16. Unterstadt (2)

Finn schluckte, dann nickte er hastig und etwas verlegen. “Tja, ich meine, eine tote Frau, die vom Grund eines Brunnens nach mir ruft - irgendwie klingt das nach einem obskuren Horrorfilm von vor ein paar Jahren ... aber den kennen Sie wahrscheinlich nicht.” Fast zwanghaft brach er ob seines eigenen Witzes in leises Kichern aus. Auf Sinas mahnenden Blick hin riss er sich zusammen und fuhr deutlich gefasster fort. “Aber eigentlich hat sie genau das gesagt: Sie ist nicht mehr in der Ödnis, sondern wartet am Grund eines Brunnens, der eigentlich ein Tor ins Jenseits ist.”


Eine Eingebung durchzuckte Fiedler und seine Miene hellte sich auf, als er sich in das Gespräch einschaltete. “Hat sie vielleicht vom ‘Tiefen Brunnen’ gesprochen? In der Durnburger Unterstadt?”


Steinmeier öffnete den Mund, wird um etwas zu erwidern, versank dann aber ins Grübeln, während Sina fragend den Detektiv ansah. Als Finn schließlich antwortete, klang seine Stimme angestrengt und bedrückt. “Das Gespräch mit Astrid scheint so weit entfernt. Irgendwie kriege ich keine Details mehr zusammen - als hätte der verfluchte Voodoo-Baron meine Erinnerung kaputt gemacht.  An den Begriff ‘tiefer Brunnen’ kann ich mich nicht entsinnen, aber ich bin mir fast sicher, sie hat etwas von einem Geisterbrunnen in der Unterstadt gesagt. Ich glaube, sie meinte den von Durnburg.”


So ganz zufrieden geben wollte sich Fiedler mit dieser Antwort nicht. Lässig schnippte er die zuvor immer noch auf der Dolchklinge liegende tote Schmeißfliege weg und drehte sich zu Steinmeier um. "Sie 'glauben'? Ich spare mir jetzt einfach mal die Wortspielchen und Ihnen die Spekulationen über Stimmen in Ihrem Kopf, Herr Steinmeier, aber hier hilft uns Ihr 'glauben' nicht weiter. Die Sachlage ist unklar genug. Was genau hat ... Astrid gesagt?"


Erst sah es so aus, als wolle Steinmeier eine schnippische Antwort geben, doch dann schloss er seinen Mund und seine Augen. Tiefe Denkerfalten zogen sich über seine Stirn, während er so schweigend da stand.


"Entnehme ich Ihrer professionell penetranten Nachfrage, dass es in der Durnburger Unterstadt tatsächlich einen Brunnen gibt, auf den die Beschreibung passt? Oder sogar mehrere?" Es war Sina, die den Moment der Stille nicht Bestand haben ließ. "Wenn ja, sollten wir unbedingt dieser verheißungsvollen Örtlichkeit einen kurzen Besuch abstatten, Frau Kirchner mitnehmen und den Auftrag damit abschließen. Wie klingt das für Sie, Herr Fiedler? Wäre dieser Plan Ihres Genies würdig?"


Fiedler verzog nur wenig das Gesicht. "Es ehrt mich, wenn die erhabene Abgesandte meines Auftraggebers mit ihren vielen Jahrhunderten an Erfahrung den gleichen Plan fasst wie ich - selbst wenn dieser trivial ist." Auffordernd sah er zu Sina hinüber. "Ihnen ist klar, dass eben dieser Plan im Grunde genommen nicht von Ihnen oder mir stammt? Diese ganze Idee ist nichts als die Einflüsterung einer Stimme, die Herr Steinmeier während seiner buchstäblichen Nahtoderfahrung gehört hat. Bedenken Sie auch, dass in letzterer auch ein gewisser Ghede seine manipulativen Finger im Spiel hatte, der für seinen schwarzen Humor und seine Vorliebe für Abgründe zum Totenreich bekannt - ach was sage ich - berüchtigt ist. Eine gehörige Portion Skepsis halte ich für durchaus angebracht. Dann war da noch die Geschichte mit den Ratten..."


