23. Auf ein Wort (3)

Die Frage hatte Fiedler verfolgt, als er aus der Unterstadt, Treppen und Rampen hinauf, immer den beiden trippelnden Ratten hinterher bis hinaus in die wolkenverhangene Durnburger Nacht gestapft war. Wer oder was war denn eigentlich der “Gegner”, den es zu bezwingen, umgehen oder überlisten galt? Die machtgierigen Opportunisten von Mitternacht stellten sicher nicht das eigentliche Problem dar, so sehr sich Victoria Thomas auch Mühe gab, bedrohlich, informiert und mächtig zu wirken. Ebenso waren die durch Unbehaun vertretenen Gelehrten von “Libra et Liber” allenfalls ein wehrhaftes aber verzweifeltes Opfer einer Intrige. Brack und seine Verfolgertruppe hatten sich als getreue Schergen von Unbehaun erwiesen und schieden somit erwartungsgemäß als eigenständige und treibende Fraktion aus. Unter den offen sichtbaren Akteuren blieb also nur noch Sina als “Verdächtige” übrig. Seine gutaussehende und mysteriöse Auftraggeberin war allem Anschein nach der “Stein des Anstoßes” und die Wurzel all seiner Probleme. Diese Feststellung verleitete Fiedler hinter seinem Zigarillo zu seinem schiefsten und breitesten sarkastischen Grinsen, als er neben dem anregend herben Rauch die nahezu vollständige Erfüllung eines tief verinnerlichten Klischees seiner geliebten Detektivgeschichten genoss.
Allzu lange ließen sein Verstand und seine Erfahrung allerdings nicht zu, dass er sich auf dieser naheliegenden Erkenntnis ausruhte. In allen ihm bekannten Fällen, in denen eine Beschworene vom Schlage Sinas die “Wurzel des Übels” - oder treffender “des Pudels Kern”  - für eine Verschwörung oder Intrige darstellte, ging es um wesentlich ganz andere Hintergründe als ein totes Medium oder den Zugang zu einem schicksalskräftigen Orakel. Ein Geist wie Sina hatte andere Möglichkeiten, mit Wesen wie dem Orakel in Kontakt zu treten - und warum sollte sie das überhaupt tun? Wo lag Sinas Motivation?
Laut Sinas eigenen Worten lag die Sache ganz klar: In dem kleinen Nachspiel der Ereignisse am Brunnen, dessen Zeuge Fiedler geworden war, hatte sie gegenüber Samedi behauptet, sie wäre in dem Bannkreis gefangen, so lange ihr Beschwörer sie nicht entließ. Demnach gab es also einen Beschwörer, nach dessen Pfeife sie tanzen musste - und nach dessen Pfeife sie alle anderen tanzen ließ. Blieb noch die Frage, ob sie dem Baron gegenüber nicht ebenfalls falsches Spiel trieb? Grund genug schien sie zu haben.
Dennoch hatte Fiedler beschlossen, auf der Annahme aufzubauen, dass Sina in diesem Spiel in erster Linie die Spielfigur eines bislang unbekannten Beschwörers darstellte. Doch was wusste er über diesen mysteriösen Unbekannten? Recht wenig - aber vielleicht genug:
Wer einen Geist von Sinas Art und Macht beschwören und halten konnte, war wahrscheinlich weder neu noch unbekannt an der Grenze. Er suchte also nach einem “alten Hasen”, was Magie und Beschwörungen anging.
Den Auftrag, die Kirchner zurückzuholen hatte Unbehaun vom Durnburger Rat selbst bekommen und wahrscheinlich zeitnah in die Tat umgesetzt - so lange Fiedler ihn kannte, war es nicht seine Art gewesen, lange zu fackeln. Um so schnell zu reagieren, wie er es getan hatte, musste Beschwörer in etwa zum selben Zeitpunkt von Unbehauns Auftrag erfahren haben, wie dieser. Da solche Beschlüsse des Rates aber nicht öffentlich waren, lag es nahe, dass der Beschwörer entweder selbst zum Rat gehörte oder aber direkt mit dem Rat verbunden war.
Irgendwie hatte Sina es geschafft, dass Griselda von Radewitz sie als Unbehauns Vertreterin gemäß Brief und Vertrag zu bestätigen. Da Fiedler Sina keine dermaßen starke Täuschungsmacht zutraute, hatte also ihr Beschwörer entweder eine Schwachstelle in Griseldas Gabe gekannt oder sie auf irgendeine Art und Weise beeinflusst. Für beides war eine intime Kenntnis und persönliche Beziehung zur Freifrau von Radewitz hilfreich bis notwendig.

