21. Eskalation (8)

Finns Aufmerksamkeit war hin und her gerissen zwischen dem Geschehen am Bannkreis und dem jovialen Geschwätz seines unsterblichen Todfeindes in der Kirchenbank. Von Sinas Reaktion auf Unbehauns Anweisung wurde er daher völlig überrascht. Immer noch in ihrer stolzen aufrechten Haltung verharrend, wandte sie sich zu Victoria Thomas und neigte den Kopf ein wenig, bevor sie völlig entspannter und ruhiger Miene doch donnernd lauter Stimme Anweisungen von sich zu geben begann: “Fiedler! Die Seele darf nicht in die Hände von Unbehaun, Libra et Liber oder Mitternacht geraten! Alle weiteren Weisungen von Ebenezer Unbehaun oder mir sind nichtig im Sinne Ihres Vertrages! Unbehaun steht im Dunkel in Richtung…”
“Geist schweig still!” Unbehauns Stimme knisterte vor Wut, als er den Befehl brüllte und Sina verstummte gehorsam mitten im Satz.
Neben Steinmeier lachte leise der Ghede guttural vor sich hin, während in Finns Kopf erneut die Gedanken zu rasen begannen. Es ging um Astrids Seele. Astrids Tod war sein Verschulden gewesen und ihre Rettung hätte auch seine Rettung sein sollen. Unbehaun, Mitternacht und überhaupt all diesen Grenzergruppen war es aber nur an der Macht gelegen, die der Besitz von Astrids Seele scheinbar mit sich brachte. Von Astrids Wiederkehr oder überhaupt von der Person Astrid sprach keiner. Bis vor ein paar Momenten hatte es so ausgesehen, als müsste sein Vorhaben scheitern, Astrid aus dem Totenreich zu erlösen. Nun aber hatte Sinas Schachzug eine neue Möglichkeit, eine neue Partei in diesem Spiel erzeugt, die Astrid zumindest an zwei machtgierige Bünde nicht ausliefern durfte und der Finn zumindest mehr vertraute als allen anderen hier im Raum: Alexander Fiedler, Privatdetektiv und vielleicht Astrid Kirchners und Finn Steinmeiers letzte Hoffnung.
Jetzt musste Fiedler nur noch mit Astrids Seele hier lebend herauskommen. Ein heroischer aber eigentlich undenkbarer Plan begann in Finn Steinmeier zu reifen. Unsicher blickte er zu Fiedler an die andere Wand, auf den gerade die drei verbliebenen Handlanger von Victoria Thomas entschlossenen zustapften. Er konzentrierte sich ein bisschen. Nichts geschah. Er sah zum Ghede hinüber, der dem Geschehen am Bannkreis folgte, als wäre es ein Fussballspiel. Er konzentrierte sich noch einmal, diesmal aber so gut er konnte. Die Schläger von Mitternacht zögerten, hielten inne und sahen sich zu ihrer Chefin um, die sich mit ebenfalls leicht verunsichertem Gesichtsausdruck zu Sina zurückdrehte und wirkte, als hätte sie vergessen, was sie eigentlich tun wollte. Auch der mitten im Raum stehende Brack lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu den Schergen von Mitternacht.
Finns Plan konnte funktionieren - aber zu welchem Preis. Er zögerte -  unsicher, ob er den nötigen Mut aufbringen konnte, ob er alles auf eine Karte setzen durfte. Aus der Kirchenbank ein abfälliges Schnauben: “Es wird langsam langweilig, Finn. Was meinst du? Wollen wir zwei unser begonnenes Spielchen zu Ende bringen?”
Nervös, ängstlich und unschlüssig die Hände in den Jackentaschen vergrabend fanden Steinmeiers Finger etwas kühles, mechanisch Tickendes - die Seelenkapsel. Dann erklang plötzlich wieder Astrids Stimme in seinem Kopf. “Es wird geschehen, wenn du es so willst. Aber - bitte - tu es nur, wenn du es wirklich willst!”
Finn entschied und sein Entschluss stand fest. Mit fester Hand umfasste er die metallische Seelenkapsel, nahm sie aus seiner Tasche und entriegelte die beiden Hälften. Dann rannte er los.