"Seelenbrunnen! Sie hat es Seelenbrunnen genannt." Steinmeiers gleichermaßen erleichterter wie erleuchteter Ausbruch unterband abrupt den sich anbahnenden Wortwechsel. "Und ich bin mir sicher, dass der Brunnen in Durnburg war." Finn öffnete die Augen und grinste triumphierend den vor ihm stehenden Fiedler an. "Außerdem können uns die Ratten hinführen." Übergangslos klang seine Begeisterung merklich ab. "Wobei ich bisher ganz froh darüber war, dass ich soweit ohne irgendwelche Geschäfte mit den Ratten ausgekommen bin. Egal. Reicht Ihnen das, Fiedler?"

"Hmf." Auf dem Gesicht des Privatdetektivs spiegelten sich Skepsis und Widerstreben. "Warum glauben Sie, dass das Astrids Stimme war und nicht die Stimme irgendeines Geistes, der behauptet Astrid zu sein? Ich habe überhaupt keine Lust, in noch eine Falle zu laufen." Beim letzten Nebensatz funkelte er Sina an, was Steinmeier aber völlig entging.

16. Unterstadt (1)

Argwöhnisch betrachtete Fiedler den reglosen Insektenkadaver, den er soeben vorsichtig aber geschickt auf die blanke Klinge seines Dolches genommen hatte, und lauschte nachdenklich Steinmeiers aufgeregten Ausführungen. “Wenn ich es Ihnen doch sage: Kaum war Astrid verschwunden, tauchte dieser Voodoo-Typ auf - so aus dem Nichts - und mit ihm ein ganzer Schwarm Fliegenviecher! Natürlich ist das alles real und nicht etwa ein Traum oder eine Halluzination! Glauben Sie mir, als erfahrener Schauspieler entwickelt man ein feines Gespür für Realität und Täuschung - und das war ganz eindeutig echt.” Steinmeier wandte sich nach Bestätigung heischend zu der sich im Hintergrund haltenden Sina um. “Sie haben den Kerl doch sicherlich gespürt, oder? Eine Erschütterung der Macht oder so...”

Die Angesprochene zog verwundert die Augenbrauen hoch und entgegnete pointiert: “Die einzige Erschütterung, die Sie sich meiner Ansicht nach zugezogen haben, ist der Aufschlag der Kabine hier unten im Schacht. Was darüber hinaus geht, lässt sich schwer sagen.” Sie zögerte, jedoch zu kurz, als dass Steinmeier etwas sagen konnte. “Der Zauber, mit dem Sie geheilt wurden, ist häufig mit gewissen Trugbildern verbunden - allerdings muss ich zugeben, dass Samedi darin sicher keinen Platz hat. Für das tote Ungeziefer da,” sie wies grob in Richtung der Fliegen, “bin ich auch nicht verantwortlich. Samedi hingegen liebt diese Viecher. Heiß und innig.” Sinas Miene verlieh ihrem Ekel und ihrer Abscheu hinreichend Ausdruck.

Ruhig und nüchtern mischte sich Fiedler ein, den Blick nicht von dem schwarzen Insekt auf der silbrigen Klinge abwendend. “Logisch betrachtet gibt es für die Fliegen zwei mögliche Erklärungen: Entweder sind sie schon immer hier gewesen oder Steinmeier hat Recht.

Als wir vorher zusammen im Aufzug fuhren, hätten wir einen Schwarm von ihnen sicherlich bemerkt. Das hat aber keiner von uns und damit gehe ich davon aus, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht in der Kabine waren. Damit wäre es einerseits möglich, dass sich die Tiere ursprünglich hinter einer Abdeckung befunden haben. Beim Aufprall müsste sich eben diese Abdeckung gelöst haben und die toten Fliegen müssten in etwa dort zum Liegen gekommen sein, wo sich auch unser Herr Steinmeier befand. Gegen diese Annahme spricht, dass die Insekten auf mich noch nicht ausgetrocknet wirken. Sie müssten also erst vor kurzem gestorben sein. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass wir den Geruch eines Kadavers in der Wand nicht wahrgenommen hätten, wenn er diese Menge von Fliegen anziehen kann.

