiter - ich verspreche auch zumindest den Versuch, die Zahl der Goethe-Zitate auf einem erträglichen Minimum zu halten.

Man liest sich.
Bernhard

8. Untertöne (5)


"So, Herr Fiedler, wenn wir sonst nichts mehr zu besprechen haben - die Schuld meiner Houngan bei Ihnen ist wohl mehr als beglichen." Sie/er stand in einer schlaksigen Bewegung auf - nicht ohne sich dabei das Glas vom Tisch zu schnappen. "Ich für meinen Teil sehe damit den geschäftlichen Teil des Abends als abgeschlossen und suche mir weniger ... anspruchsvolle Begleitung" und mit einem Seitenblick auf Sina "- insbesondere solche, deren Fleisch echt und nicht manifestiert ist - Sie verstehen?" Ein anzügliches Zwinkern unterstrich unnötigerweise den letzten Teil seiner/ihrer Worte.

Fiedler hatte sich reflexartig der Situation angepasst und lächelte höflich. "Nur zu, Baron, die Geschäfte mit Ihnen und den Ihren waren wieder einmal zu meiner vollsten Zufriedenheit und es liegt mir fern, Sie vom Nachtleben abzuhalten! Ach ja - und grüßen Sie Madame Lestrange von mir, wenn Sie sie verlassen!"

Mit einer grotesk förmlichen Geste verneigte sich der Körper der Frau, während ihre/seine Augen über den Rand der Sonnenbrille hinweg Sina und Fiedler nicht aus dem Blick ließen. Dann drehte sich der Baron ruckartig weg und hielt mit großen Schritten auf einen anderen Tisch im Halbdunkel zu.

"Das lief ja nochmal glatt." Fiedler zog skeptisch seine Augenbrauen hoch und sah der Silhouette des Barons hinterher. "Netter Trick, Steinmeier. Wirklich nett! Ich weiß zwar nicht genau wie, aber Sie haben sich offenbar gerade irgendwie aus der Wahrnehmung eines leicht angetrunkenen Voodoo-Gottes entfernt - der Sie gerade nach Strich und Faden in Einzelteile zerlegen wollte. Ihre Gabe?" Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. "Kein Wunder, dass Boris und seine Leute Sie so schnell aus den Augen verloren haben, als Sie die Schnauze voll hatten ..."

"Aber Sie ... also ... wieso geht er und Sie ... sehen mich noch?" Auf Finns Gesicht stand Verwirrung und noch etwas Schweiß.

Sofort wandelte sich der anerkennend verwunderte Ausdruck des Detektivs in ein hämisches Grinsen: "Ach wissen Sie, magische Tricks funktionieren nicht bei mir - und wenn ich bedenke, wie aufmerksam unsere schöne aber schweigsame Tischgesellin der Unterhaltung, geschweige denn den Ereignissen gefolgt ist, dürfte sie auch nicht von Ihren Fähigkeiten betroffen sein."

Die angesprochene Sina stellte erneut ihr feines, leicht arrogantes Raubtierlächeln zur Schau. "Nun ja, es mag für mich von Vorteil sein, nicht im sterblichen Fleisch eines willigen Anhängers gefangen zu sein - auch wenn er dadurch sicherlich viel mehr Vergnügen an seinem Cocktail haben kann ... Aber wenn ich schon dabei bin: Wenn ich aus meiner Erfahrung mit Ghede - oder Samedi oder was-auch-immer - sprechen darf, dann sollten wir jetzt gehen. Das Getränk, das er da hatte, stank erbärmlich nach billigem Rum und bevor er ihm der zu Kopfe steigt, möchte ich möglichst viel Abstand zwischen ihn und uns bringen."

Fiedlers Gesicht wurde sofort ernst. "Sie meinen, er könnte seine Professionalität vergessen und sich stattdessen an alte Geschichten erinnern?"

"So etwas in der Art. Allerdings ist er auch sonst unerträglich im betrunkenen Zustand."

"Dann gehen wir wohl - bezahlt habe ich schon." Behände erhob sich Fiedler aus seinem Stuhl und sein Blick forderte Steinmeier auf, das selbe zu tun. "Wollen Sie immer noch mitkommen, Herr Steinmeier? Nur weil Sie sich vor mir nicht verstecken können heißt das nicht, dass ich Sie zu etwas zwingen will. Es gibt vielleicht nicht viele Gesetze an der Grenze - aber Anstand hat auch hier seinen Platz."

