14. Umgekehrt (4)


Der harte Klang von schweren Stiefeln auf Stein unterbrach die drückenden Gedanken und hob seine Laune. Scheinbar waren ihre Verfolger pünktlich auf der Party angekommen. Nun wurde das Spiel spannend. Eine angestrengte Männerstimme war zu hören. "Ich bin drin, Chef, hier ist ..." Der Sprecher stockte kurz. "Kontakt! Mehrere Biester! Brauche Unterstützung! Sonst niemand zu sehen." Ein paar hastige Schritte und leises Klirren von Metall ließen ahnen, dass sich jemand kampfbereit machte. Daneben war nun tatsächlich das Scharren und Kratzen von vielen Beinen zu vernehmen. Die Einsiedler rückten an.

"Bleib an der Tür!" Eine zweite Männerstimme, tiefer, rauer aber auch atemloser und irgendwie weiter entfernt klingend als die erste, war zu hören. Entweder war die Aufforderung zu spät gekommen oder ungehört geblieben, denn unmittelbar darauf stürmten schwere Schritte an Fiedlers und Sinas Versteck vorbei. Sekundenbruchteile später klang ein kurzer Kampfschrei, dann der Aufprall von Metall auf harter splitternder Kunststoffschale.

Angespannt lauschend folgte Fiedler den Geschehnissen. Einer der Verfolger war an ihnen vorbei, wenn auch nicht weit. Hoffentlich war der zweite Mann im Lift nicht so vorsichtig, wie er sich anhörte - wobei ihm die Stimme entfernt bekannt vorgekommen war...

Draußen vor dem Lift waren deutliche aber etwas ungewöhnliche Kampfgeräusche zu hören. Immer wieder krachte Metall auf Plastik oder scharrte darüber. Dazwischen war das Keuchen und unterdrückte Anstrengungsgeräusche des menschlichen Kämpfers zu hören. Im Gegensatz dazu bestand der Beitrag der Einsiedler zur Geräuschkulisse des Kampfes fast nur aus Kratz-, Scharr- oder Knarzlauten, gelegentlich unterbrochen von feuchtem Schmatzen, dessen exakte Ursache sich Fiedler lieber nicht genauer ausmalen wollte.

"Chef, es wird eng! Ich brauch Rückendeckung!" Offenbar geriet der erste Verfolger in Bedrängnis - und seine Stimme tönte von irgendwo in der Halle, weit entfernt vom Aufzug.

An Stelle einer Antwort erklang aus Richtung der Aufzugstüre das charakteristische Klappern von Rüstung auf Stein, knapp gefolgt von Schnappen und Zischen, sowie dem Einschlag eines Armbrustbolzens. "Schon unterwegs, Mohrek. Ziehen Sie sich verdammt nochmal zurück! Die schneiden Ihnen den Weg ab!" Der zweite Verfolger keuchte heftig - eigentlich kein Wunder, wenn man davon ausging, dass er in Rüstung den Aufzugsschacht hinauf geklettert sein musste. Immer sicherer reifte in Fiedler die Erkenntnis, dass er die Stimme kannte, die in kurzen atemlosen Sätzen fortfuhr, während ihr Besitzer den Geräuschen nach vollständig aus dem Aufzug kletterte. "Wir zwei sind allein. Beil kommt nicht. Die Hasmann ist raus. Er bringt sie zurück zum Hauptquartier. Überhebliches Hexenpack!"



Fiedler riss die Augen weit auf, als ihm schlagartig klar wurde, wem die Stimme gehörte. Überrascht und verwirrt starrte er Sina an, riss sich dann aber zusammen und schwieg. Das war Lukas Brack - und Lukas Brack kannte er als die rechte Hand von Ebenezer Unbehaun. Wieso verfolgte Brack eine von Unbehaun legitimierte Beschworene und Gesandte? Hatte er die Seite gewechselt? Nein, nicht der Brack, den er kannte. Was war da faul?

Laut gellte ein Schmerzensschrei durch den Raum. "Teufel! Mein Bein!" Es klang, als wäre Mohrek, wie Brack gerade den anderen gerufen hatte, verletzt worden. "Durchhalten! Ich bin fast da!" Scheppernd und klappernd preschte ein Gerüsteter an der Fotokabine vorbei.

14. Umgekehrt (3)


Keine zwei Schritte vor Fiedler krachte mit Wucht ein kubikmetergroßes Objekt auf die schummrig beleuchteten beigen Kunststeinplatten des Bodens und zerbarst in einem auseinanderstiebenden Regen von Schleimtropfen und Plastiksplittern. Wie eine schleimige Ohrfeige traf ein faustgroßer Gallertbrocken Fiedlers Gesicht und zerklatschte zu einer zähklebrigen Schmierspur, durchzogen von gummiartigen Klümpchen. Reflexartig schloss er die Augen und jenseits aller antrainierten Härte wallte Ekel in ihm hoch. Mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, unterdrückte er den aufsteigenden Würgreiz und zwang sich, mit dem Ärmel seiner Lederjacke einen Teil des Schleims von Mund, Augen und Wangen zu wischen. Jemand musste hinsehen! Notfalls eben kein Sterblicher!

"Pfah ... Sina, halten Sie die Plastikviecher im Auge! Nicht wegschauen - einfach starren!" Angewidert spuckte er etwas seifig süßlich bis bitter schmeckenden Speichel aus und versuchte noch einmal, seine Augen frei zu kriegen. "Fehlen welche?"

Es vergingen ein paar Sekunden bis zur Antwort. "Nur eines. Was sind das für Viecher? Die machen zwar 'ne Menge Dreck aber irgendwie auch Spaß!" Sina klang amüsiert verwundert und vorsichtig, aber durchaus optimistisch. "Wieso sollen die gefährlicher sein als die Hexe aus dem Aufzug?"

Fiedler rang sich durch, die Augen wieder zu öffnen und orientierte sich neu. Keine zwei Schritte trennten ihn vom vorhangverdeckten Eingang der Fotobude, an dem mittlerweile auch Sina stand, die mit skeptischem Blick aber ohne Zwinkern die regungslose kleine Armee der knallbunten plastikhäutigen Reittiermonster anstarrte. Rasch überbrückte er die Distanz, schob misstrauisch die schwere Kunstfasergardine zur Seite und musterte kritisch das Innere der Kabine: Leer bis auf einen Metallschemel, etwas dreckig und zumindest auf den ersten Blick harmlos. Zufrieden grunzend duckte er sich hinein, bevor er auf Sinas Frage einging.