Die Alternative dazu ist freilich, dass tatsächlich der Ghede dem an der Schwelle des Todes stehenden Herrn Steinmeier einen Besuch abgestattet hat. Auszuschließen ist das nicht, schließlich schien der Baron schon in der Jungle Lounge sehr an diesem interessiert - und nachtragend kann er durchaus sein. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie Samedi dieses Mal losgeworden sind?” Mit fragendem Blick drehte sich Fiedler zu dem etwas verunsichert hinter ihm stehenden Finn um.

“Ich ... ahm ... glaube, ich habe ihn ... auf meine Art abgewimmelt - so ähnlich wie letztes Mal. Meine Gabe und so. Sie wissen schon...” Steinmeier versuchte souverän und rebellisch auszusehen, konnte seine Unsicherheit aber nicht ansatzweise überspielen.

“Und was passierte dann?” Fiedler ließ nicht locker.

“Nichts. Also er war weg. Ich glaube, er war ziemlich sauer. Er hatte mir, glaube ich, noch gedroht.” Steinmeier zog die Stirn kraus, während er angestrengt in seinen Erinnerungen wühlte. “Aber er war weg und ich war allein. Ziemlich lange, glaube ich. Und dann...” Finns zuvor angestrengter und störrischer Ausdruck hellte sich auf. “... dann war der Aufzug plötzlich weg und ich lag unter diesem total klaren und intensiven Sternenhimmel und da waren die Feuer im Sand, der Geruch nach Rauchzeug und die singenden Leute und ...”

“Genug davon, Finn!” Einen Tick lauter als nötig fiel Sina ihm ins Wort. “Diese Erinnerungen haben nun eindeutig nichts mehr mit dem Ghede oder dem Aufzug zu tun.” Der Blick, den sie Fiedler zuwarf, duldete keinen Widerspruch. “Sparen Sie sich das Nachhaken, Herr Detektiv! Dafür kann ich Ihnen mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das Auftauchen von Samedi nichts mit meinem Zauber zu tun hat.” Sie drehte sich immer noch mit strenger Miene zurück zu Steinmeier, der - sei es aus Höflichkeit oder Einschüchterung -  keine Anstalten machte, von sich aus weiter zu erzählen.

“Vielleicht liegt es daran, dass ich vor und nach dem Tod weniger von ihm zu befürchten habe als Sie, aber mir dreht sich die Geschichte gerade viel zu sehr um Samedi. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihre Begegnung mit dem Ghede echt war, dann sollten wir auch ernst nehmen, was Sie von Astrid erzählt haben. Wie war das? Sie wartet auf Sie am Grunde eines Brunnens?”

15. Zurückgekehrt (6)

Fiedler unterdrückte einen Fluch. Sie hatte ihn sauber durchschaut - und dabei hatte sie wohl kaum seine Gedanken gelesen. Entweder war sein “Pokerface” deutlich schlechter als angenommen oder die Dame war mit insbesondere für eine Beschworene verdammt guter Menschenkenntnis ausgestattet. Wahrscheinlich beides. Nichtsdestotrotz: Seine Spürnase hatte ihn nicht im Stich gelassen. Wenigstens konnte er sich damit rechtfertigen, dass er von Anfang des Auftrags an keine Wahl gehabt hatte als in die Falle zu treten. Ein schwacher Trost. Er wandte sich zu Sina um, funkelte sie grimmig an und knurrte: “Sicher. Vertrag ist Vertrag. Können Sie mir wenigstens verraten, was der Spießrutenlauf mit der Verfolgungsjagd soll? Ist das ein Spielchen, oder konkurrieren Sie mit Brack um meinen Kopf?”

“So leid es mir tut, - und das meine ich ernst - aber ich habe explizite Weisung, Ihnen diese Information nicht zu geben.” Tatsächlich schwang in Sinas Stimme ein Anflug von Bedauern mit. “Nun lassen Sie uns das Thema wechseln, denn die Prinzessin wird gleich ihren Schönheitsschlaf beenden.” Einen Moment überlegte Fiedler, ob er noch etwas sagen sollte, zog es dann aber vor, zu schweigen und seine Aufmerksamkeit auf Steinmeier zu richten. Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass Sina nun auch aus der Deckung des Schattens heraustrat und den am Boden Liegenden erwartungsvoll ansah.