Für einen Moment zögerte Finn, dann stand er etwas unbeholfen auf und griff nach seiner Jacke. "Nein. Ich komme mit Ihnen. Erstens möchte ich nicht in einem Raum mit diesem ... was haben Sie gesagt? ... diesem Voodoo-Gott sein - betrunken oder nicht - und zweitens haben Sie mir ein Geschäft vorgeschlagen und ich habe vor es anzunehmen."

Er hielt kurz inne, kräuselte nachdenklich die Stirn und fragte mit Zweifel in der Stimme: "Voodoo-Gott?"

Fiedler nickte. "Ein Loa. So eine Art makabere Verkörperung des Sterbens. Der personifizierte schwarze Humor. Ich weiß, das Ganze gehört in einen Südsee-Karibik-Piratenfilm oder zumindest in sowas wie James Bond - aber Madame Lestrange ist eine ziemlich gute Houngan, eine Voodoo-Priesterin, die sich von ihren Göttern in Besitz nehmen lassen kann ... und typischerweise ist am Freitagabend ein guter Zeitpunkt für den Baron."

"Voodoo so mit Wachspuppen, Untoten und so?" Ungläubig schüttelte Finn den Kopf.

"Genau so."

"Aber der Cocktail, den er getrunken hat..."

Fiedler grinste. "Ja, genau. Ein Zombie. Samedi mag Details ..."

8. Untertöne (4)


Finn öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und schluckte fast schmerzhaft. Bevor er sich aber zu einer Antwort durchringen konnte, ergriff Fiedler souverän das Wort. "Mein lieber Baron, ich möchte ja nicht unhöflich erscheinen, doch das Geschäft läuft zwischen Ihnen und mir - oder besser zwischen Madame Lestrange und mir. Wenn Sie im Anschluss gerne Herrn Steinmeier in den Tod, Ruin oder Ähnliches treiben möchten, steht Ihnen das natürlich frei - allerdings ist mir die Angelegenheit um Frau Kirchner viel zu wichtig, als dass ich sie mit den Fehlern eines Neulings im Grenzland zunichte machen möchte."

Für einen Augenblick herrschte Stille am Tisch (durchtränkt von den diffusen Reggearhythmen im Hintergrund), bis sich Samedi ruckartig und widerwillig von seinem 'Opfer' ab- und Fiedler zuwandte. Seine/ihre Stimme hatte viel von ihrem jovialen Humor verloren und klang nach kaltem Rauch, Grab und Galgen. "Nun, wie sagt ihr so schön? Ein Geschäft ist ein Geschäft ist ein Geschäft ist ein Geschäft - und ich werde bestimmen, wie tief der Einblick ist, den ich Ihnen gewähre. Was wollen Sie also wissen?"

"Was ist mit Astrid Kirchner passiert, als sie offensichtlich starb - und wo und in welchem Zustand ist sie jetzt?"

Samedi riss die Augen der Frau weit auf, so dass ihr leuchtendes Weiß im bunten Halbdunkel der Jungle Lounge gespenstisch aufleuchtete und mit einem Mal war auch wieder das breite irrsinnig wirkende Grinsen auf ihrem/seinem Gesicht: "Die Antworten sollen Sie haben, Herr Fiedler, sehen Sie zu, dass Sie sie nicht ins Verderben führen!

Astrid Kirchner musste sterben, weil ihr Geist einem alten versteinerten Gott zu nahe gekommen war, der ihr kleines erbärmliches Leben zerquetschte wie eine lästige Schmeißfliege! Einfach so." Er/sie machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge und schloss die Hand zur Faust, als würde er den Saft aus einer Zitrone drücken - ohne allerdings das beängstigend begeisterte Lachen aus dem Gesicht zu verlieren.

"Nicht genug damit, wollte diese halbzerfallene und vergessene Götterleiche auch noch ihre Seele verschlingen und an sich reißen - aber das konnte er nicht. Die Kirchner war zu stark und zu gerissen, zu oft schon im Totenreich gewesen und von dort zurückgekehrt und sie entwand sich seinem Griff. Doch sie war den Weg bereits zu weit gegangen. Ihr Körper war tot, sie hatte die Kreuzung passiert und es gab kein Zurück - also musste sie bleiben wo sie war: eine einsame Seele im Nichts umherirrend, dem Wahn und dem Verlöschen preisgegeben."