"Das sind Einsiedler. Die Viecher nisten sich in irgendwelchen Dingen ein, wachsen darin fest und können ihre bewohnte Schale bewegen und benutzen. Mit so einem Außenskelett entwickelt ein Einsiedler ziemliche Kräfte - vor allem wenn es sich um relativ große Exemplare handelt, wie diese hier. Interessant für Sie als Beschworene könnte sein, dass die Viecher Psychotrophen sind. Das heißt, sie fressen Gefühle als Vorspeise, freuen sich aber auch über eine Seele oder einen Menschengeist als Hauptgang. Zählt das noch als lustig und ungefährlich?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. "Jetzt kommen Sie schon rein, die Zeit wird knapp!"



Sinas Ton und Miene waren deutlich ernster, als sie zielstrebig ohne sich von den Reittieren wegzudrehen den Rückzug in Richtung Fiedler antrat. "Zugegeben, das macht die Tierchen wirklich unsympathisch. Verraten Sie mir noch, wieso sich solche Ekelpakete in diesen hässlichen Spielzeugen eingenistet haben? ... Und was die Sache mit dem Anstarren soll?"

"Nun ja, das ist doch eigentlich naheliegend, zumindest wenn man in den letzten vierzig Jahren schon mal in einem Einkaufszentrum oder einem Vergnügungspark war. Diese Plastikviecher sind von den Kindern heiß geliebt, aber die Eltern wollen nicht bezahlen oder nur für eine Fahrt oder haben es eilig oder so. Jedenfalls gibt es eigentlich immer irgendwie Geschrei, Wut und Tränen - und die Einsiedler mästen sich an den Gefühlen. Wenn sich Normalos in der Nähe aufhalten, sind Einsiedler eigentlich träge und harmlos und halten still. Damit kommen wir auch zu ihrer Starr-Schwäche: Vielleicht versuchen die Viecher ihr Paradox niedrig zu halten, vielleicht gibt es einen tieferen Grund - aber so lange ihn jemand beobachtet, wird sich ein Einsiedler nicht vom ursprünglichen Ort seiner Schale oder seines Gefäßes lösen." Er machte eine kurze Pause und sah noch einmal absichernd zum Aufzug hinüber, aus dem nun laut Sinas Schätzung jeden Moment ihre Verfolger klettern würden. "Genau dieser Effekt dient uns jetzt als Zeitzünder - wenn Sie wissen, was das ist. Die Einsiedler  da vorne dürften ziemlich ausgehungert sein, sie sind ziemlich groß und ziemlich zahlreich und unsere Anwesenheit dürfte sie wachgerüttelt haben. Sobald wir wegschauen, werden sie auf uns losgehen oder auf jedes andere fühlende Wesen, das sie wahrnehmen - hoffentlich inklusive unserer Verfolger. Los kommen Sie rein - und hoffen wir, dass wir unbemerkt bleiben. Sie dürfen auch wegsehen."

Fiedler zog sich weiter in die Kabine zurück und machte Platz für Sina, die trotz des engen Raumes kommentar- und berührungslos mit der ihr eigenen Eleganz neben ihn schlüpfte. Offenbar hatte sie ihn verstanden und stimmte dem Vorgehen zu, denn sie bedachte ihn mit einem verschwörerischem Blick und bedeutete ihm mit schwarz behandschuhtem Finger zu schweigen. Vorsichtig und unbehaglich zog er den staubigen schwarzen bodenlangen Vorhang zu.

Für einen Moment schien muffige Stille zu herrschen. War da leise ein schabendes schmatzendes Geräusch von kunststoffummantelten Gallertwesen zu hören? Unvermeidlich malte sich Fiedlers Phantasie aus, wie sich draußen ein um die andere plastikgepanzerte Monstrosität in vom fahlgrünen Licht entsättigten Bonbonfarben von ihrem haltenden Sockel schälte und auf farblos weißlichen Pseudopodien an Boden, Wänden und Decke ausschwärmten hin zu der Kabine, in der er und Sina saßen, wehrlos und blind. Hatte er gerade einen fatalen taktischen Fehler gemacht? Konnte ihn seine Gabe der Resistenz gegen einen Seelenfresser schützen? Was würde aus seiner Partnerin ... nein, Auftraggeberin werden?

14. Umgekehrt (2)


Die Angesprochene reagierte nicht sofort, dafür um so mürrischer. “So. Hat Sie Ihr kleiner Spaziergang auf eine bessere Idee gebracht, Herr Detektiv?”

"So ungern ich Ihre Vermutung bestätige, meine Dame, aber in der Tat, das hat er!" Mittlerweile war Fiedler nahe genug am Sockel des fehlenden Reittieres dran, um die befürchteten Details erahnen zu können: Im Gegensatz zu ihrer Umgebung bedeckte die aus der Sockelmechanik herausragenden Kunststoff- und Metallstreben keine matte, gesprenkelte Staubschicht. Stattdessen troffen von ihnen zähflüssige Fäden einer feucht glänzenden, gallertartigen Masse herab, an deren Enden tropfenförmige Ausläufer langsam die Vereinigung mit den klebrigen Pfützen am Boden darunter anstrebten.

"Schätze wir sind hier oben nicht alleine... und unsere unerwartete Gesellschaft könnte problematisch werden." Fielder verstummte und nur der sich langsam zu einem waghalsig schiefen Grinsen verziehende linke Mundwinkel illustrierte seine Gedanken. Möglicherweise war diese Gesellschaft aber genau die Überraschung, die sie zur Abwehr ihrer Verfolger nutzen konnten. Es war wie immer eigentlich nur eine Frage des richtigen Timings.

"Sina, wann erwarten wir schätzungsweise unseren Besuch aus dem Liftschacht?" Ohne sich umzudrehen machte er einen vorsichtigen Schritt rückwärts, dorthin wo er in einigen Metern Entfernung die Kabine des Fotoautomaten vermutete.

"Tja, anders als wir hier oben kommen die beiden im Schacht gut voran. Vielleicht eine oder zwei Minuten bis der erste da ist, dann geht es los. Übrigens bin ich im Rahmen Ihrer Kultur hinreichend anständig bekleidet und Sie dürfen mich bedenkenlos ansehen." Der versuchte Scherz vermochte Sinas angespannten und sarkastischen Ton nicht aufzulockern.

"Das trifft sich gut, denn ich beabsichtige, mir gleich den engen Raum dieser Passfotobude mit Ihrer Person zu teilen. Tun Sie mir den Gefallen: sparen Sie uns die Diskussion und machen diesmal einfach mit! Außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie meine Umgebung im Auge behalten könnten - insbesondere irgendwelche schattige Ecken."

Was auch immer hinter seinem Rücken geschah, es dauerte einen Atemzug und einige weitere Schritte, bis Sina mit hörbarer Verwunderung antwortete. "Ahm ... Rein hypothetisch, Herr Fiedler: Wären Sie überrascht, wenn sich über Ihnen an der Decke ein ziemlich unscheinbares blaues Spielzeugnilpferd an Sie anpirschen würde?"