Völlig unvermittelt, ohne jede Regung seiner Glieder, schlug Finn die Augen auf, die mit raschen Bewegungen ihrer weit geöffneten Pupillen die Umgebung abtasteten. Erst eine Sekunde später schien die Beweglichkeit in den Rest seines Körpers zurückgekehrt und er stützte sich ruckartig mit den Ellenbogen nach oben, sah sich nach links und rechts um und fragte mit eingerosteter Stimme: “Astrid? Bist du das?”

Nun war es an Fiedler, die Augen zu verdrehen. Natürlich musste ein ehemaliger Seifenopernschauspieler bei seiner Rückkehr von den Toten alle verfügbaren Klischees bedienen. Da von Sina keine Antwort zu hören war und weil im Grunde er es gewesen war, der Steinmeier gerufen hatte, räusperte sich Fiedler. “Hallo Finn. Sind sie OK?” Eine einfühlsamere Begrüßung fiel ihm nicht ein, zu sehr war ihm immer noch nach fluchen zumute.

Erst jetzt schien Steinmeier die tatsächlich Anwesenden zu bemerken und sein Blick fokussierte erst auf Fiedler, dann auf Sina. “Ah, Fiedler. Sie sind das.” Nachdenklich zog er die Stirn kraus. “Sina, was ist mit den Sternen passiert? Wie komme ich hierher? Wo sind die anderen?” Er blickte die Beschworene fragend an.

“Sterne? Andere?” Auch Fiedler wirkte interessiert und war einen Hauch weniger verärgert als zuvor. “Wissen Sie wovon er redet, Lady?”

Mit einer beiläufigen Geste winkte Sina ab. “Nichts Relevantes. Das ist nur eine Nebenwirkung: die Erinnerung an einen Traum, Finn. In ein paar Momenten ist sie verschwunden.”

Die Verwirrung in Finns Gesicht wich einem verzweifelten Ausdruck. “Nein, ich will Astrid nicht schon wieder vergessen! Verdammt noch mal, bin ich denn verflucht?”

Fiedler versuchte, beruhigend zu klingen. “Alles ist in Ordnung, Finn. Sie werden uns helfen, Astrid zu finden und wieder zurück zu bringen. Niemand spricht davon, dass Sie Astrid vergessen müssen.”

“Aber Astrids Stimme war da in meinem Traum. Sie war da, ganz echt.” In Steinmeiers Gesicht arbeitete es, als er sich deutlich darum bemühte, seine Erinnerungen zu einem kohärenten Bild zu fügen. “Sie hat mir gesagt, dass ich nicht sterben soll, dass ihr kommen würdet, um mich zu retten. Wir ... haben geredet.” Ein verblüffend breites Spektrum an unterdrückten Emotionen wechselte über Finns Gesicht, bevor er fortfuhr: “Sie hat mir gesagt, dass wir nicht in die Ödnis zu gehen brauchen, um sie zurück zu holen. Sie wartet am Grund eines Brunnens darauf, dass ich sie rette ... wobei der Brunnen so eine Art Tor zum Jenseits ist.” Erneut stockte der ohnehin kaum zusammenhängende Redefluss, als Steinmeier sich um mehr Details bemühte. “Dann waren da diese Fliegen. Die Ratten können uns zu dem Brunnen führen, wenn wir ihnen genug bezahlen. Dann war sie weg.” Etwas Farbe wich aus Finns Gesicht und über dem vormals angestrengt grüblerischen Ausdruck legte sich eine Spur verblassten Grauens. “Statt dessen kam dieser kranke Baron Voodoo-Götze und wollte mich ... haben.” Steinmeier schüttelte sich angewidert und setzte sich auf. Seine Miene hellte sich auf, als er sich auf die aktuelle Situation konzentrierte, und er sah Sina ehrlich dankbar an. “Sie haben mich wahrscheinlich vor dem Tod gerettet, danke. Habe ich bei Ihnen jetzt so eine Art Lebensschuld? Wie ist das hier an der Grenze?”