21. Eskalation (7)

In einer Staubwolke und begleitet von dem Geräusch eines aufzischenden Überdruckventils (oder einer wirklich großen, wirklich wütenden Katze?) löste sich die erstarrte Gestalt der Bogenschützin auf. Sekunden später war an deren Stelle vor den ungläubigen Augen von Victoria Thomas Sinas gewohnte schwarz gewandtete Silhouette manifestiert. Unbehaun hatte Recht gehabt! Die blonde Kämpferin war Sina gewesen! Steinmeiers Gedanken machten einen Schritt weiter und er schauderte. Wenn diese Laurie Stance nicht die echte Laurie Stance gewesen war, dann lag diese einen Quergang weiter leblos (tot?) zwischen den Bänken. Das war dann wohl Sinas Werk gewesen. Hatten Beschworene so etwas wie Menschlichkeit und Gewissen - oder spielten sie das nur? Und...
Unbehaun sagte etwas Selbstgefälliges, aber Steinmeier hörte nicht hin. Das Einzige, was er gerade wahrnahm, war eine hochgewachsene Gestalt mit matt schwarzem Anzug, glänzend schwarzer Haut und Zylinderhut, die in entspannter und unterschwellig obszöner Haltung neben ihm auf einer der Kirchenbänke räkelte und ebenfalls dem Geschehen zusah. Samedi war da.
Starr vor Angst konnte Finn dem kehligen leisen Lachen des Ghede nicht entgehen. “Was für ein ergötzlicher Anblick. Nur ruhig, Finn Steinmeier, die Sache mit uns hat noch ein paar Atemzüge Zeit. So lange du hier bleibst und die gute Shi’anha nicht daran hinderst sich zu versklaven, werde ich dir vorerst nichts tun. Man soll einen Feind niemals dabei unterbrechen, einen Fehler zu machen!”
Mühsam rang Steinmeier nach Worten. “Wie lange… warum?” Doch der Ghede gebot ihm mit ausgestrecktem Finger an den gespitzten Lippen zu schweigen und irgendetwas in ihm musste dieser Aufforderung gehorchen.
Draußen im Dämmerlicht hatte sich der Staub um Sina gelegt. Die Beschworene stand in aufrechter trotzig stolzer Haltung inmitten des immer noch glimmenden Bannzeichens und sah stur schweigend geradeaus.
“Sind Sie sicher, dass der Bannkreis hält?” Zweifel schwangen in Victoria Thomas Stimme mit, doch Unbehaun klang seiner Sache sicher: “Selbstverständlich. Die Kreatur hat nur die Handlungsmöglichkeiten, die ich ihr gestatte. Wollen Sie sie möglicherweise fragen, was Ihrer Kollegin Stance widerfahren ist?”
Die Frau von Mitternacht zögerte, nickte und wandte sich an Sina. “Was hast Du mit Laurie Stance gemacht, deren Gestalt du angenommen hattest?”
Unverändert schwieg Sina, doch in ihren Augen ballte sich Ärger. Es verging ein Moment, dann fiel Unbehauns Stimme herablassend und mit einer kaum bemerkbaren Spur Amüsement ein. “Geist, ich gestatte Dir zu sprechen!”
Neben Steinmeier entrang sich Samedi eine neuerliche Woge der Erheiterung. “Ah, der aufgeblasene Zauberhut wird überheblich und unvorsichtig! Wenn das keine Folgen hat, muss die Zeit der guten Shi’anha ganz schön zugesetzt haben.”