Den ganzen Weg vom Brunnen bis zur Oberfläche hatte in Fiedlers Kopf die detektivische Maschinerie von Schlussfolgerung, Beobachtung und Intuition gearbeitet. Die Liste der ihm bekannten Verdächtigen, die alle Kriterien erfüllten war recht kurz - leider, denn der einzige Name darauf gehörte einer der mächtigsten und gefährlichsten Personen der Durnburger Grenze. Dann war ihm eine Eingebung gekommen, wie er an diesen Strippenzieher herankommen konnte, ohne sich oder/und Sina/Unbehaun als seine/n Auftraggeber in allzu offensichtliche Gefahr zu bringen.

23. Auf ein Wort (2)

Die durchaus freundliche Stimme des Burgbediensteten beschwichtigte seine Befürchtungen zumindest fürs Erste: “Willkommen auf der Burg. Mein Herr lässt mich ausrichten, Sie mögen hier bitte einen Moment warten. Die Gräfin wäre bereits von Ihrem Anliegen unterrichtet. Sie wird sich Ihrer annehmen, sobald ihre Verpflichtungen das zuließen.” Ausholend und etwas umständlich griff der Bedienstete in eine Tasche seiner Livrée und produzierte daraus ein längliches silberfarbenes Metallröhrchen, das er dem durchnässten Privatdetektiv mit eleganter Geste hinhielt. “Um Ihnen die Wartezeit zu versüßen soll ich dies hier überreichen - mit bester Empfehlung meines Herren, versteht sich.” Der Anflug eines Schmunzelns huschte über Fiedlers Gesicht, als er das Präsent erkannte und mit einem angedeuteten Kopfnicken entgegennahm, während der Maskierte fortfuhr. “Ihren Gewohnheiten nach werden Sie es wohl bevorzugen, hier draußen zu warten. Sollten Sie sich jedoch anders entscheiden, steht Ihnen die Türe zum Gästebereich natürlich offen. Wenn ich es mir erlauben darf - würde gerne darauf hinweisen, dass die Innenräume natürlich deutlich wärmer klimatisiert sind als der Außenbereich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?”
Fiedler rang kurz mit sich, versucht von der Aussicht auf eine warme trockene Umgebung mit bequemen Sitzmöbeln. Dann besann er sich jedoch wieder auf den Grund seines Kommens und auf das angestrebte und potentiell komplizierte Gespräch mit der Gräfin. Drinnen hatten alle Mauern Ohren - und auch wenn er sich seiner Privatsphäre hier draußen ebenfalls nicht sehr sicher war, fühlte er sich im Schlosshof und -garten deutlich unbelauschter vom beinahe omnipräsenten Burgherren. “Nein, danke. Ich werde hier warten… und mir vielleicht ein wenig die Füße im Schlossgarten vertreten.”
Der Diener nickte. “Sehr wohl, Herr Fiedler. Eine schöne Nacht wünsche ich.” Nach einer dezenten Verbeugung drehte er sich um und schritt davon in Richtung der erleuchteten Fenster des Schlossgebäudes. Einen Moment lang sah ihm Fiedler nach. Dann machte er sich  daran, das Metallröhrchen zu öffnen, in dem sich wie erwartet eines der edlen Zigarillos befand, die der Burgherr gelegentlich seinen Gästen zu präsentieren pflegte. Ehrlich gesagt wäre dem Detektiv der Sinn gerade mehr nach einem guten Schluck Whisky gestanden, vielleicht auch nach etwas zu essen. Allerdings war aktuell nichts davon greifbar - und wenn er schon den Zigarillo hatte, dann konnte er ihn auch ebenso gut rauchen. Aus einer seiner Jackentaschen fingerte er ein wundersamerweise trocken gebliebenes Sturmfeuerzeug und während er den Tabak anpaffte, begannen seine Gedanken wieder zu schweifen.