Fiedler zuckte zusammen. Anfängerfehler! Mit einem Angriff von oben hätte er rechnen müssen. Die bisher geübte Vorsicht über Bord werfend beschleunigte er seine Schritte immer noch rückwärts auf die Fotokabine zu, weiterhin bemüht, den Blick nicht von den verbleibenden Plastikreittieren abzuwenden. "Das ist kein Spielzeug, Lady, das ist ein Monster! Halten Sie es auf!"

An Stelle einer Antwort setzte sich die Beschworene entschlossen und ohne Bedenksekunde in Bewegung. Mit ein paar schnellen kraftvollen Schritten glitt sie an Fiedler vorbei zur Wand und griff mit beiden Händen nach einem der unbenutzt herumstehenden Prospektständer. Im nächsten Moment schleuderte sie die Metallkonstruktion mit ihrem schmalen Körper unangemessener Gewalt nach oben in Richtung der Bedrohung, die sich immer noch in Fiedlers totem Winkel befand. Das Wurfgeschoss verließ sofort Fiedlers Sichtfeld, doch das hässliche Geräusch von brechendem Plastik, durchsetzt von feucht matschigem Kleckern und metallischem Scheppern signalisierte dessen Einschlag. "Treffer!" konstatierte Sina in nüchtern bis kokettem Ton, dann "Achtung, es kommt runter!".

14. Umgekehrt (1)


Endlich hatten sich Fiedlers Augen an die von versiegendem fahlgrünem Notlicht bestenfalls unzureichend aufgehellte Umgebung gewöhnt und die Tatsachen hinter den vormals vage erahnbaren Schatten wurden erkennbar. Er stand wenige Schritte vor der immer noch geöffneten Aufzugstür in einem gut zehn Meter durchmessenden Raum, von dem aus mehrere breite Gänge eine derzeit nicht vorhandene Menschenmenge in andere Teile des Gebäudes kanalisieren sollten. Entlang der Wand des ansonsten leeren Raumes reihten sich eine Passfotobude, Getränke-, Zigaretten- und Süßwarenautomaten neben leeren verstaubten Prospektständern. Weiter hinten schließlich lud im Dämmerlicht eine recht große Gruppe unwirklich bunter Plastikelefanten und sonstiger Tiere die Kinder zum Reiten und die Eltern zum Bezahlen ein. Offenbar handelte es sich hier um eine Aufenthaltshalle oder Passage in einem großen Kauf- oder Parkhaus: langweilig, generisch aber arm an Gefahren und reich an Fluchtwegen.

War das überhaupt noch das gleiche Gebäude, in dem sie die wandernde Spielhölle betreten hatten? Warum war Giorgio dieses Stockwerk noch nicht einmal eine Erwähnung wert? Weshalb statt dessen die Empfehlung von Metropolis als Fluchtroute? Stirnrunzelnd realisierte Fiedler, dass die altbacken wirkende Kassettendecke in fünf oder sechs Meter Höhe über ihm hing. Unmöglich, dass die Aufzugstüre des 13. Stockwerks, deren Anblick und Position er von den Ereignissen im Liftschacht noch bestens im Gedächtnis hatte, in diesen Raum münden konnte. Das waren schlechte Aussichten für seinen Plan B, den 13. Stock und damit den Fluchtweg nach Metropolis über das pflichtgemäß mit einem grün glimmenden Notausgangsschild gekennzeichneten Treppenhaus an der gegenüberliegenden Seite der Halle zu erreichen.

Zeit also für Plan C: zurück durch den Aufzugsschacht - wären da nur nicht ihre Verfolger. Wer auch immer sie waren, bisher hatten sie einiges an Hartnäckigkeit aber auch an Kompetenz bewiesen. Zunächst hatten sie sie aufgespürt. Dann hatten sie Giorgios Spielhölle passiert und offensichtlich hatten sie irgend jemand oder etwas dabei, das einen verdammten Aufzug und alle seine Normalosicherheit kaputtfluchen konnte. Zu alledem waren sie eiskalt dazu bereit gewesen, Ihn, Sina und Steinmeier über die Klinge springen zu lassen. (Verdammt, Steinmeier!)

Letztendlich hatte die Verfolgergruppe ihre Möglichkeiten bislang noch nie überschätzt und es war anzunehmen, dass sich das für die aktuelle Situation nicht geändert hatte. Wenn also einer oder mehrere von ihnen Sina und ihn verfolgten, dann war das wahrscheinlich ein kalkuliertes und annehmbares Risiko. Damit Plan C überhaupt machbar wurde, war er daher gezwungen, unkalkulierbar zu werden und die Verfolger abzuhängen oder sie zu überwältigen. Nur wie?

Gerade war Fiedler dabei, auch diesen Plan zu verwerfen und doch lieber entgegen Giorgios impliziter Warnung eine Flucht durch dieses Stockwerk zu überlegen, da riss ihn ein eigentlich beiläufig wahrgenommenes Detail aus seinen Gedanken. Abrupt blieb er blieb stehen und stutzte. Wotans Wanst! Einer der mechanischen Sockel bei den Plastikreittieren war leer. Fiedlers Haltung spannte sich an und seine linke Hand rutschte reflexartig an den Griff des Dolches in der dezent mattschwarzen Lederscheide an seinem Gürtel. Rasch verschaffte er sich einen Überblick über die taktische Situation: Sina kauerte neben ihm an der offenen Aufzugstüre und harrte argwöhnisch und kampfbereit etwaiger Verfolger und Mildred, die mechanische Schabe, tippelte fühlerwedelnd zwischen den Verkaufsautomaten hin und her. Ansonsten war keine Bewegung zu erkennen. Noch nicht.

Mit einer wohlgewählten Mischung aus Eile und Umsicht setzte sich Fiedler leise und zügig in Bewegung hin zu der im grünlichen Halbdunkel verborgenen Kunststofftiergruppe und zischte einen tonlosen Fluch. So laut wie eben nötig und ohne sich von seinem anvisierten Ziel abzuwenden, wandte er sich an seine Begleiterin. “Ohne Sie zu sehr aus dem Konzept bringen zu wollen, Lady, - wir sollten uns nicht zu sehr auf die Gefahr aus dem Aufzugsschacht konzentrieren.”

Editorial: Gerade noch geschafft

Gerade noch geschafft

Uff, das war knapp! Gerade noch vor der "Deadline" für Kapitel 14 sind die letzten Korrekturen eingepflegt und der Text für das Blog geschnitten - quasi ein Post in letzter Sekunde.