Samedi nahm einen weiteren großen Schluck seines/ihres rötlich braunen Cocktails und leckte sich überbetont genussvoll die Lippen. Dann lehnte sie/er sich zurück und fixierte Fiedler mit amüsiert abfälligem Blick. "War es das, was Sie wissen wollten, Herr Fiedler? - Ich hoffe es, denn mehr werden Sie nicht erfahren!" Erneut brach ein Lachen aus seiner/ihrer Kehle hervor, diesmal lauter und unbeherrschter als zuletzt, nur um wieder abrupt zu enden, als sich das groteske Grinsen mit weit aufgerissenen Augen zu Steinmeier wandte. "Und nun zu uns, Finn Steinmeier! Was bietest du mir, wenn ich deine kleine Freundin wieder zurückkommen lasse? Deine Seele kann ich nicht haben und will ich auch nicht - dein Körper ... spricht mich nicht an und deine Dienste ... na, was kannst du bieten?" Um die weit auseinandergezogenen Mundwinkel der Dunkelhäutigen spielte ein bösartiger Ausdruck, als sie/er sich an Finns kreidebleichem Gesicht weidete, auf dessen Stirn sich Schweißperlen bildeten.

Dann geschah etwas Seltsames: Samedi blinzelte einmal, zweimal - dann sah er/sie sich mit einem leichten Anflug von Verwirrung um, als habe er etwas Wichtiges vergessen oder übersehen und griff schließlich mit einer Geste, die fast schon aus Verlegenheit geboren schien, zu seinem Cocktailglas und ihr/sein joviales Gehabe kehrte zurück. Ohne Steinmeier eines einzigen weiteren Blickes zu würdigen, konzentrierte er/sie sich wieder auf den gegenübersitzenden leicht überraschten Fiedler.

8. Untertöne (3)


Für einen Augenblick schien es, als würde die Luft zwischen den beiden Frauen spannungsgeladen flirren und knistern, dann war es Fiedler, der sich räusperte: "Ahem ... Ich gehe doch davon aus, dass alle der Anwesenden professionell genug sind, um alte Fehden liegen zu lassen - die Sache scheint ja schon eine ganze Weile her zu sein, wenn ich Ihre Andeutungen richtig interpretiere?"

Sina schürzte die Lippen. "Da mögen Sie recht haben. Schließlich ist Samedi offensichtlich Ihr Kontakt und meine Angelegenheit mit ihm ist ... eher persönlicher Natur. Von meiner Seite her räume ich dem Geschäft den Vorrang ein - wie sieht's mit dir aus, Baron?"

Anstelle einer Antwort erschallte trockenes, herzhaftes aber irgendwie groteskes Gelächter aus dem weit geöffneten Mund der als 'Baron Samedi' adressierten Frau - das aber auch abrupt wieder verklang. "Gut. Ich bin schließlich dafür bekannt, Dinge zu beenden - wenn ich sie nicht wieder aufstehen lassen will." Irgendetwas in seiner/ihrer Stimme sagte aus, dass der letzte Halbsatz mehr Bedeutung in sich trug, als es offensichtlich war und Sina verzog angewidert das Gesicht.

"Dann zum Geschäft! Sie wären nicht hier, … Fiedler, wenn Sie nicht die Schuld einlösen wollten, die meine liebe Madame Lestrange bei Ihnen hat! Was wollen Sie von einem armen alten Loa wie mir an einem noch viel zu jungen Abend?" Während dieser Worte produzierte er/sie aus einer Falte ihres/seines Gewandes eine schmale, aggressiv wirkende schwarze Sonnenbrille, die er/sie sich mit einer behänden Bewegung aufsetzte. Dann lehnte sie/er sich auffordernd nach vorne, stützte seinen/ihren linken Ellbogen auf den Tisch auf, legte das vorgereckte Kinn auf die ausgestreckte Handfläche ab und sah Fiedler mit zusammengekniffenen Augen herausfordernd an.

Völlig ungerührt von dem Gehabe seines Gegenübers griff Fiedler in die Tasche und zog ein etwas mitgenommenes Photo einer blonden jungen Frau heraus, das er dem 'Baron' vor die Augen hielt. "Um es geradeheraus zu sagen: Ich bin auf der Suche nach dieser Person. Sie heißt Astrid Kirchner und ist vor ein paar Monaten mehr oder weniger verstorben. Offenbar ist niemand in der Lage, Verbindung mit ihrem Geist aufzunehmen und deswegen wende ich mich an Sie, Baron Samedi, und bitte hiermit um Einblick in etwas, das zu Ihrem Herrschaftsgebiet gehört. Betrachten Sie das als angemessenen Handel?"