Der Tag hatte ihm härter zugesetzt, als er es sich eingestehen wollte: Fast zwanzig Stunden waren nun vergangen, seit Sina in seinem Büro aufgetaucht war. Zwanzig Stunden, in denen Kontakte aufgesucht, Um- und Abwege genommen, Entscheidungen getroffen und Gefallen eingefordert werden mussten - und irgendwie war er seit der Szene im Lift eigentlich ständig auf der Flucht vor übermächtigen oder nicht greifbaren Gegnern. Bei der letzten Konfrontation am Seelenbrunnen hatte er dann nicht nur Steinmeier verloren (verdammt, Steinmeier!), sondern auch noch Sina und zudem jegliche Klarheit, die sein aktueller Auftrag eigentlich gehabt hatte. Es wurde höchste Zeit, mit dem Weglaufen aufzuhören, ein wenig Initiative zu ergreifen und in die Offensive zu gehen. Allein wie?

Editorial: Wunschzettel

Bevor ich irgendjemanden allein durch das Auftauchen des Begriffs "Editorial" erschrecke: Keine Sorge, wenn die Server von Blogger nicht zusammenbrechen, gibt es am Dienstag sicherlich die nächste Episode.

Allerdings ist es in der Tat so, dass sich die Geschichte dem Ende zu neigt. Gestern hat mit "23. Auf ein Wort" das vorletzte Kapitel angefangen - und ich mache mich daran, das letzte Kapitel ("24. Auf ein Andermal") vorzubereiten.

Zeit also, eine Möglichkeit des Webs als Medium zu nützen: Die Option des Feedbacks. Nein, ich möchte jetzt noch nicht wissen, ob euch VoxSolis gefallen hat - das Frustrationsrisiko ist mir zu hoch und das letzte Kapitel eben noch nicht geschrieben. Vielmehr möchte ich euch die Gelegenheit geben, mir Stichworte zu geben, welche offenen Fragen ihr im letzten Kapitel noch beantwortet haben wollt. Vielleicht löst sich in Nr 23 noch etwas auf - aber im ermutige euch einfach mal zum Sammeln.

Wenn ihr einen Vorschlag habt, schreibt ihn einfach als Kommentar zu diesem Post (die lassen sich auch wieder hochscrollen). Natürlich kann und will ich nicht alle Fragen beantworten (Fiedlers Steuernummer und Sinas Wahrer Name sind privat), aber ich verspreche, mir jede halbwegs nachvollziehbare Anfrage zumindest zu überlegen.

Viel Spaß noch mit den letzten beiden Kapiteln!