In einer Geste professioneller Bescheidenheit neigte Sina den Kopf. “Nein, Finn Steinmeier, Sie stehen nicht in meiner Schuld. Ihr Überleben liegt in unserem gemeinsamen Interesse und es wäre gierig und unangemessen hier eine Schuld einzufordern.”

Sie wollte noch etwas sagen, doch Fiedler fiel ihr fast schon ungehalten ins Wort: “Bevor Sie jetzt noch mehr Süßholz raspeln, kümmern wir uns doch um Unbehauns Auftrag. Schließlich haben Sie Steinmeier doch nur für diesen Zweck wiederhergestellt, Sina, oder?” Ein Seitenblick auf Steinmeier zeigte ihm, dass seine Formulierung bei diesem für die erwartete Ernüchterung sorgte, bevor er an Sina gewandt fortfuhr: “Wir müssen hier raus und wir müssen hier weiter. Vorerst scheinen wir unsere Verfolger zwar abgehängt zu haben, aber irgendwann werden sie unsere Spur wieder aufnehmen - und ich habe nicht vor, dann immer noch am dreckigen Grund dieses verdammten Aufzugsschachtes festzustecken. Sie scheinen so etwas schon häufiger gemacht zu haben, deshalb frage ich Sie nach Ihrer fachkundigen Meinung: Liegt außer Wünschen, Ängsten und Nebenwirkungen noch ein Körnchen Wahrheit in den Fieberträumen Ihres Patienten?” Etwas irritiert sah er zu Finn hinüber, der fassungslos etwas am Rande der vom Taschenlampenlicht spärlich erleuchteten Aufzugskabine ansah. “Was ist denn jetzt schon wieder, Steinmeier? Haben Sie einen Geist gesehen?”

Wortlos zeigte der Angesprochene an die Stelle des Aufzugs, an der Sina zuvor seinen todgeweihten Körper gefunden hatte. Mit ein paar energischen Schritten durchquerte Fiedler den Raum und brachte den besagten Boden- und Wandabschnitt in den Brennpunkt seines Taschenlampenkegels. Erst als er sich stirnrunzelnd herunterbeugte, begriff er, dass dort - und nur dort - Dutzende glänzender schwarz schillernder Perlen den maroden PVC-Boden übersäten: die reglosen chitingepanzerten Körper toter Schmeißfliegen.


15. Zurückgekehrt (5)

"Respekt, meine Dame, unser Herr Steinmeier sieht wieder richtig frisch aus!" Auch aus der Nähe wirkte der Schlafende am Boden gesund, wenngleich nicht munter. Beeindruckt wandte sich Fiedler zu der immer noch im Schatten verbleibenden Sina um und seine Miene wurde ernst. "Darf ich Sie nach dem Preis Ihres kleinen Wunders fragen - oder ist das zu privat?"

Aus dem Schatten winkte Sina entschlossen ab. "Kein Preis, den Sie zahlen müssten. Die Sache geht allenfalls mich und meinen Auftraggeber etwas an. Los, jetzt küssen Sie schon unsere Prinzessin wach! Ich will mich hier nicht häuslich einrichten müssen." Täuschte er sich, oder wirkte die Stimme der Beschworenen ein wenig matt und müde unter dem gewohnten rauen Klang?

Seine früheren Begegnungen mit dem Tod und der Magie in dessen Dunstkreis ließ Fiedler nachhaken: "Nur um sicher zu gehen: Sie sagen, ich soll ihn jetzt einfach so aufwecken und er ist wieder körperlich und geistig so intakt wie zuvor? Muss ich damit rechnen, dass er mich in irgendeiner Weise angreift - vielleicht um mein Blut zu trinken oder so? Sind irgendwelche Reaktionen zu erwarten? Gibt es etwas, das ich beachten muss, wenn mir meine und seine körperliche, geistige und seelische Gesundheit wichtig sind?"