21. Eskalation (6)

Einmal hatte jede Klinge das silberne Band hinter einer ihrer Schwestern durchkreuzt und stand nun von unsichtbarer Hand gehalten auf der Spitze am ursprünglichen Ausgangspunkt ihrer übernächsten Nachbarin. Das Ergebnis dieses Platzwechsels ergab ein präzise gezeichnetes leuchtendes Pentagramm am Boden um die nunmehr erstarrte blonde Kämpferin. Unvermittelt setzten sich die Dolche wieder in Bewegung und begannen, in langsamer stetiger Bewegung einen Kreis durch die Ecken des von ihnen aufgespannten Drudenfußes zu ziehen - diesmal ohne innezuhalten. Während sich der der fast bewusstlose Brack mühsam und schwerfällig aus dem Wirkungskreis der magischen Klingen brachte, häuften sich in Finns Kopf die Fragen: Was sollte das alles nun wieder? Eine weitere Partei in diesem irrsinnigen Streit? Wollte Unbehaun den von ihm angebotenen Handel und Vertrag brechen?
Ähnliche Gedanken schienen sich Victoria Thomas, der Agentin von Mitternacht, aufzudrängen. Einen Beutel in der Hand wägend, den sie gerade aus ihrer Tasche geborgen hatte, sah sie sich mit ärgerlicher Miene um. “Unbehaun! Sie Heuchler! Lassen Sie sofort Ihre dreckige Hexerei von meiner Duellantin! Der Kampf ist vorbei, Ihr Schwertschwinger hat trotz aller Tricks zuerst geblutet und liegt dazu noch am Boden. Nehmen Sie Ihre Niederlage hin wie ein Mann oder die Memme, die Sie eben sind, und heben Sie Ihre Magie auf!”
Immer noch sachlich gelassen und von nirgendwo und überall kam Unbehauns Antwort: “Einmal mehr befinden Sie sich im Irrtum, Frau Thomas: Das vereinbarte Duell hat noch nicht einmal begonnen. Zwar ist der von mir benannte Vertreter angetreten, die Duellantin von Mitternacht, benannt als Laurie Strance, hat aber an der Kampfhandlung bislang nicht teilgenommen. Ebenfalls möchte ich sehr hoffen, dass die Entität dort im Bannkreis nichts mit dem ehrbaren Haus Mitternacht zu tun hat.” Im Hintergrund zerbrach Brack den Pfeil in seiner Schulter und riss sich schmerzverzerrten Gesichts beide Hälften aus dem Körper.
Victoria Thomas Ärger war zu Empörung abgeklungen und Skepsis klang in ihren Worten. “Wie bitte? Behaupten Sie gerade, diese Person dort”, sie wies auf die erstarrte Bogenschützin, “wäre nicht Laurie Stance?”
Eine ungute Vorahnung reifte in Finns Unterbewusstsein heran, als Unbehaun gewohnt gelassen antwortete. “Korrekt. Dieses Wesen dort ist ein in Form Ihrer Frau Strance manifestierter Geist, den meine Leute und ich bereits seit einiger Zeit verfolgen. Scheinbar hat sich die Kreatur als meine Vertreterin ausgegeben und versucht, in meinem und damit Libra et Libers Namen die Kontrolle über die Seele und das Orakel an sich zu reißen.”
“Beweisen Sie das!”
“Nichts leichter als das. Sie müssen sich nur kurz gedulden, denn lange wird die Verzauberung aus dem Schwert einem Beschworenen dieser Machtstufe nicht zu schaffen machen.” Mittlerweile hatte sich Brack aufgerafft und sich in Richtung der anderen Männer von Mitternacht gewandt, die dem Geschehen unschlüssig aber latent aggressiv zusahen und wahrscheinlich auf ein Zeichen ihrer Anführerin warteten.

Steinmeiers Gedanken kreisten um Unbehauns Worte. Sina konnte ihre Gestalt wandeln, das hatte er gesehen. Warum sollte sie sich nicht in diese Bogenschützin verwandeln? Aber als was sollte sich Sina ausgegeben haben? Erneut verfluchte er diese grenzerische Heimlichtuerei. Hatte Fiedler von der Sache gewusst? Finns Blick schweifte durch den Raum hinüber zu dem immer noch an der Wand stehenden Detektiv. Auf die Entfernung war dessen Gesichtsausdruck für ihn nicht zu erkennen, aber seine Körperhaltung signalisierte, dass auch er die Dinge aufmerksam verfolgte.