Dabei hatte es nach Kapitel 13 so gut ausgesehen: 14 Tage Frist für Kapitel 14 - das war ja fast schon symmetrisch und musste einfach passen. Allerdings hatte ich diese Rechnung ohne den Gesundheitszustand unserer drei jüngsten Familienmitglieder (plus kurzem Totalausfall meiner selbst) und dem sonstigen aufkommenden Trubel gemacht. Letztendlich hat mich dann meine Frau gerettet, die mich entgegen aller Widrigkeiten schließlich doch noch auf ein Wochenendcon entließ, auf dem ich zusätzlich zu ein paar netten Spielrunden einen Tag für Nummer 14 aufwenden konnte.

Die nächsten Wochen bis Ostern sind also mit Text für die Geschichte bestückt - mal sehen, ob ich mit Kapitel 15 hinkomme.

Update von Vorne bis Hinten


Auf besagtem Con hatte ich mehrfach die Gelegenheit mit ein paar anderen Kreativtätern und Interessierten zu sprechen und vielleicht noch ein paar mehr Leser auf dieses Blog zu locken.

Was mir bei den diversen Demonstrationen ("die Story steht auf dieser Seite da...") auffiel, war eine gewissen "Einsteigerfeindlichkeit" des Formats. Wer der Geschichte nicht von vorneherein folgt, tut sich schwer, die diversen mitunter recht langen Posts in umgekehrter Reihenfolge zu lesen - zumindest kam mir das Unterfangen ziemlich mühselig vor.

Zwar existiert seit kurzem die Möglichkeit, die diversen Kapitel als PDF herunterzuladen (Kapitel 13 ist übrigens mittlerweile auch dabei), ehrlich gesagt ist aber insbesondere auf kleineren Mobilgeräten (wie Smartphones, Phablets, Nibblets oder wie sie alle heißen) die Anzeige von HTML-Seiten wesentlich einfacher. Mit dieser Motivation konnte ich mich dann endlich aufraffen und die "Vox Solis - von Vorne bis Hinten" Seite auf den aktuellen Textstand bringen und gleichzeitig mit Inhaltsverzeichnis und Links versehen. Mal sehen, wie ich mich bei der weiteren Seitenpflege schlage. ;-)

Ist da jemand?


Grafik der Blogger-SeitenaufrufeWenn ich schon über "gefühlte Deadlines", möglicherweise neue Leser und allerlei Zusammenfassungen rede, muss ich zugeben, dass ich mir gar nicht so sicher bin, wie viele Leute die Geschichte hier eigentlich lesen.

Schaue ich mir meinen Besucherzähler für Seitenaufrufe an, dann gibt es da ein gewisses "Grundrauschen" mit ein paar Spitzen, die meistens um Dienstage oder Donnerstage liegen. (Letzteres ist nicht sehr überraschend.) In Summe komme ich auf so ca. 9 Seitenaufrufe pro Tag, von denen einige allerdings von automatischen Katalog- und Referrerprogrammen kommen. Ein amüsantes Detail ist ein Besucher, der offenbar von Google bei einer Suchanfrage nach "otis klapper aufzug" zu Vox Solis (ich nehme an "12. Auf ab Wege") geschickt wurde. An meiner Search Engine Optimization muss ich wohl noch üben.

Was ich überhaupt nicht einschätzen kann ist allerdings, wie real diese Zahlen sind. Wie viel Seitenaufrufe sind Automaten? Wie viele Leute lesen per RSS oder per Mail? Wie viele Automaten lesen per Mail?

Aufruf: Ich würde mich freuen, wenn sich ein paar von euch dazu durchringen könnten, einen Kommentar hinter diesen Post zu setzen (auch wenn ihr dafür die Vox Solis Webseite aufrufen müsst) - einfach weil ich mal wissen möchte, wer alles da draußen ist...

Danke und viel Spaß beim Weiterlesen,
Bernhard


P.S.: Vielleicht schreibe ich ja nicht weiter, wenn keiner kommentiert...


P.P.S.: Na gut, ich schreibe auch so weiter. ;-)

13. Vox Solis (4)

Erneut brummte eine Fliege mehrere Runden um Steinmeiers Kopf herum und er machte instinktiv eine abwehrende Geste, die das Insekt aber mitnichten zu stören schien. "Verdammte Viecher! Wo kommen die her? So lange bin ich noch nicht tot!" Dann besann er sich zurück auf sein Gespräch mit Astrid. "Wieso sollten Ratten uns führen - und wir sie bezahlen? Wie komme ich aus dieser Todesfalle eigentlich wieder heraus? Was ist mit den anderen beiden?" Doch seine Fragen verhallten scheinbar ungehört, denn eine Antwort blieb aus. Auch das Flüstern und Grollen des Orakels schien verschwunden.

Statt dessen gesellte sich surrend eine weitere Fliege zur ersten, dann noch eine.

"Astrid!?" Finn rief in die Dunkelheit und starrte erneut angestrengt in Richtung der unergründlich fernen Mitte der Aufzugskabine. Als seine Augen dort auf einen Schlag eine Silhouette ausmachen konnten, zuckte er vor Schreck zusammen. Aus dem vage undefinierten Schatten im offenen Raum schälte sich eine große schlacksige Gestalt. Die seltsam dürren Glieder offenbar in einen eleganten Anzug gekleidet, mit einem etwas schief sitzenden Zylinderhut auf dem Kopf und einem geraden Gehstock in der linken Hand wandte sie Finn den Rücken zu.

Steinmeier kniff die Augen zusammen schüttelte sich verstört - nicht nur um die Fliegen loszuwerden. Eigentlich konnte dieser Anblick nur das Produkt seiner auf Hochtouren laufenden Phantasie sein. Klar, Astrids Stimme hatte gesagt, der Tod würde kommen und ihn holen - aber den Gevatter in Anzug und Zylinder zu halluzinieren war doch ein wenig dick aufgetragen.

Mit einem einzigen weit ausholenden Schritt rückwärts betrat die Gestalt den Raum aus dessen Mitte heraus und verharrte an ihrer neuen Position wieder regungslos. Stattdessen war nun eine Melodie zu hören, gesummt von einer abgrundtiefen kehligen Stimme, die durch Finns gesamten Körper vibrierte: der Hochzeitsmarsch. Im technicolorfarbenen Halbdunkel wirkte die blanke Schwärze von Anzug und Zylinder seltsam würdevoll deplatziert. Verwundert registrierte Steinmeier, dass sich statt der erwarteten Knochenklaue ein weißer Glacéhandschuh um den Knauf des Gehstocks schloss. Bevor er weitere Details wahrnehmen konnte, wandte sich die Gestalt um und Finn starrte in die aufgerissenen Augen eines großen schwarzhäutigen Mannes, auf dessen Gesicht mit kalkweißer Farbe ein grinsender Totenschädel geschminkt war. Ohne ihn jemals zuvor persönlich gesehen zu haben, formulierten Finns Lippen tonlos den Namen des Fremden: "Samedi"

Die Lippen des Barons verzogen sich zu einem breiten Grinsen und er neigte den Kopf mit der gleichen Geste zur Seite, wie es die besessene Trommlerin zuvor in der Jungle Lounge getan hatte. "Sieh an, sieh an - wie heißt es so schön: man trifft sich immer zweimal. Ein wunderbarer Tag, den du dir zum Sterben ausgesucht hast, Finn Steinmeier! Auch der Ort: ruhig, abgelegen und schon mal unter der Erde. Keine normale Welt als Zeuge, keine menschlichen Verpflichtungen einzuhalten und keine verlausten Schutzgeister, die uns stören. Nur das Interieur ist ein wenig abgestanden für meinen Geschmack. Nach unserem kleinen Tête-à-tête vorher fand ich es unpassend, dich einem anderen zu überlassen und wollte dich unbedingt persönlich ... über die Schwelle tragen." Der Ghede lachte aus tiefster Kehle über seinen eigene schalen Scherz.