23. Auf ein Wort (1)

Obwohl das Wasser nicht mehr in Strömen vom Himmel herabprasselte, wehte der Wind unablässig feinen Nieselregen aus der petrolenen Schwärze des Nachthimmels herab. Längst hatte die Nässe den Kragen von Fiedlers Lederjacke durchdrungen und sickerte klamm und feucht über Hals, Schultern und Rücken des Privatdetektives. Düster, wehrhaft und mächtig ragte wenige Schritte vor ihm die Burgmauer und dahinter der mächtige zinnen- und turmbewehrte Schatten des Durnburger Schlosses auf, während er hier als einsame Gestalt vor einem Seitentor am Rande des nächtlich leeren Besucherparkplatzes stand und wartete.
Mehrfach hatte er auf dem Weg aus den Tiefen der Unterstadt hinauf bis zum Burgberg in der Mitte der Stadt den Impuls unterdrücken müssen, seine Schritte zu verlangsamen oder gar umzukehren. Nun aber gab es kein Zurück mehr: Er hatte angeklopft. Jetzt zu verschwinden würde wie Feigheit oder ein äußerst deplatzierter Klingelstreich wirken - und es würde ihm in keiner Weise helfen. Weder wollte Fiedler als feige gelten, noch einen kindischen Scherz beim Burgherren und beim Rat von Durnburg wagen - eine absurd törichte Idee. Am meisten wollte er aber die Misere in der Sache mit Unbehaun, Sina, der Kirchner und Steinmeier beheben. Also wartete er hier am von dem Einwohnern der Realität wahrscheinlich völlig unbeachteten Nebeneinlass und ertrug er den nasskalten Nachtregen und seine schmerzenden Füße.
Zu Fiedlers stiller Erleichterung dauerte es nicht lange, bis sich in dem massiven schwarzen Torflügel vor ihm eine menschengroße (oder vielmehr -kleine) Türe öffnete, aus der weiches wenn auch spärliches flackerndes Licht fiel. Durch das so entstandene hinreichend erleuchtete Rechteck lehnte sich eine menschliche Silhouette, die in der einen Hand eine leicht antiquiert aber edel wirkende Öllaterne hielt und die andere in einer einladenden Geste ausstreckte. Wie bei allen Bediensteten des Burgherren, waren die Gesichtszüge der Gestalt hinter einer schlichten weißen Theatermaske verborgen, die nur den Bereich um Mund und Kinn freiließ. Diesen sichtbaren Bereich nutzte der Maskenträger jedoch für ein freundliches Lächeln, das die von einem gepflegten kurzgestutzen Bart umrahmen Lippen umspielte.
“Herr Fiedler nehme ich an? Sie werden bereits erwartet. Treten Sie doch bitte ein und kommen Sie ins Trockene!”

Der höflichen Einladung des maskierten Dieners folgend, trat Fiedler vorsichtig durch die Türe im Burgtor hinüber auf den Schlosshof. Wie er es aus Erfahrung erwartet hatte, brachte dieser Schritt deutlich mehr Veränderung mit sich als ein gewöhnlicher Ortswechsel: Hinter Tor und Mauer hörte der Regen schlagartig auf, als würden die Befestigungen Wolken und Wetter einfach draußen halten. Stattdessen funkelten unzählige Sterne am Himmel und ein leichter Wind spielte sanft mit der lauen Nachtluft. Das Schloss war die Domäne des Burgherren. Hier gestaltete sich die Welt so, wie er es wollte - seien es Wetterlagen oder Räumlichkeiten. Jedoch hielt sich Fiedlers Begeisterung über dieses Wunder in Grenzen, da er auch die Schattenseiten dieses Zaubers kannte: Wenn der Burgherr es wünschte, blieb der Regen draußen - oder aber ein unfreiwilliger Gast ausweglos drinnen. Immer noch nass und frierend knirschte Fiedler mit den Zähnen und korrigierte sich: Jetzt erst gab es kein Zurück mehr.

Editorial: Sorry, es muss nochmal anders

Es tut mir leid, liebe Leserschaft, aber ich muss Kapitel 24 nochmal gänzlich umdrehen, sonst wird es
a) langweilig zu lesen
b) nicht schreibbar weil zu kompliziert.

Ich bitte um Geduld!

Editorial: Verzug und neue Schreibunterlage

Verzug

Hallo liebe Leserschaft! Einmal mehr muss ich euch ein wenig vertrösten und um euren Lesestoff prellen, denn einmal mehr bin ich in den letzten Wochen mit ca. 100.000 Dingen beschäftigt gewesen, die nicht VoxSolis waren. Nicht verzagen und vor allem nicht den RSS-Feed abbestellen oder alternativ nächsten Dienstag und Donnerstag hier mal kurz vorbeiklicken, denn ich verspreche, euch nicht hängen zu lassen. Es geht noch weiter - mindestens 2 Kapitel!