21. Eskalation (5)

Unmittelbar nach dem Ausruf begannen Netze rot flirrender Entladungen entlang der Klinge zu tanzen, während die Waffe weiter in die Wunde eindrang. Die Reaktionen auf diese Entwicklung geschahen parallel und Steinmeier hatte Schwierigkeiten, ihnen zu folgen. Nahezu gleichzeitig mit dem Eintreten des Lichteffektes ließ die blonde  Bogenschützen mit der ihr eigenen übernatürlichen Flinkheit Bogen und Pfeil fallen und griff mit einer Hand nach dem Schwertgriff während die andere in Richtung von Bracks Gesicht schnellte. Dann schossen plötzlich aus verschiedenen Richtungen grob eine Handvoll glänzender Objekte (Finns Unterbewusstsein registrierte fünf) auf die beiden Kämpfer zu, schlugen aber wider Erwarten nicht in eines der beiden Ziele ein, sondern gingen in gleichmäßigem Abstand von etwa zwei Schritt Entfernung zu Boden.
Mehr aus dem Augenwinkel registrierte Steinmeier, dass zumindest diese letzte Entwicklung wohl auch die etwas abseits stehende Frau mit dem Regenschirm zu beunruhigen schien. Ihr Gesichtsausdruck wirkte verwirrt und zunehmend empört.Sie musste bereits zuvor den ursprünglich aufgespannten Regenschirm eingeklappt und gesenkt haben. Nun begann sie hastig in ihrem großen dunkelgrünen, mit seltsam gemusterten Flicken besetzten Messengerbag zu wühlen, ohne den Blick von dem verbissenen aber nach den vereinbarten Regeln beendeten Kampf abzuwenden.
In der Tat floss das erste Blut reichlich - und zwar aus der Schulter des vom Pfeil durchbohrten Lukas Brack. Dieser machte aber dennoch keinerlei Anstalten, von seiner trotz Schwert und Blitzgewitter immer noch nicht blutenden Gegnerin abzulassen. Konnte man die Gabe haben, nicht zu bluten? Damit wäre die Bogenschützin natürlich prädestiniert für ein solches Duell. Zusammen mit der gerade demonstrierten Geschwindigkeit, ergäbe das eine ideale Voraussetzung. Als die Hand der Kämpferin mit der Stirn des sich wegduckenden Brack harten Kontakt machte, fiel Steinmeier allerdings auf, dass auch die blonde Frau nicht mehr unbeeinträchtigt schien. Wenngleich Brack von ihrem Treffer mit enormer Wucht zurückgeschleudert und von den Beinen geholt wurde, wurden ihre Bewegungen von einem Moment zum anderen langsamer und ungelenker. Seltsamerweise schien sich auch die zuvor seidig glatte Oberfläche ihrer Kleidung zu verändern und auch im diffusen quellenlosen Dämmerlicht des unterirdischen Gewölbes rauer und matter zu werden. Das gleiche galt irgendwie auch für ihre Gesichtszüge.
Etwa in dem Moment, in dem Brack zwei Meter weiter krachend zu Boden ging, das rote Funken sprühende Schwert immer noch in der Hand, erwachten die zuvor herbeigehuschten fünf metallisch glänzenden Objekte zum Leben. Auf den zweiten Blick erkannte Finn, dass es sich um kunstvoll geschwungene Dolche handelte, die in einem Kreis mit der Kämpferin als Mittelpunkt zum Liegen gekommen waren. Jetzt ging zunächst ohne Vorwarnung ein silberner Blitz von jedem von ihnen aus, dann setzten sich die Klingen rasch in Bewegung, wobei sie eine glimmende Spur hinter sich her zogen. Diese Entwicklung zog offenbar die Aufmerksamkeit der blonden Kämpferin in ihrer Mitte auf sich, denn sie ließ sofort von Brack ab und versuchte, zu dem ihr am nächsten gelegenen Dolch zu gelangen. Dabei unterlagen ihre zunehmend angestrengt wirkenden Bewegungen aber schließlich der unbarmherzig fortschreitenden Verlangsamung und mit einem leisen aber hohen und durchdringendem Flüstern erreichten die Klingen ihren Zielpunkt.

21. Eskalation (4)

Dann war auf einen Schlag die Dunkelheit vor ihm wie weggeblasen. Ohne Vorwarnung oder Übergang sah Finn in ein von trübem aber ausreichendem Licht erhelltes hohes Gewölbe, in dem wie in einer Momentaufnahmen die Eindrücke mehrerer im Raum befindlicher Personen auf ihn einströmten. Unmittelbar in seinem Sichtfeld stand eine junge Frau mittlerer Größe, in dunkles, glattes Leder gekleidet, den Arm ausgestreckt mit einem gespannten, gefährlich wirkenden Bogen in der einen Hand, die andere Hand am schussbereit aufgelegten Pfeil. Ohne große Unsicherheit nahm Finn an, dass das Laurie Strance war, die gerade das Ziel 'Lukas Brack' suchte, um ihren Reichweitenvorteil zu nutzen.
Unmittelbar hinter ihr, nicht mehr als zwei Meter entfernt in Richtung des immer noch von pechschwarzer Dunkelheit umhüllten Finstervogelschwarmes stand ein massiv und kantig wirkender Typ, unter und über dessen weiten Mantel mehrere klobige Rüstungsteile zu erkennen waren und auf dessen Rücken eine leere Schwertscheide baumelte. Die dazugehörige Klinge befand sich in den Händen des Mannes, der sich gerade dazu anschickte, sie in Laurie Strances Rücken zu treiben. Sollte es sich hier um Lukas Brack handeln, war es einerseits nicht weit her mit deren Reichweitenvorteil und andererseits würde das Duell bald vorbei sein. Offensichtlich hatte Unbehaun die Konditionen von Mitternacht nicht unüberlegt angenommen.
Die weiteren Personen im Raum - eine merkwürdige Frau mit weit geschnittenem Anzug und Regenschirm sowie drei Gestalten tiefer im Raum registrierte Finn nur nebensächlich. Sein Blick fand die Silhouette von Fiedler an die ihm gegenüberliegende Wand gepresst, doch wo er auch hinschaute, war keine Spur von Sina zu erkennen, zumindest nicht in der gewohnten Gestalt. Hatte sich die Beschworene wieder in einen Vogel, eine Fledermaus oder was auch immer verwandelt? Wieso ließ sie Fiedler so eindeutig im Stich?