Was waren Astrids Worte gewesen? Er solle nicht zulassen, dass der Tod ihn holt? Wenn Samedi dieser Tod sein sollte, dann wusste er zumindest, was schon einmal funktioniert hatte. Finn fixierte zunächst den lachenden Loa, konzentrierte sich und sah dann gezielt weg. Wie eine heiße Woge brach Anstrengung über ihn hinein und er fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Poren trat. Letztes Mal war es einfacher gewesen, Samedis Blick abzuwenden dachte er. Nur jetzt nicht hinsehen, nicht die Blicke kreuzen, so groß die Verlockung auch sein mochte. Finns Atem ging schwer, er unterdrückte ein Keuchen. Was, wenn er es nicht schaffte? Vor seinem inneren Auge entstand das Bild des imposanten Loas, wie er jetzt gerade ihn, den schwitzenden, sterblichen, sich vergeblich mühenden Menschen mit gespitzten Lippen und  unverwandtem Amüsement anstarrte... Nein, solche Bilder durfte er nicht zulassen! Wenn nur die Fliegen nicht wären, die überall auf seinem zunehmend schweißnässeren Körper saßen. Einer Eingebung folgend, verstärkte er noch einmal seinen Einsatz und versuchte, sich auch vor den Fliegen 'wegzuwünschen'. Er durfte sich jetzt nicht aufgeben! Astrid hatte ihn darum gebeten!

Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis Finn bewusst wurde, dass die Last auf ihm schwächer wurde - oder war er es selbst, der nachgab? Er realisierte, dass er in die Knie gesunken war und nun schweißüberströmt neben seinem eigenen zerschlagenen Leichnam auf dem Boden der zerschmetterten Aufzugskabine kauerte. Fliegen waren keine mehr zu spüren und er erinnerte sich an ein Geräusch, das er gerade gehört hatte. Es war wichtig gewesen, aber nur nebensächlich gegenüber seiner Anstrengung sich zu verbergen. Er ging in sich und versuchte sich zu erinnern. Hatte Astrids Stimme noch etwas gesagt? Nein, aber eine Stimme war da gewesen. Eine tiefe Stimme, die Stimme von Samedi. Die Stimme hatte wütend aufgeschrien - und dann war der Baron mit raschen wütenden Schritten durch die Mitte aus dem Raum gegangen und verschwunden. Zuvor hatte er aber noch etwas gesagt. Alles hatte Finn nicht verstanden aber drei Sätze waren ihm im Gedächtnis geblieben: "Hüte dich, Steinmeier! Noch einmal wird dir dein kleiner Trick nicht helfen! Nächstes Mal gehörst du mir!”

Erschöpft ließ sich Finn zu Boden sinken und starrte für einen Moment in seine eigenen toten Augen. Es wäre so einfach gewesen, sich zu verlieren, sich hinzugeben. Was, wenn niemand kommen würde, um ihn zu retten? Was, wenn es keinen Ausweg gäbe? Wie lange würde er hier am Grunde des Aufzugsschachtes zu warten verdammt sein? War es jetzt so etwas wie eine ruhelose Seele, ein Gespenst? Und wenn das alles nur eine Halluzination eines Sterbenden war, wie lange würde sein echter Körper noch gegen den Tod ankämpfen können?

Finn blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten - allein in der flirrend graubraunen Dunkelheit am Grunde des Aufzugsschachts irgendwo unter Durnburg.

13. Vox Solis (3)

Was, wenn das alles doch keine Halluzination war? Finn rang mit sich und fasste Mut zu einer Antwort. "Astrid, ich ... dein Tod war meine Schuld. Ich hätte dich nicht auf das Treffen mitschleppen dürfen! Ich hätte dich nie diese dämliche Séance machen lassen dürfen! Ich hätte dich nicht sterben lassen dürfen ... und ich hätte dich nie vergessen dürfen! Ich glaube nicht, dass du mir verzeihen kannst - aber ich will meine Entschuldigung wenigstens vorgebracht haben." So. Jetzt war es raus.

Als die Antwort kam, entsprang Astrids Stimme nicht mehr der unergründlichen Mitte des Raumes sondern war ganz nah, als wäre ihr Gesicht unsichtbar nur eine Handbreit von Finns Lippen entfernt. Unwillkürlich streckte Steinmeier seine Hand aus um sicherzustellen, dass sie nicht unsichtbar doch greifbar vor ihm im Raum stand, aber er fasste ins Leere. In weichem, beinahe zärtlichem Ton entgegnete sie: "Finn. Törichter, mutiger Finn. An meinem Tod hast du keine Schuld. Dass ich dich begleitet habe, dass ich die Séance begann - das alles war meine eigene Entscheidung. Dein Vergessen, als sich der Schleier über dich senkte, ist dir so wenig anzulasten wie der Sonnenaufgang jeden Morgen. Wir alle sind sterblich und müssen irgendwann gehen. Meine Zeit war gekommen und ich musste an diesem Tag sterben. Damals wusste ich es noch nicht, aber heute ist mir klar, dass es unumgänglich war. Ich habe dir nichts zu verzeihen - also verzeih dir selbst! Verzeih dir, dass du dich auf mich und die Séance eingelassen hast! Verzeih dir, dass du wie jeder andere Mensch der normalen Welt vom Schleier überwältigt wurdest und alles um mich vergessen hast! Und verzeih dir, dass du deinen Gefühlen und deinem Gewissen gefolgt bist und dich für die Grenze entschieden hast! Wenn du verziehen hast, lass dich auf die Grenzwelt ein, denn sie ist nun deine Welt."

"Aber wir holen dich zurück! Fiedler hat irgendeinen Plan und Sina passt auf, dass der auch funktioniert - und dann bist du wieder lebendig." Finns Stimme quoll über vor Verwirrung, Begeisterung und Zweifel. "Wir wollten schon bis in die Ödnis gehen, um dich zu holen. Aber jetzt wo du hier bist, bleib einfach bei mir und die beiden finden uns und helfen uns zurück ins Leben!"