Neue Schreibunterlage

Lange hat mir mein HP Döschen brave Dienste geleistet und nur selten ein bisschen gestreikt (dämliche Hybridgrafiklösung!). Jetzt aber ist seine Zeit gekommen und ich bin auf ein schickes, schlankes, komfortables und vergleichsweise schnelles Asus Ultrabook umgestiegen (ohne Hybridgrafik). Mal sehen, ob ich Fiedler, Sina, Unbehaun und Brack mit dem Antrieb eines eleganten Haswell-Prozessors eleganter ins Ziel bekomme - für Steinmeier kommt die Rettung ja leider zu spät.

Bis also zum nächsten Mal!

22. Resolution (4)

Samedis Grinsen wurde von einem Ausdruck gespielter Verwunderung überlagert. “Aber natürlich nicht!” Er streckte seine Hand aus und als er Finns hängende Leiche berührte, gab es ein leises Knistern und in einer Wolke aus Knochen, Zähnen, Kleidung und Staub fielen alle sterblichen Überreste mitsamt dem im Nichts aufgehängten Seil zu Boden. “Vielleicht überlege ich es mir noch anders, aber wer mich betrügt, der rechnet doch sicher auch mit den Folgen... Das wäre ja fast so, als würde ich wortbrüchig. Sag mal, mein Vögelchen, willst oder kannst du aus deinem Käfig nicht ausbrechen?”

Fiedler wurde aufmerksam, als Sina sich vor ihrer Antwort auffällig intensiv im Raum umsah. Suchte sie jemanden? Unbehaun? Ihn? “Um ehrlich zu sein - weil du das ja so schätzt - hält mich dieser Bannkreis bis morgen abend sicher hier drinnen fest. Vorher entfliehen könnte ich allenfalls, wenn mich meine Beschwörer vorher von meiner Pflicht entbinden. Interessanterweise hält der Kreis auch diesen aufgeblasenen Magier und seine Konsorten draußen und bevor der Kreis fällt, können sie mir nicht mit weiterer Hexerei zu Leibe rücken. Du… “ sie musterte den Loa “... übrigens auch nicht.”

Scheinbar war auch der Loa in der Lage, eine Provokation zu ignorieren, denn er behielt das Lächeln und rückte sich mit der Hand stattdessen seinen Zylinder zurecht. “Nun, wenn du meine Nähe weder genießen kannst noch willst, mache ich mich doch einfach auf und gehe meinen Geschäften nach. Das Gefühl des Alleinseins kennst du ja - und wenn dich deine sterblichen Herren nicht vorher erlösen, wird der Magier morgen sicher da sein, um dich mit neuen interessanten Erfahrungen bekannt zu machen.” Er machte einen Schritt zurück und vollführte eine ungelenke aber doch irgendwie elegante Verbeugung, wobei er den Zylinder leicht anhob. “Ich empfehle mich also.” Dann schlenderte er gelassen in die Dunkelheit um den Brunnen, offenbar ungerührt von der Präsenz der Finstervögel.

Es war Fiedler klar, dass Unbehaun zurückkommen würde und dass er dann am besten nicht mehr hier sein sollte. Trotzdem musste er mit Sina reden. Er eilte zum Bannkreis.

“Sina!” Da sie sein Kommen allen Anscheins nach nicht bemerkt hatte, sprach er sie laut an. Die Beschworene reagierte nicht. Merkwürdig. Normalerweise klang die Wirkung einer Gabe nach dem Tod eines Grenzgängers rasch ab - trotzdem schien Steinmeiers Weg-Seh-Effekt immer noch um ihn zu liegen. Konnte Steinmeiers Seele das von der Kapsel aus bewerkstelligen?  “Steinmeier, ich will mit ihr reden!” Widerwillig sprach Fiedler mit der Kapsel in seiner Hand, doch nichts änderte sich. Keine Zeit für Experimente. Fiedler drehte sich um und schickte sich an zu gehen. Dann hielt er an Steinmeiers zu Staub und Knochen zerfallenen Überresten an, bückte sich und hob seine Taschenlampe auf, bevor er weiter in Richtung der kleinen Türe in der Wand eilte, durch die sie das Gewölbe ursprünglich betreten hatten.