Für einen Moment entspannte sich der fratzenhaft grinsende Mund des Barons, um einen weiteren Schluck aus dem Cocktailglas zu nehmen - ohne den Kopf dabei von der stützenden Hand zu heben - dann legte sich die immer noch schweißnasse Stirn der dunkelhäutigen Frau in Falten, als sie/er die Augenbrauen abwägend hochzog. "Einblick! Einblick ist wie ein Weib nur anstarren aber nicht anfassen zu dürfen!" Ein unverhohlen zweideutiger Blick traf die vollkommen ungerührte Sina. "Gibt es nichts Interessanteres, was ich für Sie tun kann, Fiedler? Ewige Verdammnis vielleicht - oder Wiederkehr?"

Finn, der das ganze Gespräch mit wachsendem Unglauben verfolgt hatte, konnte nicht mehr an sich halten: "Wiederkehr? Was soll das heißen?"

Samedi neigte seinen/ihren Kopf zur Seite und kniff verschwörerisch ein Auge zu. "Nach was klingt es denn? Ein Tipp. Derzeit ist sie tot - so ziemlich."

"Und Sie können sie wieder lebendig machen? Einfach so?"

Jetzt schaltete sich Sina mit eindringlicher Stimme in das Gespräch ein: "Lassen Sie Fiedler die Verhandlungen führen, Herr Steinmeier ... niemand tut hier etwas einfach so."

"Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Astrid wieder ins Leben zurück holen wollen!" In Finns Stimme lag eine Mischung aus Unverständnis, Aufbegehren und Verzweiflung, während Samedis Grinsen immer breiter wurde: "So so, wollen Sie das? Nun, Herr Steinmeier?" Sie/er machte eine kurze Pause, um das Glas zum Mund zu führen, und blickte dann Finn plötzlich tief in die Augen. "Wollen Sie das vielleicht auch? Was wäre es Ihnen denn ... wert?"

8. Untertöne (2)


Als er etwa zehn Minuten später wieder mit höchst zufriedenem Gesichtsausdruck an den Tisch zurückkehrte, hatten Sina und Finn noch kein Wort miteinander gewechselt. Statt dessen schienen beide völlig in die wirbelnden Klangmuster der auf der Bühne tobenden Schlagzeugerin vertieft zu sein - Steinmeier starrte mit leicht glasigen Augen zur Quelle der Trommelquelle, während Sina vergnügt lächelnd sich in ihrem Sitz mit den Rhythmen mitwippte.

"Na, Herr Fiedler, hat der Automat Ihnen jetzt gegeben, was sie wollten?"

Fiedler grinste, zog eine Zigarettenpackung aus seiner Tasche und sah sie fast schon triumphierend an.

 "Sieht so aus!"

Mit einem flugs aus der Tasche gezogenen kleinen Klappmesser entfernte er die Plastikverpackung und machte sich daran die Steuerbanderole von der Papphülle zu pulen. Einen Moment lang sah ihm Sina zu, dann begann sie mit einem kurzen Seitenblick auf den immer noch apathisch wirkenden Finn: "Nachdem wir beide gerade ja unter uns zu sein scheinen - was genau haben Sie mit Steinmeier vor? Er soll als Ankerpunkt für eine Verknüpfung dienen, so viel ist mir klar. Warum schleppen Sie ihn aber hier her und lassen ihn von der Magie dieser Trommlerin in Trance versetzen? Waren Sie sein selbstmitleidiges Geschwätz leid? Wie ist der Plan?" und mit einem ironischen Unterton fügte sie hinzu: "Wissen Sie, ich wäre durchaus dazu bereit, Sie bei Ihrem Vorhaben zu unterstützen..."