Finns Gedanken beanspruchten Zeit, in der sich die Kampfszene wie in Zeitlupe vor seinen Augen entwickelte. Auf Bracks Gesicht lag ein merkwürdig widerwilliger Gesichtsausdruck, während sich seine Klinge rasch und unaufhaltsam dem Schwerpunkt der Bogenschützin näherte. Diese hatte den Hinterhalt wohl irgendwie bemerkt, denn sie begann sich umzudrehen. Es waren zwei Dinge, mit denen sie Finn dabei völlig verblüffte: Zum einen riss sie den Bogen mit unglaublicher, geradezu übermenschlicher Geschwindigkeit und Koordination herum und zum anderen war ihr nicht unattraktives von dunkelblonden Haaren umrahmtes Gesicht exakt das des leblosen Körpers am Boden des nächsten Querganges.
Immer noch in seiner Zuschauerrolle gefangen, wog Finn die Möglichkeiten ab. Ein Zwilling, dazu noch gleich gekleidet? Viel zu banal. Dem üblichen Wahnsinn dieser Grenzgängerwelt entsprach eher ein Agent einer weiteren Partei, der sich als Gestaltwandler in die Reihen von Mitternacht geschlichen hatte. Was auch immer, die Szene entwickelte sich vor seinen Augen weiter. Der Pfeil löste sich von der Sehne und durchbohrte auf kurze Entfernung Rüstung und Schulter des Schwertkämpfers, der sich überrumpelt und ungelenk wegzudrehen versuchte. Gleichzeitig stieß Bracks Schwert unbeirrt von der Gegenattacke in die Flanke der Bogenschützin.
Mit dem Abklingen der ersten Welle von Adrenalin beschleunigte das Geschehen vor Steinmeiers Augen wieder das wahrgenommene Tempo. Blut spritzte, als die Pfeilspitze hinten aus Bracks Rücken austrat. Der kräftige Mann unterdrückte einen Schmerzenslaut, wohingegen sein Gegenüber keinerlei Anzeichen erkennen ließ, dass ihr die Wunde nennenswert Schmerzen oder Schaden zugefügt hatte. Insbesondere war nirgendwo auch nur eine Spur von Blut zu erkennen. Ohne Innehalten schnellte ihre Hand nach hinten und griff nach einem weiteren Pfeil ungeachtet Bracks Schwert, das immer noch in ihrer Flanke steckte. Beide Hände fest um den Griff der Klinge gekrallt setzte der Schwertkämpfer seiner Gegnerin nach und trieb mit Wucht die Waffe tiefer in deren Körper. Sein Mund formulierte einen Schrei aus drei Worten "Geist! Kontakt! Jetzt!"