"So einfach ist das nicht, Finn." Astrid klang nun eher betrübt. "Ich bin dir nicht so nah wie du glaubst. Ja, ich kann die Ödnis verlassen, aber eure Welt vermag ich nicht zu betreten - zumindest nicht aus eigener Kraft." Sie zögerte und fuhr mit noch mehr Besorgnis in der Stimme fort: "Leider weiß ich auch, dass euch das nicht davon abhalten wird, mich zu suchen - und wenn ihr es nicht tut, werden andere kommen."

"Was soll das heißen? Willst du lieber ... tot bleiben? Wieso sollte jemand außer uns dich zurückholen wollen? Ich verstehe nicht..." Steinmeier war völlig aus der Fassung.

"Es wäre nicht klug, dir jetzt alles zu erklären. Außerdem wird unsere Zeit hier knapp. Es gibt einige mächtige Leute in Durnburg und bald auch darüber hinaus, die mich gerne zurückholen wollen. Irgendjemandem wird es wohl gelingen und ich würde es vorziehen, wenn ihr das wärt. Ich kann dir aber nicht verdenken, wenn du es nicht tun willst, denn mindestens einer von euch wird bei dem Unterfangen sein Leben lassen. Endgültig." Astrids Tonfall blieb sorgenvoll, wurde aber eindringlicher.

"Und... und... warum weißt du das so genau?" Finn zog die Stirn kraus.


"Ich weiß es, weil das Orakel es weiß. Aber es ist nicht sicher, ob es genau so geschehen wird. Als ich starb, wurde ein Teil von mir zum Teil des Orakels und ich bin seither die einzige Stimme im Chor der wispernden Seelen derer, die vor mir dem Orakel Opfer geworden sind. Ich habe Teil an ihrem Wissen über die mögliche Zukunft."

Irritiert blickte Steinmeier einer summenden Schmeißfliege nach, die gerade eben mit nur wenigen Zentimetern Abstand sein Gesicht passiert hatte. Den letzten Teil von Astrids körperloser Rede ignorierend gelang es ihm aber wieder, in der Konversation Fuß zu fassen. "Und das Orakel weiß, dass jemand von uns sterben wird, wenn wir dich wiederholen? Aber nur möglicherweise und ganz sicher ist es nicht? Das klingt nicht besonders überraschend, finde ich." Vielleicht war das doch alles nur Einbildung und er führte hier nur ein eingebildetes Zwiegespräch mit seinem Unterbewusstsein. "Hat das Orakel auch einen Hinweis, wie wir dich am leichtesten finden können?"

In Astrids Stimme war keine Entnervtheit zu erkennen - nur Bedauern. "Ich hatte befürchtet, dass du so etwas fragst. Es gibt einen Ort in der Durnburger Unterstadt, einen Seelenbrunnen, an dem ein Übergang zwischen Dies- und Jenseits möglich ist. Dort werde ich deinen Ruf hören. Den Schritt ins Reich der Lebenden kann ich dennoch aus eigener Kraft nicht tun - doch ich werde jede helfende Hand deinerseits annehmen. Am besten ist es, wenn ihr den Weg zum Seelenbrunnen selbst sucht. Lasst ihr die Ratten euch dorthin führen, zahlt ihr einen hohen Preis."

13. Vox Solis (2)

Eine Nuance an seiner Umgebung änderte sich, was sofort Steinmeiers Aufmerksamkeit von seinem eigenen leblosen Körper ablenkte. Was hatte sich geändert? Zum ersten Mal registrierte Finn den Raum um sich herum und die merkwürdige Art, wie dieser gerade auf ihn wirkte. Jegliche Farbe schien aus der Welt gewichen zu sein - kein Wunder in Anbetracht der zu erwartenden vollständigen Dunkelheit hier im Abgrund. Dennoch waren die Wände und Ecken von eben jenem bereits wahrgenommenen nicht-ganz-grauen Flirren erfüllt und zumindest in vagen Details und Konturen sichtbar. Gleichzeitig schien es Finn, als wären ihm die Wände und Ecken der Aufzugskabine näher als die Mitte des Raumes. Besonders "weit" entfernt wirkte der von dunklen Schatten völlig durchtränkte Fleck unter der eigentlich als heller erwarteten Dachluke. Waren diese Beobachtungen für sich bereits bemerkenswert, erklärten sie jedoch noch nicht die erfühlte Veränderung - zu statisch und gleichmäßig war ihr Wesen.

Da war es wieder! Ein Wispern und Raunen war durch die Kabine gezogen. Dann ein Grollen wie von entferntem Donner. Steinmeiers Unterbewusstsein war schneller und ließ ihn erschaudern, noch bevor sein Verstand die Wahrnehmung einordnen konnte. Das Orakel! Diese Geräusche waren damals bei den Geschehnissen auf dem unseligen Theatergruppentreffen untrennbares Beiwerk für jedes Auftreten und Wirken des Orakelgeistes in den Tarotkarten gewesen. Er hatte sie gehört, als er im fackelerhellten Steinkreis des Orakels gestanden und so töricht über sein Schicksal entschieden hatte... und er hatte sie gehört in der Séance, bei der Astrid Kirchner starb. Erneut schwoll das Rumoren und Flüstern an. Die Quelle der Geräusche schien aus der Mitte der zerschellten Aufzugskabine zu kommen. Irgendwie war es Steinmeier, als würde sich eine Präsenz aus der unendlich fernen Mitte den Wänden nähern.

Verwirrt schüttelte er den Kopf. Hatte nicht Fiedler gerade vorher von diesem Mann-Gott-Weib namens Ghede erfahren, dass das Orakel und Astrid in einer anderen Welt und somit unerreichbar waren? Wie konnte es dann sein, dass er das hörte, was er gerade hörte?

Diesmal sandte die naheliegende Erklärung ein Lächeln auf Steinmeiers Lippen. Alles, was er gerade wahrnahm, entsprang einer Halluzination. Offenbar assoziierte Steinmeiers gequältes Gehirn den Tod an der Grenze naheliegenderweise mit Astrid Kirchners Sterben und daher mit dem Orakel. Das war einleuchtend, oder?

"Finn!"

Bevor er Zweifel an seiner neugefundenen Theorie entwickeln konnte, wurde Steinmeier jäh aus seinen Überlegungen gerissen. Hatte da jemand seinen Namen gerufen? Er sah sich um und lauschte angestrengt in das wortlose Wispern und Grollen des Orakels hinein.

"Finn Steinmeier!"