Ohne von seiner Messerarbeit aufzusehen, zog Fiedler eine Grimasse. "Ja, Ihre Weisheit ist unbestreitbar. Steinmeier ist gerade vollkommen weggetreten - wie übrigens jeder ungeschützte Grenzgänger hier drin - und er soll uns später als Ankerpunkt dienen. Allerdings fürchte ich, dass wir ihn mitnehmen müssen, damit wir dem 'Faden' zwischen ihm und Frau Kirchner entsprechend folgen können. Es wäre also ganz gut, wenn er in einem Stück verbleiben würde. Die Sache mit der Trance tut aber eigentlich nichts zur Sache.  Wenn ich den Berichten von ein paar Freunden trauen kann, die die Show ebenfalls ohne Schutz miterlebt haben, ist das Erlebnis definitiv nicht unangenehm - und Sie haben Recht: Jammern kann er dabei auch nicht. Derzeit warte ich darauf, dass Madame mit dem Trommeln aufhört und an ihren Tisch zurückkehrt. Ich würde Sie dann bitten, Steinmeier noch einen Moment bei der Stange zu halten, während ich hinübergehe und mir die unwichtige Information einhole, wo denn die Kirchner eigentlich abgeblieben ist."

"Sagten Sie nicht bereits selbst, Meister Unbehaun hätte sicherlich schon alle Medien und 'andere Leichenschänder' befragt? Wieso meinen Sie, diese 'Madame' könnte das besser?"

"Nun wissen Sie, Madame Lestrange weiß vieles - aber ich stimme Ihnen zu, dass sie wahrscheinlich von Astrid Kirchners Tod und Aufenhalt keine Ahnung hat, aber ... nun ja ... wie will ich das erklären ..."

Genauso jäh, wie es begonnen hatte, erstarb das Dröhnen der Trommeln auf der Bühne, wo die Künstlerin nun schnell atmend und schweißgebadet doch reglos hinter ihren Schlaginstrumenten verharrte, die Hände zur Decke gereckt. Unwillkührlich sah Sina hinüber - und ungläubiges Erstaunen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, während ein fremdartig und stark nach leisem Fluchen klingendes Wort ihren Lippen entfuhr.

Fiedler wirkte ebenfalls sichtlich überrascht. "Oh, Sie kennen sich?"

Als Sina keine Anstalten machte zu antworten, wanderte Fiedlers Blick wieder zurück zur Bühne. Über den gereckten Körper der Trommlerin, deren Haut dort wo er nicht in bunte etwas jenseits der aktuellen Mode angesiedelte Kleidungsstücke gehüllt war, vor Schweiß wie nasses Ebenholz glänzte lief ein Schauer. Beginnend auf der Höhe ihrer Brust setzte sich ein seltsam kontrolliert wirkendes Zucken fort - auf der einen Seite in Richtung von Bauch und Beinen und nach oben hin durch eine grotesk elegante Wellen- und Drehbewegung ihres Halses, weiter betont durch das Hin- und Herpeitschen ihrer langen schwarzen von dünnen geflochtenen Zöpfen durchzogenen Haarpracht.

Als ihr Leib wieder zur Ruhe gekommen war, hatte sich ihr gesamter Ausdruck verändert: An die Stelle der grazil eleganten Körpersprache war nun eine zwar fließende, aber seltsam übertriebene Gestik getreteten, die einem Straßenpantomimen zur Ehre gereicht hätte. Auch ihre Haltung war - wenngleich immer noch aufrecht - anders, stolzer und aggressiver geworden. Ein grimassenhaftes Grinsen zog sich über ihr Gesicht, sie ließ ihre Hände sinken, wandte den Blick nach unten und schien für einen Moment ihren Körper zu betrachten, bevor sie völlig unvermittelt mit einer schlacksigen und doch gelenken Bewegung von der Bühne sprang.

 Gerade als Fiedler aufstehen und ihr entgegengehen wollte, wandte sich die Gestalt vor der Bühne ihm zu, legte den Kopf schief und deutete eine Verbeugung an - nur um dann mit selbstsicheren breiten Schritten schnurstracks auf den Tisch zuzukommen, an dem er mit Sina und Finn saß. Langsam und irgendwie gequält blechern sickerte wieder der Klang der Reggearhythmen aus den Lautsprechern und auch Steinmeier schüttelte verwirrt und träge den Kopf, als wolle er einen Anflug von Müdigkeit vertreiben.

Kurz bevor die Gestalt der dunkelhäutigen Frau bei drei angekommen war, griff sie sich mit einer beiläufigen Geste einen noch unberührten Cocktail von einem der Tische, schnippte mit den Fingern die Dekoration (Schirmchen und Ananasscheibe) auf den Boden und nahm ohne innezuhalten einen kräftigen Zug aus dem Glas. Mit offensichtlichem Missfallen kniff Fiedler die Augen zusammen:

"Das ist nicht gut! Wir sollten die Sache erledigen, bevor er zu viel getrunken hat!"