Er hatte schon immer die unauffälligen Ein- und Ausgänge den pompösen Portalen vorgezogen…

Bei der Fortsetzung dieses Gedankens kam ihm ein Geistesblitz und er beschloss, wem er dringend einen Besuch abstatten musste, sobald ihn die Ratten zurück an die Oberfläche geführt hatten.

22. Resolution (3)

Bevor Fiedler vollends realisieren konnte, was gerade geschehen war, erfüllte das wütende Aufröhren eines zornigen Voodoo-Gottes das Gewölbe. Mit geballten Fäusten stand Samedie vor dem Gehängten, seine Augen strahlten in schmerzhaft gleißendem weißem Licht und er brüllte laut auf. “Steinmeier! Rabenaas! Madenfraß! Ich werde dich kriegen, denn ich kriege jeden!”

Aus den Augenwinkeln bemerkte Fiedler, wie Brack und die Leute von Mitternacht eilig angesichts des tobenden Loas die Flucht ergriffen und in unterschiedliche Richtungen den Raum verließen. Mit aller Besonnenheit, die er aufbringen konnte, unterdrückte Fiedler den Reflex, ebenfalls hastig zu fliehen. Statt dessen beugte er sich zu Boden und hob die Seelenkapsel auf. Möglicherweise war Steinmeier gar nicht verrückt gewesen, sich zu opfern. Möglicherweise folgte er einem Plan - und Fiedler hatte nicht die Absicht, diesen Plan von vorneherein scheitern zu lassen. Außerdem schuldete er Giorgio die Seelenkapsel.

Währenddessen war Sina ungerührt (und wohl auch notgedrungen) in ihrem Bannkreis stehengeblieben und blickte dem Baron gelassen und etwas abschätzig ins Gesicht. Fiedlers Detektivverstand arbeitete: Eine Wesenheit wie Sina hatte von sich aus kein Interesse an den politischen Machtspielchen in Durnburg. Sie musste von jemand beschworen und beauftragt worden sein - nur von wem?

Plötzlich herrschte Stille im Raum. Fiedler sah auf. Der Loa stand immer noch in der gleichen Pose vor Steinmeiers totem Körper, doch aller Zorn war aus seinem Gesicht gewichen. Statt dessen machte sich dort ein schauriges Grinsen breit und breiter. Erst vereinzelt und zäh, dann heftig und brodelnd, wie Blasen aus einer Teergrube, begann der Ghede zu lachen. Weiterhin regungslos sah ihn Sina an und zog leicht indigniert die linke Augenbraue hoch. Sie sagte etwas, das Fiedler über das schallende Gelächter hinweg nicht verstehen konnte. Sofort ebbte das unmäßige Lachen ab und der großgewachsene schwarze Loa wandte sich zu der vergleichsweise fragil wirkenden gefangenen Sina um.

“Natürlich kann ein kleiner Menschengeist wie du meine Erheiterung nicht verstehen! Weißt du, Shi’anha, wenn man ein echter Loa ist, mit Volk und Anhängern und kein halbvergessener böser Geist wie du, dann muss man sich nicht immer so ernst nehmen. Und mal ehrlich - dieser Steinmeier Rabenaas Madenfraß hat mich nach Strich und Faden so gehörig verarscht, dass ich es fast schon wieder gut finde!” Er grinste jovial.

Es gelang Sina offensichtlich, die Provokation zu überspielen. “Ah. Ich nehme dann an, dass du ihn in deiner berühmten Gnade dann auch gehen lässt und ihm seinen Körper ohne alberne Tricks zurückgibst?”