21. Eskalation (3)

"Sie Bücherwurm! Was wollen Sie denn tun? Gewaltsam debattieren?" Die Frauenstimme vibrierte vor unverhohlener Wut und Verachtung.
Dementgegen war keinerlei Emotion in der nüchternen Antwort der Männerstimme zu bemerken - allenfalls eine Spur Arroganz. "Mäßigen Sie sich, Frau Victoria Thomas und hören Sie mir zu, bevor Sie einen fatalen Fehler für Sie und Ihren Bund begehen. Ich biete Ihnen etwas an, um unnötiges Blutvergießen und drakonische Strafen wegen Bruch des Paktes zu vermeiden, die auch unschuldige Mitglieder von Mitternacht treffen würden: Der Pakt sieht vor, dass zwei Parteien zur Klärung einer konkreten Streitigkeit jeweils einen Vertreter benennen können, der sich mit dem jeweiligen anderen Vertreter im blutigen Kampf misst. Der Ausgang dieser gewaltsamen Auseinandersetzung ist bindend für den Ausgang des übergeordneten Streites. Kennen Sie diesen Teil des Kodex oder haben Sie das Konzept zumindest verstanden? Die Konditionen sind wie folgt: Gekämpft wird bis zum ersten Blut. Die unterlegene Partei verpflichtet sich, der überlegenen Partei nach deren Belieben Zugang und Umgang mit Astrid Kirchners Seele in jedweder Form zu erlauben und freies Geleit zu gewähren. Alle weiteren Diskussionen um Ansprüche und Rechtmäßigkeit werden vor dem Rat erfolgen."
Am relativ besonnenen Klang der Stimme von Frau Victoria Thomas, benannte Agentin von Mitternacht, war zu erkennen, dass deren Besitzerin dem Angebot nicht notwendigerweise abgeneigt war. "Ein Stellvertreterduell. Die Regelung ist mir selbstverständlich bekannt, Herr Unbehaun." Einmal mehr war eine nicht ausgesprochene Wahrheit klar durch die fadenscheinige Lüge erkennbar. "Ich war allerdings nicht davon ausgegangen, dass Sie einen Ihrer Schreibtischtäter für eine dermaßen blutige Kapitulation opfern würden. Wenn Sie mich fragen, war mein Vorschlag gnädiger - aber Sie sollen Ihren Willen haben. Zwei weitere Bedingungen habe ich allerdings: Erstens sorgen Sie dafür, dass sich beide Duellanten von Beginn des Duells an sehen können und zweitens beginnen beide den Kampf genau dort, wo Sie jetzt gerade stehen. Für Mitternacht kämpft Laurie Strance. Einverstanden?"
Wieder einmal Grenzpolitik und Blutgerede. Finn schüttelte sich. Bei der Nennung des Namens 'Unbehaun' beschlich ihn aber das Gefühl, dass ihm dieser Name eigentlich etwas sagen sollte, es aber nicht tat. Wie dem auch immer sei, bahnte sich hier allem Anschein nach eine Kampfhandlung zwischen zwei verfeindeten Gruppen an und es würde ihm sicher nicht gut bekommen, wenn er jetzt in die Sache hineinstolperte. Andererseits würde jeden Moment Samedi Teil der Szene werden. Irgendwie gönnte er es ihnen auch, wenn er sich überlegte, mit welcher Beliebigkeit und Achtlosigkeit hier alle über das Juwel sprachen, das Astrids Seele war! Wenn nur endlich der Schmerz und die Starre in seinem Arm aufhören würden!
Wahrscheinlich in Unkenntnis dieses drohenden Unheils antwortete der als 'Unbehaun' Angesprochene mit kurzer Verzögerung sachlich und entschlossen. "Ich nehme Ihre Bedingungen an. Für Libra et Liber benenne ich Lukas Brack als Vertreter im Sinne dieses Duells. Der Kampf beginnt, sobald ich für eine klare Sichtlinie zwischen den Kämpfern gesorgt habe. Keiner der Kämpfer wird bis dahin seine Position verändern."

Finn war kein Freund von Kämpfen und den Winkelzügen der Grenze, aber bei all dem Gerede von Sichtlinien und Positionen drängte sich sogar ihm der Gedanke auf, dass die eine Mitternachtstussi ihre Bedingungen gestellt hatte, weil die andere Mitternachtstussi wohl mit einer Fernwaffe kämpfte. Entweder hatte dieser Unbehaun also keine Ahnung von Taktik oder ebenfalls einen Fernkämpfer benannt. Was sollte das werden? Etwa 'High Noon zwanzigtausend Meilen unter Durnburg'? Wenigstens würde die Sache damit schnell ablaufen und er konnte dann mit Hilfe seiner Gabe rasch im Chaos verschwinden - hey, vielleicht lenkte die ganze streitsüchtige Meute Samedi so lange ab, bis er genug Abstand zwischen sich und ihn gebracht hatte!