Ohne ihr Gesicht zu sehen, erkannte Fiedler an Sinas Tonfall, dass sie gerade ihre Augen verdrehte. "Mein lieber Herr Fiedler, ich schätze Ihre wohl aus Versuch und Irrtum erwachsene Erfahrung sowie Ihren professionellen Argwohn. Gleichzeitig versichere ich Ihnen, dass Sie sich durch das Aufwecken von Finn Steinmeier keiner unmittelbaren Gefahr aussetzen, die von den bei Menschen üblichen möglichen Überreaktionen eines aus dem Tiefschlaf gerissenen abweicht. Wahrscheinlich ist es sogar gefährlicher, wenn Sie meine Geduld mit Ihrem unnötigen Zaudern weiterhin unnötig strapazieren!"

"Dann gestatten Sie mir eine letzte Frage." Fiedlers Blick bohrte sich in den Schatten, hinter dem sich Sinas Augen verbargen. "Warum wecken Sie ihn nicht selbst?"

Sina seufzte und als sie nach einigen Atemzügen antwortete hatte ihre Stimme vieles an Härte verloren. "Weil ich es nicht kann. Weil Sie es tun müssen. Ich habe seinen Körper wieder instand gesetzt und damit das Lager für seinen Geist bereitet. Grundsätzlich ist aber eine Grenze dieses Zaubers, dass die Seele nur von einem Sterblichen in dieses Lager zurückgerufen werden kann." Sie machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: "Verstehen Sie nun das Problem? Nun hören Sie bitte auf, Maulaffen feil zu halten, Herr Detektiv und holen Sie unseren roten Faden Steinmeier zurück!"

Etwas skeptisch wandte sich Fiedler wieder zu Finns immer noch ruhig atmend, in tiefem Schlaf liegenden Körper zu. Was Sina sagte, klang plausibel. Gerade bei den Formen der Magie, wie sie Beschworenen, Feenwesen oder Geistern zur Verfügung standen, waren Einschränkungen nicht unüblich, wenn es um menschliche Seelen ging. Im Grunde wollte er Steinmeier jetzt auf keinen Fall erneut verlieren - und einem Ebenezer Unbehaun hätte er diese Erklärung abgenommen. Seine Zweifel letztendlich überwindend, streckte Fiedler die Hand aus und fasste Steinmeier fest aber nicht grob an der Schulter. “Hey, Finn Steinmeier, wachen Sie auf! Schlafen können Sie noch genug, wenn Sie tot sind!”

Wenn Worte und Geste Steinmeiers Geist erreicht hatten, dann wollte dieser sich offenbar nicht darauf einlassen, denn die Augen des bis auf tiefe ruhige Atemzüge regungslos daliegenden Ex-Schauspielers blieben geschlossen. Fiedler rüttelte etwas heftiger an Finns Schulter. “Hey, Steinmeier! Aufstehen!” Immer noch kam keine Reaktion. Er wandte sich mit fragendem Blick in Richtung der immer noch im Schatten bei der Tür verweilenden Sina. “Sind Sie sicher, dass ich als Wecker geeignet bin? Sollte da nicht jemand ran, der mehr ... Magie zulässt als ich?”

“Machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie machen Ihre Aufgabe großartig. Um Finn zu erwecken ist keine magische Begabung nötig, der Besitz einer menschlichen Seele sollte reichen. Sie haben doch eine Seele oder?” Amüsement und Sarkasmus waren in Sinas Stimme zurückgekehrt. “Darüber hinaus, auch wenn Ihre seelenvollen aber eben sterblichen Augen es nicht erkennen, sieht es für mich so aus, als hätten Sie bereits Erfolg gehabt. Herr Steinmeier dürfte in ein paar wenigen Momenten wieder bei uns sein.”