Wie ein einzelner goldener Sonnenstrahl durch ein Loch im wolkenverhangenen Gewitterhimmel drang eine klare aber leise Frauenstimme durch die rauschende Dunkelheit - und rief Finns Namen. War Sina zu seiner Rettung gekommen? Nein, das war nicht Sinas rauchiger Ton. Das klang viel mehr nach... hastig, rau und unsicher sprach Finn den Gedanken aus und wartete unsicher ob er eine Antwort hören wollte: "Astrid?"


"Gut. Du hörst mich also. Hör zu, Finn, es ist wichtig." Die Stimme aus dem Nichts hatte einen eindringlichen Tonfall angenommen und das Flüstern des Orakels zu einem unstetig an- und abschwellenden Hintergrundrauschen abklingen lassen. War das wirklich nur Finns Unterbewusstsein, das ihm hier einen Streich spielte - oder doch mehr? Viel mehr? Steinmeier konnte nicht anders als gebannt zuzuhören und in die düsteren Nebel in der Mitte des Raumes zu starren.

Astrids Stimme fuhr fort. "Was auch passiert, gib dich nicht auf, Finn, und verliere dich nicht! Bleib hier und lass nicht zu, dass der Tod dich holt! Rettung wird kommen und dein Körper wird dich wieder tragen." Es entstand eine Pause, als eine Woge fernen Donnerns und peitschenden Wisperns den Raum erfüllte und für einen Moment verklang die einsame Stimme zwischen dem vielmündigen Geflüster.

13. Vox Solis (1)

Die Welt um Finn Steinmeier flimmerte im unruhig matten Grau eines alten Röhrenfernsehers ohne Empfang. Völlig überwältigt von den Geschehnissen der letzten Momente und zutiefst widerwillig, diese zu begreifen, kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf - doch vergebens: Ungefragt und ununterdrückbar quollen und sprudelten Bilder aus seiner Erinnerung an die Oberfläche und überfluteten seinen Geist.

Zunächst ein Anflug von Panik und Urangst davor, mit der monströsen Roboterschabe in einem engen dunklen Raum eingeschlossen zu sein. Dann der Sturz auf den Kabinenboden neben Fiedler, als die erste Erschütterung den Lift getroffen hatte, der Schmerz an Kinn, Zunge und Lippe, der aufwallende Ärger, schließlich die Überwindung, der Fokus auf die "Handlung" der Szene, die einsetzende Erleichterung, die mit der körperlichen Bewegung einherging.

Auf einmal war da die Präsenz einer Vielzahl spirrig dünner, metallen kalter und unglaublich flinker Spinnen... nein, Schabenbeine gewesen, die mit erschreckender Geschwindigkeit und Kraft die Finger seiner Linken auseinanderspreizten und etwas glattes kaltes Rundliches in seine Hand pressten, in etwa so wie ein Parasit ein Ei in dessen Wirtskörper legt.

Für einen Moment hatte er mit der abstoßenden Assoziation und dem aufbrandenden Ekelgefühl gerungen, bevor er sich überwinden konnte das Objekt zu behalten, während er sich hochdrückte und mit der leeren Hand einen ertasteten Griff fasste. Fiedlers eindringlich durch die Dunkelheit klingende Frage machte ihm noch einmal bewusst, wie wichtig das Ding dem ansonsten so betont gelassenen Klischeedetektiv war. Als "Seelenkapsel" hatte er es bezeichnet - irgendwie klang das nach einer Art Rettungsboot für im Jenseits Gestrandete. Gestrandete wie Astrid...

Die linke Hand mit weiß hervortretenden Knöcheln um das schlanke ovale Gefäß geschlossen, aus dessen Inneren ruhig tickende Vibrationen zu fühlen waren, war er da gestanden, den Rücken an die muffige Kabinenwand gelehnt und hatte Sinas Verlust jedes Anscheins von Menschlichkeit und Fiedlers unbeholfene Kletterei verfolgt. Einmal mehr hatte er sich mit seinem normalweltlichen Know-How über Aufzüge überlegen gewusst, hatte den Sicherheitsmechanismen seiner alten Welt mehr vertraut als dem schattenhaften Raubtiergeist auf dem Aufzugsdach - und einmal mehr war er betrogen worden.

Schaudern überlief ihn und die Erinnerungssequenz sprang weiter bis zum Absturz. Gerade hatte er die scheinbare Sicherheit der Wand verlassen, um trotz aller Bedenken Sinas zweifelhaftes Hilfsangebot anzunehmen. Urplötzlich war der Boden unter seinen Füßen weggebrochen und er fiel, haltlos, schwerelos, hilflos in den Abgrund. Wahrscheinlich hatte er geschrien. Wahrscheinlich war ihm der Fall endlos lang erschienen. Wahrscheinlich wäre er in Panik geraten, hätte er die Situation begreifen können. All das war jedoch bedeutungslos im Angesicht des Aufpralls.

Nach dem Aufschlag war die Welt von Agonie erfüllt gewesen. Handlungsunfähig hatte sein zerschmetterter versagender Körper in der Dunkelheit gelegen, durchflutet von pochendem Schmerz und sengender Qual. Wie lange konnte er nicht sagen. Sein Bewusstseit lag ebenso in Scherben wie seine Knochen. Dann, langsam und zäh, wie das Blut aus seinen geborstenen Lungen auf das aufgerissene PVC des Kabinenbodens tropfte, war die Welt von undurchdringlichem Schwarz zu flirrendem Technicolorgrau geworden und sein Geist hatte etwas Klarheit zurück gewonnen. In diesem Moment musste er gestorben sein.


Die Erkenntnis traf Steinmeier wie ein Schlag ins Gesicht, dann wehrte sich sein Bewusstsein dagegen. Sicherlich war er nur bewusstlos geworden, ins Koma gerutscht. Er blickte nach unten und sah dort seinen Körper liegen: verkrümmt, blutend und regungslos. Auf das erste wortlose Entsetzen folgte beißende Zynik. Na toll, da hatte er mal eine außerkörperliche Erfahrung und Halluzinationen und dann gleich dermaßen beschissene! Vielleicht hätte er mehr mit Drogen experimentieren sollen - dann wäre vielleicht etwas Erfreulicheres dabei gewesen...

Editorial: Es schlägt 13

Die Geschichte geht weiter

Mit dem Ende von Kapitel 12 ist ein weiterer Meilenstein erreicht: Bis hierher ging die Geschichte von Vox Solis im ersten Anlauf - und nicht weiter. 

Für mich ändert sich damit einiges am Schreibmodus. Während ich bisher den bestehenden Text durchgegangen bin und ihn auf Stimmigkeit und Handlung getrimmt habe (bestenfalls mussten mal ein paar Absätze neu geschrieben werden), muss ich jetzt schöpferisch "ran". 