22. Resolution (2)

Als seine Blicke zu den drei ursprünglichen Aggressoren zurückkehrten, hatten sich die Mitternachtsschläger gänzlich von ihm abgewandt und schienen sich mehr auf Brack und Sina als mögliche Bedrohungen zu konzentrieren. Auch Brack und Victoria Thomas hatten offenbar das Interesse an Fiedler verloren und ihren Fokus auf die immer noch stur und stolz dastehende Sina verschoben. Entweder hatte er etwas verpasst oder…

Fiedler hätte sich ob seiner Begriffsstutzigkeit am liebsten geohrfeigt. Steinmeier! Das musste das Werk seiner Gabe sein. War es ihm nicht vorher auf der Neuen Schlosserbrücke auch gelungen, Fiedler in seiner Aura der abgewiesenen Aufmerksamkeit verschwinden zu lassen? Offenbar verbarg sich der Neu-Grenzer irgendwo im Raum - wahrscheinlich in der verbleibenden dunklen Wolke in der Nähe des Seelenbrunnens - und hatte ihm diesen Vorteil der relativen Unsichtbarkeit verschafft. Respekt, das war ein taktisch kluger Schritt, den er dem Ex-Schauspieler gar nicht zugetraut hätte. Wenn er so weitermachte…

In diesem Moment brach aus der schwarzen Wand aus Finsternis, die den Brunnen immer noch umgab, ein schreiender Finn Steinmeier in vollem Lauf hervor, wild mit den Händen gestikulierend, in denen er Giorgios Seelenkapsel hielt. Atem- und fassungslos starrte ihm Fiedler entgegen, als sich die Dunkelheit hinter Steinmeier noch einmal auftat und einen offensichtlich erbosten Baron Samedi ausspie. Der Ghede bewegte sich entschlossen und mit gemessenen aber weit ausgreifenden Schritten, von denen jeder ungeachtet der Gesetze von Zeit und Raum die zwei- bis dreifache Strecke zurücklegte, die Steinmeier in der gleichen Zeit im vollen Spurt bewältigen konnte. Immer noch überrannt von der bizarren und rapiden Entwicklung der Situation rang Fiedler um eine geeignete Reaktionsmöglichkeit. Auch Brack und die Leute von Mitternacht schienen zumindest den wütenden Loa zu bemerken, denn ob sie ihn nun als den erkannten, der er war oder nicht, prallten sie zurück und versuchten, dieser neuen, schwer kalkulierbaren Bedrohung tunlichst aus dem Weg zu gehen.

Steinmeier schaffte es gerade einmal bis zur Mitte des Raumes, bis Samedi ihn eingeholt hatte. Wie ein gnadenloser schwarzer Haken aus Ebenholz packte Samedis Linke Steinmeiers Hals und holte den scheinbar panisch fliehenden ruckartig von den Beinen. Dabei gelang es diesem aber irgendwie noch, das verbleibende Momentum seiner Flucht nutzend die Seelenkapsel in Fiedlers Richtung zu werfen. Dann hatte der Loa den viel kleiner wirkenden Finn Steinmeier zu sich herangerissen. Er sagte etwas und lachte anzüglich. Von seinem Standpunkt konnte Fiedler Steinmeiers Reaktion nicht erkennen. In jedem Fall wich die Erheiterung rasch aus der Miene des Barons und er griff mit der rechten nach oben, wo unerklärlicherweise mit einem Mal ein Seil mit einer Henkersschlaufe hing. Ohnmächtig einzugreifen sah der Detektiv zu, wie Samedi mühelos Finn hochhob und mit einigen knappen Worten am Hals in die Schlaufe aufhängte. Just in diesem Moment stieß etwas gegen Fiedlers Fuß. Reflexartig nach unten blickend erkannte er, dass die Seelenkapsel unmittelbar vor ihm zum Liegen gekommen war. Als er wieder aufsah, baumelte Finns Körper leblos am Henkersseil. Der Loa war einen Schritt zurück getreten und betrachtete unzufrieden abwartend sein Werk. Ohne es zugeben zu wollen, war Fiedler ein wenig dankbar, dass der Loa Steinmeier wenigstens einen raschen Tod zugedacht hatte - aber was war das schon im Vergleich zu den Dingen, die er ihm nach seinem Ableben würde zufügen können.