 "Er?" Völlig perplex starrte Steinmeier ihn an, doch da war die Frau auch schon bei ihnen angekommen und nahm mit einer weitschweifenden Bewegung breitbeinig am Tisch Platz. Noch vor irgendjemand etwas sagen konnte, funkelte Sina ihr neues Gegenüber an und ihre Stimme vibrierte vor Anspannung und Intensität. "Ghede! Baron Samedi! Wie nett! Ich sehe, der Tod kommt auch in diesem Jahrhundert auf dem Rücken seiner Jünger!"

Das fratzenhafte Grinsen der dunkelhäutigen Frau wich einem betont bis übertrieben jovialen Gesichtsausdruck, dann antwortete sie mit überraschend männlich wirkender Stimme: "Wie reizend! Die Freude ist ganz meinerseits, Shi'anha! Wie läuft denn das Geschäft als böser Geist? Haben sich deine Ziegenhirten immer noch nicht ausrotten lassen?"

8. Untertöne (1)


Trommelschläge füllten unvermittelt den Raum. Wie das erste verhaltene Donnergrollen eines Hitzegewitters rollte eine Welle pochender Tonsalven durch die Jungle Lounge und schwemmte mit ihrer anschwellenden Präsenz die abrupt verklingende Reggea Hintergrundmusik hinweg. Überrascht fuhr Finn Steinmeier herum, während sich weder Sina und Fiedler die Blöße gaben, eine Miene zu verziehen. Die Quelle der pulsierenden Rhythmen war schnell ausgemacht: Eben die Frau, die sich zuvor im Schatten des Ecktisches aufgehalten hatte, stand nun auf der Bühne, umgeben von einer Reihe von Schlaginstrumenten unterschiedlicher Form, Größe und Machart und bearbeitete diese mit ihren bloßen Händen. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, die Pupillen geweitet und ihr ganzer Körper bebte die durch ihre Hände geformten Rhythmen mit, vor und nach.

"Wow!" Finn sah zu seinen beiden Tischnachbarn und stutzte. "Ok. Lassen Sie mich raten - Sie kennen das alles schon, haben darauf gewartet und sind eigentlich gelangweilt?" Er gab sich nicht einmal Mühe, Frustration und Ironie zu verbergen.

"Na ja, " vergeblich versuchte Fiedler etwas beschwichtigend zu wirken, "das kann ich so nicht sagen, Herr Steinmeier. Natürlich ging ich davon aus, dass die Dame dort" - er gestikulierte in Richtung der Trommlerin - "heute wie jede Woche die Bühne an sich reißt, bevor später die eigentliche Live-Musik anfängt. Schließlich bin ich hier, um mich mit ... ahm ... wie drücke ich's am besten aus? ... um mich mit den beiden zu treffen. Allerdings muss ich zugeben, dass mich die Auftritte von Madame jedes Mal auf's Neue beeindrucken. Unglaublich, was sie da hineinlegt..."

Wie auf ein Stichwort beschleunigte sich der Puls der Trommelklänge und ein neues Muster fügte sich in die bestehenden Rhythmen ein, dann noch eines und noch eines. Schweigend sahen die drei Grenzgänger zu, wie sich Schweißperlen auf der Stirn der dunkelhäutigen Trommlerin bildeten.

"Sie kennen die Dame also, Herr Fiedler?" Sina wirkte skeptisch interesssiert. "Darf ich erfahren, was sie darstellt? Eine Informantin? Eine weitere für den Auftrag wichtige Person? Ihre ursprüngliche Abendgestaltung, der Sie absagen wollen? In letzterem Fall müsste ich Ihnen einen ziemlich guten Geschmack bescheinigen..." Ein freches Funkeln blitzte in ihren Augen.

"Zerbrechen Sie sich doch einfach ein bisschen den Kopf über meine Vorlieben und den Satz: Die Dame ist eine wertvolle Quelle von Informationen, über die sie nicht verfügt. - Vielleicht ein bisschen wie Frau Kirchner." Fiedler stand auf und zurrte sich seine Lederjacke zurecht. "So. Ich gehe jetzt Zigaretten holen."