Vom Zeitaufwand her ist das deutlich heftiger aber es macht ehrlich gesagt auch mehr Spaß. Viel Spaß wünsche ich euch daher ab jetzt bei den "wirklich neuen" Kapiteln von "Vox Solis" (nicht nur "Reloaded").

Halbe Kraft voraus

Der zusätzliche Zeitaufwand beim Schreiben geht leider nicht mit mehr verfügbarer Zeit bei mir einher. Meine drei kleinen Kinder soll nicht wegen der Geschichte auf mich verzichten müssen und es gilt tunlichst zu vermeiden, dass "Vox Solis" für meine Frau ein Reizwort wird. (Den Vollzeit-Job nebenher erwähne ich mal nicht gesondert.)

Als naheliegender Schritt bietet es sich daher an, die Veröffentlichungsfrequenz zu reduzieren. Ich bitte also um euer Verständnis, liebe Leser, dass es ab jetzt nur noch Dienstag und Donnerstag neue Geschichtenfragmente zu lesen gibt und ich erst einmal den Samstagstermin ausfallen lasse.

Fazit: Vox Solis gibt es ab jetzt immer Dienstags und Donnerstags um 06:00 (falls da schon jemand am Rechner sitzt).

Mach mal Druck!

Immer wieder bekomme ich Anfragen, wo man sich denn Vox Solis geeignet ausdrucken könnte. Nun ist es seit ein paar Wochen so, dass mir von meiner "Loa des Layouts" die bisherigen Kapitel (1..12) als schick gesetzte und gestaltete PDF-Dateien zum Ausdruck zur Verfügung gestellt wurden. Diese Dateien sind über die Seitenleiste rechts oben unter dem Link "Vox Solis - zum Ausdrucken" zu finden.

Hinterlasst bei Gefallen doch mal ein paar lobende Kommentare, dann werden vielleicht die noch ausstehenden Kapitel ähnlich schön umgesetzt! (Diese Aufforderung ist natürlich fast völlig uneigennützig.)

12. Auf ab Wege (6)

"Verdammt, Steinmeier!" Trotz der körperlicher Anstrengung und misslicher Lage war Fiedlers Stimme randvoll mit Ärger, Schuldgefühl und Niedergeschlagenheit.

“Psst!... Da ist jemand im Schacht!” Sinas Stimme war leise aber eindringlich und sie wies, jetzt nur noch auf einen Arm gestützt mit einem behandschuhten Finger nach unten ins trübe Halbdunkel. "Bringen Sie doch mal Ihre neumodische Handfeuerwaffe in Stellung!"

Automatisch zuckte Fiedlers freie linke Hand in seine Lederjacke wobei er mit Adleraugen vergebens versuchte, das für ihn unsichtbare Ziel auszumachen. Dann hielt er abrupt inne, tastete hastig im Innenfutter und stieß ärgerlich zischend Luft aus. "Schlechte Nachrichten, meine Dame: ich seh' nicht das Geringste - aber das macht nichts, denn die Kanone liegt wohl unten im Schacht."

Doch Sina kauerte nicht mehr neben ihm. Statt dessen erklang von oberhalb der Türe aus dem Schatten hinter der Notfallleuchte ein nervenzermürbendes Kratzen wie von harten Krallen auf Metall. Harte Krallen? Dass die Dame ihre Gestalt wandeln konnte, war klar gewesen - und wahrscheinlich versuchte sie, den Trick aus der Aufzugskabine zu wiederholen. Eine verletzliche Stelle in der Mechanik suchen, die Vorrichtung zerstören, die Türe öffnen. Beschworene hatten oft eine sehr beschränkte Zahl von Strategien, um mit Technik umzugehen. Irgendwie zweifelte Fiedler daran, dass Sina diesmal erfolgreich sein würde.

Der taktisch denkende Teil seines Gehirns gab ihrem Vorhaben Recht: Ihre Gegner hatten souverän einen Kampf begonnen. Sie hatten mindestens einen Magiebegabten auf ihrer Seite, der Flüche aussprechen konnte und vor dem Sina zumindest Respekt hatte. Wahrscheinlich waren sie ihnen auch noch überlegen, was Anzahl und Kampfkraft anging. Es galt also, eine Konfrontation zu vermeiden - indem man beispielsweise eine Türe nach draußen öffnet. Nur wie?

In diesem Moment, tauchte eine mögliche Antwort auf Fiedlers Frage auf. Genauer gesagt krabbelte sie auf sechs segmentierten mattsilbernen Beinen, kleine kratzende Geräusche erzeugend, von unten auf den metallbeschlagenen Sims neben Fiedlers Füßen. Mit nervös witternden Fühlerantennen, zuckenden Mundwerkzeugen und latent aggressiver Haltung ihres armlangen insektoiden Eisen- und Bronzekörpers starrte Giorgios mechanische Schabe den instinktiv um seine Beine und Weichteile fürchtenden Detektiv aus funkenglimmenden Facettenaugen an.

Aus früheren Begegnungen wusste Fiedler, dass Giorgios Helferkreaturen ein gewisses Händchen - ein gewisses Mandibelchen - für einfache Mechanismen wie beispielsweise eine Aufzugtüre hatten. Aber wie überzeugte man eine Metallschabe einem zu helfen? Weiter unten im Aufzugsschacht verdeutlichte ein dumpfes Rumpeln, dass der von Sina wahrgenommene Verfolger durchaus real war und wahrscheinlich stetig näher kam. Das Metallinsekt ruckte hin und her. Keine Zeit für zweite Versuche - also die Ruhe bewahren und bei den grundlegenden Gesetzen der Grenze bleiben.

"Hallo ... Mildred." Fiedler begann unsicher, wog ab, ob er auf eine Reaktion warten sollte, fuhr dann aber fort. "Ich bin Giorgios Freund und will dir keinen Schaden zufügen.” Beide Fächerfühler waren nun auf ihn gerichtet. Zumindest die Aufmerksamkeit des … Tieres war ihm offenbar sicher. “Hast du die Seelenkapsel an Finn Steinmeier übergeben?" Die Fühler der Schabe bewegten sich kurz auf und ab. War das ein 'Ja'? Fiedler beschloss mit dieser Annahme weiterzumachen. "Giorgio hat mir die Kapsel zugesagt. Hilf uns, den Handel zu Ende zu bringen und den Pakt zu erfüllen. Ich brauche die Kapsel." Erneut bewegten sich die Fühler auf und ab, während über der Türe das Kratzen abrupt endete und durch Knistern und Knacken von mehr und mehr verbogenem und gespanntem Metall ersetzt wurde. Fiedler atmete durch und unterdrückte den Impuls sich umzudrehen. "Ich bitte dich, Mildred, öffne uns die Türe, bevor meine Partnerin dort oben unnötig Schaden anrichtet."