Vor seinen Füßen erklang ein sattes mechanisches Schnappen, als sich die Seelenkapsel hinter einer soeben eingefangenen Seele schloss.

22. Resolution (1)

Sollte er die Gelegenheit haben, diesen Tag noch einmal von vorne zu beginnen, nahm sich Fiedler fest vor, den Wecker zu ignorieren und einfach im Bett liegen zu bleiben. Jede Situation in die er geriet, schien vertrackter und unangenehmer zu werden als die vorangegangene: Erst war er vor den Männern seines eigentlichen Auftraggebers geflohen, dann hatte es ihn in diese gruselige Totenkultkathedrale in der Unterstadt verschlagen, wo er mangels besseren Plans das schwächste Gruppenmitglied an einem fiesen Geist vorbei in Richtung Totenreich gehen lassen musste. Eigentlich hätte schon das Auftauchen von Victoria Thomas mit ihrer Mitternachtsschlägertruppe nicht sein müssen, aber der Auftritt von Unbehaun und Brack war nun wirklich überflüssig gewesen. Dabei wäre die Situation so schön einfach gewesen, wenn sich Unbehaun einfach geradeheraus auf den Vertrag berufen hätte - aber nein, Unbehaun hatte ihn in offensichtlichem Misstrauen erst einmal ignoriert, dann mit einem Trick Sina festgesetzt und sie als Betrügerin des Vertragsdiebstahls bezichtigt.

Überhaupt: Sina! Wie konnte man die Anweisung, sich zu verstecken und den Kopf unten zu halten denn so interpretieren, dass man eine gegnerische Kämpferin ausschalten und sich als sie ausgeben müsste? Das musste doch schief gehen! Die Krönung hatte sie aber mit ihrem letzten Schachzug geliefert: Gebunden an den Vertrag, galt sie als Unbehauns Vertreterin und war weisungsbefugt wie dieser in Person. Wenn sie ihm also befahl, die Seele der Kirchner vor Unbehaun und Mitternacht zu retten, dann musste er das zumindest versuchen, so wenig Sinn das aus Sicht des echten Unbehauns auch machen mochte. Dank Sinas letzter (zum Glück) Anweisung konnte Unbehaun den Befehl ja noch nicht einmal zurücknehmen. Dafür war Fiedler jetzt zwischen allen Stühlen gestrandet, gebunden an einen nicht mehr einlösbaren Vertrag ohne klar definiertes Endkriterium.

Na ja, mit etwas Glück würden Mitternachts drei Männer fürs Grobe ihn möglichst non-lethal außer Gefecht setzen. Das würde wahrscheinlich Brack genug Zeit geben, Steinmeier die Seelenkapsel abzuknöpfen, wenn dieser wieder aus dem Dunkel um den Brunnen trat. Nicht zu vergessen war dabei aber, dass es weiterhin mehr als fraglich blieb, ob es Finn überhaupt schaffen oder auch nur überleben würde, die Seele mit der Seelenkapsel aus dem Brunnen zu holen und zurückzubringen. Was für ein wahrhaftig beschissener Tag!

Mit grimmigem Gesicht ließ Fiedler seine Finger möglichst geübt mit dem Messer in seiner Hand spielen und versuchte eindrucksvoll und ernstzunehmend zu wirken. Zu seiner großen Verwunderung schien er damit sogar Erfolg zu haben, denn auf einmal bekamen die drei Schlägertypen, die zuvor fies feixend auf ihn zugehalten hatten einen dümmlich verunsicherten Gesichtsausdruck und wandten sich ab. Reflexartig blickte sich Fiedler um. Hatte sich etwas in seinem toten Winkel ergeben, das die drei Männer abgelenkt hatte? Nein, zumindest so weit er es erkennen konnte, war die Szene neben und hinter ihm noch unverändert und allenfalls so einschüchternd, wie es eben eine feuchte Sandsteinwand in einem unterirdischen Gewölbe sein konnte.