Finn stutzte. "Äh ... aber .. rauchen Sie?"

"Nein."

Grinsend und gelassen stapfte Fiedler davon ins bunte Zwielicht des Lokals.

7. Fragestunde (4)


Genau so hat sich die Sache dann aber auch angelassen: Astrid fragte uns nach Erinnerungen, die wir an Frau Schierlo hatten und jeder von uns ließ irgendeine rührselige Geschichte vom Stapel. Manchmal hatte ich zwar das Gefühl, als würden irgendwelche wispernden Stimmen oder hallenden Geräusche durch den Raum klingen, aber das hatte ich sofort wieder verdrängt. Zur Hölle, sogar da hat dieser Drecks-Schleier noch jede Warnung einfach ausgeblendet!

Dann wurde die Sache plötzlich zu einem total schizophrenen Horrortrip: Astrid sank tot in sich zusammen und blutete da auf ihrem Stuhl - aber gleichzeitig weigerte sich alles in mir, diesen Anblick als real zu erkennen. Damit nicht genug überkam mich das Gefühl, als wäre ich gerade kurz eingenickt gewesen - und obwohl mir die Szene unmittelbar und brutal vor Augen stand, konnte ich sie weder wahrnehmen, noch mich an sie erinnern."

Finns Stimme war nicht laut, aber emotionsgeladen bis zum Überschlagen. "Ich konnte mich nicht einmal mehr an Astrid erinnern! Obwohl sie tot neben mir auf ihrem Stuhl hing! Das ist doch wie im krassesten Wahnsinn!

Statt dessen reimte sich mein dämliches Normalogehirn die verlogene Geschichte zusammen, dass man gerade einfach gemütlich zusammengesessen und über alte Zeiten geratscht hätte. Der Schleier lässt eben keinen Platz für sterbende Menschen. Sogar zwei meiner Freunde am Tisch hatte ich verdrängt - sie waren bei der Aktion wohl zur Grenze gerutscht. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Zwei Leute, die ich Jahrzehnte lang gekannt habe - einfach von einem Moment auf den anderen vergessen und gestrichen. Und Astrid. Tot. Tot und vergessen. Begraben im Grenzland, zugedeckt vom Schleier." Für einen Moment hing Finn mit einem Echo von Entsetzen und Schmerz in den Augen seinen Gedanken nach.

"Ich verstehe Ihre Betroffenheit, Herr Steinmeier." Fiedler notierte, dass in Sinas Stimme diesmal echtes Mitgefühl mitzuschwingen schien, dann überwog jedoch ein Unterton der Neugier. "Trotz aller Erläuterungen sind bislang aber zwei doch ziemlich wichtige Fragen offen geblieben - zusätzlich zu einer nicht unbedingt ganz so wichtigen.

Erstens: Warum ist Frau Kirchner denn überhaupt gestorben - ich weiß, Geborene tun das gelegentlich, aber erfahrungsgemäß haben sie immer einen Grund dafür. Zweitens: Was ist mit dem Ding in den Karten? Sie haben doch sicherlich eine Lösung für das Problem gefunden, Herr Fiedler, sonst hätten Sie nicht so weitschweifend von der Sache erzählt. Und drittens: Wenn Sie sich darüber beklagen, dass der Schleier Ihnen die erste Erfahrung mit dem Sterben an der Grenze geraubt hat - bei welcher Gelegenheit sind Sie denn dann eigentlich ins Grenzland gekommen, Herr Steinmeier?" Mit fragender Miene lehnte sie sich zurück und ignorierte Finns entrüstete Blicke.

Beflissen eilte sich Fiedler zu antworten - auch um den gerade mit sich ringenden Finn Steinmeier etwas Zeit zu geben. "Nun, meine Dame, so einfach sind die Antworten nicht zu trennen. Ich will mal einen ganzheitlichen Ansatz versuchen - auch wenn dabei das ein oder andere Detail unter den Tisch fällt.

Bei dem 'Ding in den Karten', wie Sie es so schön formuliert haben, handelte es sich um eine ziemlich mächtige Wesenheit, die an einen bestimmten Ort hauste - ein recht malerisches Hünengrab übrigens. Wie so viele kultisch/magische Orte muss das Grab wohl im Laufe der Zeit vergessen und aus dieser Welt über die Grenze hinaus in die Ödnis gerutscht sein, wodurch das Wesen zu einem Anderweltler wurde. Wenn ich mich recht erinnere, teilt es dieses Schicksal mit ziemlich vielen verblassten Götzen und Göttern ...