21. Eskalation (2)

Mit einem Akt bewusster Anstrengung beendete Finn den Gedanken- und Handlungsablauf an dieser Stelle, knipste die Taschenlampe aus und besann sich erneut auf die Gefahr hinter ihm. Er musste weiter, sich selbst und die Kapsel mit Astrids Seele in Sicherheit bringen und die anderen zumindest vor dem wütenden Götzen hinter ihm warnen. Da er noch immer zwischen den kirchengestühlartigen Sitzbänken kauerte, war davon auszugehen, dass der Körper der Frau vor ihm die komplette Breite des Weges versperrte. In Anbetracht der trotz flachem Kriechen entstandenen Kratzer und Schrammen auf dem Rücken seiner Jacke kam es nicht in Frage, über das Hindernis hinweg zu klettern - zu groß war die Gefahr zufällig von einem tief fliegenden Finstervogel erwischt zu werden. Also bog Steinmeier senkrecht von seinem Weg ab und kroch nun hastig quer zu seiner ursprünglichen Wegrichtung entlang der Kniebank einer der Sitzreihen zwischen den Holzbänken weiter. Jenseits der Vogelwolke redete nun eine ihm nicht bekannte Männerstimme mit merkwürdig sonorem aber siegesgewohntem Klang. Was mochte der Ghede von seinem Ausweichmanöver durch die Kirchenbank halten? Konnte er ihn durch 'Hakenschlagen' zumindest amüsieren und ablenken? Die Gedanken huschten durch Steinmeiers Kopf, wirkten sich aber nicht auf sein Handeln aus. Ungeachtet seiner schmerzenden Unterarme und Ellenbogen arbeitete er sich nahezu mechanisch durch das Kirchengestühl und schlug an dessen Ende wieder seine ursprüngliche Kriechrichtung ein, ohne seine Anstrengungen zurückzunehmen.
Auf einmal wurden, von einem Moment auf den nächsten, die Stimmen deutlich lauter und verständlicher, während das Schwirren und Brausen des Vogelsturmes merklich nachließ. Er musste den Rand des Vogelsturmes erreicht haben! Finns innerer Jubel mündete in ein Aufatmen, das sein geschundener Körper allerdings mit einer Welle von Müdigkeit quittierte - und mit einem Krampf im rechten Oberarm. Solchermaßen bewegungsunfähig blieb er liegen und registrierte zum ersten Mal, was die Leute außerhalb des Finstervogelschwarmes sprachen.
Es war immer wieder die ihm unbekannte mürrisch wirkende Frauenstimme, die das Wort hatte: "Der Rat hat Libra et Liber Recht und Pflicht zugesprochen, die Seele der Kirchner und die Verbindung zum Orakel in beherrschbarer Form in Besitz und unter Kontrolle zu bringen. Offenbar stehen der Erfüllung dieses Auftrages einige Hindernisse im Weg - der Brunnengeist und andere Gefahren der Unterstadt zum Beispiel. Wie wäre es, wenn Sie Mitternacht um Hilfe bitten, ganz informell versteht sich. Ich würde dann das Hilfegesuch rasch und unkompliziert annehmen, wir könnten die Seele gemeinsam bergen - und da mein Bund über bessere physische Sicherheitsvorkehrungen verfügt, ist es einfach sinnvoll, wenn die Seele und das Orakel in unserem Schutz und Besitz verbleiben. Wenn Sie diese Lösung selbst im Rat vorschlagen, können Sie vielleicht sogar ein bisschen weise wirken und Eindruck ob Ihrer Bescheidenheit schinden. Na, was sagen Sie?”
So sollte das also ablaufen! Es ging hier nicht darum, Astrid von den Toten zurückzuholen, sondern Astrids Seele unter Kontrolle zu bringen und zu versklaven, damit eine dieser verfluchten Grenzerparteien die Macht des Orakels für sich benutzen konnte! Hatte Fiedler das gewusst? Was für eine Rolle spielte der denn eigentlich... und wo steckte er überhaupt?

Die Antwort kam jedenfalls nicht von Fiedler, sondern von der zuvor bereits vernommenen sonoren Männerstimme: "Ich sage, dass ich nicht hier bin, um mit einem Laufburschen - Verzeihung - einem Laufmädchen von Mitternacht über faule Kompromisse und Kapitulationsphantasien zu verhandeln. Wir werden uns die Seele nehmen und mit ihr verfahren, wie wir es für richtig befinden. Das Mandat des Rates haben wir und ich werde Mitternacht nicht um eine Sondererlaubnis fragen. Da Sie aber scheinbar dreist, stur und ignorant genug sind, eine gewaltsame Auseinandersetzung anzustreben, sollen Sie diese bekommen - im Rahmen des Durnburger Friedens versteht sich." Jetzt war Finn auch klar, warum ihm die Stimme merkwürdig vorgekommen war: Sie schien von überall um ihn herum zu kommen und keinen bestimmbaren Ursprung zu haben.