Jedenfalls schien das Wesen, das sich selbst übrigens als 'das Orakel' bezeichnete, offenbar  über ziemlich beachtliche seherische Fähigkeiten zu verfügen. Alternativ konnte es die Realität so verbiegen, dass seine Vorhersagen auch zutrafen, so genau kann man das ja nie sagen. Irgendwann muss es wohl einem nicht näher benannten Grenzgänger gelungen sein, das Orakel an ein Tarot-Deck zu binden, sodass dessen Fähigkeiten mit den Karten verknüpft waren. Natürlich war die betreffende Ex-Gottheit nicht besonders glücklich über dieses Arrangement und versuchte ihrerseits aus dem Deal auszusteigen.

Im Prinzip passte mir dieses Vorhaben ja ganz gut in den Kram, denn ich sollte ja auch tunlichst dafür sorgen, dass das 'Ding in den Karten' aus unserer Welt verschwindet. Kurz gefasst: Irgendwann hatten wir die Leute auf dem unseligen Theatergruppentreffen soweit, dass alle ihre Karten auf den Tisch gelegt hatten" - Fiedler grinste fröhlich ob des Kalauers - " und der einzige Weg sie endgültig loszuwerden war, die Karten dem Orakel zurückzugeben und zu vernichten. Zufälligerweise ... nun, so viel Zufall es eben geben kann, wenn man mit schicksalskräftigen Wesen spielt ... zufälligerweise hatten wir sogar die Möglichkeit, durch ein Tor in der Nähe in die Ödnis und sogar in die Nähe des Orakels zu gelangen.

Soweit war der Plan ganz gut. Womit wir aber nicht gerechnet hatten war, dass sich uns plötzlich ein Großteil der Normalos auf dem Treffen anschloss, um mitzukommen - in die Ödnis. Im Prinzip nicht mein Problem - vom Paradox mal abgesehen - aber den wenigsten war es klar, dass sie mit der Aktion auch nach ihrer Rückkehr in diese Welt kein vollwertiger Teil der Normalität mehr sein würden. Ein Schritt in eine Anderwelt wie die Ödnis ist ein endgültiger Schritt durch den Schleier." Mit Blick auf den ihn grimmig anstarrenden Finn setzte er hinzu: "Nein, Herr Steinmeier, Sie können mir nicht vorwerfen, dass ich Sie nicht mehrfach gewarnt hätte.

Das Orakel zeigte sich allerdings zu einem Handel bereit: Jeder, der ihm eine Karte zurückgab, konnte auf eigenen Wunsch nicht nur in die Realität zurückkehren, sondern verlor darüber hinaus all sein Paradox und seine Erinnerung an Grenzdinge. ... Ja, meine Werteste, die Macht hinter dieser Fähigkeit hat auch mich überrascht. Auf alle Fälle gingen die meisten der 'Mitgekommenen' auf diesen Vorschlag ein - wobei Herr Steinmeier hier eine der Ausnahmen war.

So. Nun will ich Ihnen aber auch noch ihre Kernfrage beantworten - oder vielmehr nicht beantworten: Warum Frau Kirchner starb wissen wir nicht genau. Was wir wissen ist, dass die Lehrerin damals bei dem Bunkerunglück nicht starb, sondern stattdessen irgendwie mit dem Orakel ins Geschäft kam. Demnach gehen wir davon aus, dass als Astrid Kirchner ihre medialen Fühler nach ihr ausstreckte, sie auf irgendeine Art und Weise das Orakel selbst berührte - das dann einfach kurzen Prozess mit ihr machte." Zufrieden mit seinen Ausführungen schnappte sich seinen Drink, fläzte sich entspannt in seinen Sessel und ließ seinen Blick zwischen Sina, Steinmeier und der Bühne hin und her wandern.

Sina zog die linke Augenbraue hoch und zeigte Fiedler ein feines Raubtierlächeln. "Nun ... da gilt es offenbar noch eine Menge Informationen einzuholen. Ein Punkt interessiert mich aber doch gleich noch: Ist es zu gewagt zu fragen, warum Sie an der Grenze bleiben wollten, Herr Steinmeier?"

Finn sah sie aus tiefen düsteren Augen an und schwieg eine dramatische Pause lang. "Nie wieder vergessen!"