21. Eskalation (1)

Finn Steinmeier kroch zusammengekauert über den klammen Steinboden und hatte nicht den blassesten Schimmer wie er es anstellen sollte, die nächsten fünf Minuten zu überleben. Sein Herz klopfte von dem Sprint die Stufen aus dem Brunnenschacht hinauf, die Gewissheit des Jägers Samedi im Nacken. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der Dämon im Vogelschwarm das laute Pochen in seinen Ohren nicht hätte überhören können - Gabe hin oder her. Angstverkrampft und gehetzt war er unter den Klingen, Schnäbeln und Dornen der schwirrenden und flatternden Monstrositäten hindurch gekrochen. Diesmal waren ihm keine aufgetragenen und selbstherrlichen Gedanken an  "Schicksalsentscheidungen" zu Hilfe gekommen - die Begegnung mit dem Ghede hatte sie hinweg gewischt und nur noch blanke Panik hinterlassen.
Durch das eifrige Rauschen und Surren von tausend Finstervogelflügeln drangen menschliche Stimmen. Noch waren sie nicht zu verstehen, doch sein geübtes Schauspielerohr zweifelte stark daran, dass es sich nur um Fiedler und Sina handelte. Offenbar hatte sich dort draußen das Spielfeld verändert, seit er in die Unwirklichkeit des Brunnens eingetaucht war. Finn stutzte bei dem Gedanken und vermerkte still und selbstironisch, dass er wohl langsam dabei war, ein echter Grenzbewohner zu werden, wenn er eine von Dunkelheit erfüllte Kathedrale eines Totenkultes tief unter Durnburg als relative 'Wirklichkeit' anzunehmen vermochte. Dann folgte die Einsicht, dass die Ankunft eines gewissen wütenden und manifestierten Voodoo-Gottes das Spielfeld wahrscheinlich noch einmal ändern würde - und zwar nicht auf eine wünschenswerte oder lebensbejahende Art und Weise - und er erneuerte seine Anstrengungen, rascher voranzukriechen.
Keinen halben Meter weiter stieß er in der Dunkelheit auf etwas großes Weiches und Regloses, das von einer Lache warmer klebriger Flüssigkeit umgeben war. Entsetzt und mühsam jedes Geräusch unterdrückend (waren da noch Finstervögel über ihm?) zuckte Finn zurück. Es dauerte einen Moment, bis sein Kopf wieder in der Lage war, klare Gedanken zu fassen, doch auch nach möglichst rationaler Überlegung hatte sich das, was seine rechte Hand da berührt hatte, wie ein bekleideter menschlicher Körper angefühlt - und an seinem linken Arm klebte bis hinauf zum Ellenbogen etwas, das sich anfühlte und so roch wie gerinnenes Blut. Eine Leiche? Das Blut war noch warm gewesen. Vielleicht war die Person gar nicht tot sondern nur verletzt. Hatte sich nach ihm noch jemand in den Finstervogelschwarm gewagt? Bewegt hatte sich der Körper jedenfalls nicht. Würde das selbst bei einer Leiche so bleiben, wenn Samedi gleich hier durch käme?
Schaudernd wog Finn das Grauen vor ihm gegen das hinter ihm ab und der Ghede gewann den Vergleich. Eine Gewissheit musste sich Steinmeier aber noch verschaffen, bevor er sich anschicken konnte, das grausige Hindernis zu umgehen: Mit zittrigen Fingern holte er Fiedlers Taschenlampe aus seiner Jackentasche, schob gefasst alle Bedenken bezüglich Entdeckung durch die Finstervögel beiseite und schaltete sie an - Lampenöffnung und Reflektor wohlweislich mit der anderen Hand abgedeckt. Erst war gar nichts zu sehen und auch als Finn vorsichtig einen Spalt zwischen seinen Fingern öffnete, blinzelte nur ein trüber rötlicher Tentakel aus Licht hindurch. Es half nichts, er musste wohl näher heran. Vorsichtig robbte er weiter vor, stets im Bewusstsein, dass sich mit jedem Atemzug von hinten sein übernatürlicher Verfolger näherte. Draußen, unendlich weit außerhalb des Vogelschwarms, hielt eine Frauenstimme einen Monolog.  Endlich fand der Lichtschein der Taschenlampe eine Oberfläche, die er zumindest unzureichend ausleuchten konnte. Keinen halben Meter vor Finn kam eine in dunkelrotes mattes Leder gekleidete offensichtlich gepolsterte Schulterpartie zum Vorschein. Trotz der ersten Erleichterung, dass es sich bei dem leblosen Körper wohl eher nicht um Fiedler oder Sina handelte, tastete Steinmeier mit dem Lichtfinger nach oben, wo der Kopf zu erwarten war. Was er fand, waren Kopf und Gesicht einer jungen, im Normalfall wohl nicht unattraktiven dunkelblonden Frau, die allerdings aus einer fiesen Platzwunde an dem auf dem Boden liegenden Teil ihrer Stirn blutete und offensichtlich zumindest bewusstlos war.