Mit einer Mischung aus Erleichterung, Verwirrung und Ärger sah Fiedler zwischen Sina und dem schlafenden Steinmeier hin und her, doch bevor er selbst etwas entgegnen konnte, fuhr Sina fort - diesmal aber kalt und ohne jede Spur eines Scherzes. “Übrigens, Herr Fiedler, sollten Sie Ihre Erkenntnisse bezüglich der Identitäten und Loyalitäten unserer Verfolger tunlichst für sich behalten. Ihr Verhalten bisher war, wie erwartet, angemessen professionell und offensichtlich wissen Sie Ihren Pakt mit Herrn Unbehaun korrekt einzuhalten. Finn Steinmeier hingegen wirkt weniger gefestigt und ist dazu nicht unmittelbar an Ihren Auftrag gebunden. Er könnte zum Risiko werden, wenn er Fehleinschätzungen trifft und diese in Taten umsetzt. Beachten Sie bitte, dass dies von mir nicht nur ein Rat unter Weggefährten ist, sondern auch meine Forderung als Vertreterin von Herrn Unbehaun. Verstehen wir uns?”

15. Zurückgekehrt (4)

Zumindest sein Verhältnis zu Sina war durch Unbehauns “zweifelsfrei echten” Brief klar geregelt. Er sollte sie behandeln, wie er mit Unbehaun selbst als Auftraggeber umgehen würde, so viel war klar. Aus diesem Grund hatte er es sich bislang ja auch mühsam die Frage verkniffen, was denn Unbehaun mit der wiedergekehrten Astrid Kirchner vorhaben mochte. Als Magiefähiger mit einer Meisterschaft in Beherrschungszaubern hatte er wohl kaum Bedarf an einem Medium, wenn er einen Geist rufen wollte.

Einmal mehr wurde Fiedler durch ein soeben wahrgenommenes Detail aus seinen Gedanken geholt. Eine vertraute kantige Silhouette lag am dämmrigen Rand des Lichtkreises der von der zu Boden zeigenden Maglite ausging. Dort, keine zwei Handbreit vom klaffenden Spalt zwischen Kabinendach und dem schimmelbefleckten, feuchtgrauen Beton der Schachtwand, lag seine treue Smith & Wesson "Chiefs Special", die ihm beim Absturz zuvor aus dem Halfter gerutscht war. Ohne aufzustehen beugte er sich zur Seite, streckte sich, bis er die Waffe erreichen konnte, und nahm diese behutsam in die Hand. Der kompakte schwarze Revolver war durch den Sturz etwas in Mitleidenschaft gezogen: Sein kurzer stämmiger Lauf hatte eine Schramme davongetragen und die  Trommel hing mit gebrochener Fixierung lose an der Seite. Einige der fehlenden Patronen lagen weit verstreut am Boden. In diesem Zustand war der Revolver nicht zu gebrauchen - nun ja, kein Wunder bei einer Fallhöhe über ein Dutzend Stockwerke. Mit einem Anflug von Sentimentalität steckte Fiedler das Wrack der Smith & Wesson ein und wollte gerade weiter über die Grundzüge seines weiteren Vorgehens grübeln, als hohl und gedämpft Sinas Stimme seinen Namen rief.

“Herr Fiedler? Sie können Ihre kleine Pause da oben beenden und hereinkommen. Ich nehme an, Herr Steinmeier würde sich freuen, wenn ihn eine bekannte Stimme wieder im Leben begrüßt!” So zügig es ihm das tückische Terrain erlaubte, stand Fiedler auf und setzte sich in Bewegung in Richtung der Dachluke. “Wenn ich auch kaum als Pfadfinder durchgehe, bin ich natürlich allzeit bereit und sofort zur Stelle.”

An der Luke angekommen ging er in die Hocke und leuchtete vorsichtig mit der Taschenlampe in die Kabine, diesmal darauf bedacht, niemandem zu blenden. Vieles an der Szenerie, die sich im Lichtkegel darbot, war unverändert, jedoch fehlte der zuvor den PVC-Boden beherrschende Blutfleck. In Mitte des durch die eingedrückten Wände und Deckenplatten noch enger wirkenden Raumes, beinahe unmittelbar unter der Luke, lag Finn Steinmeier mit freiem Oberkörper in entspannter Haltung auf dem Rücken, die Arme und Beine leicht seitlich gespreizt und schien zu schlafen. Hatte seine Erscheinung zuletzt noch dem Tod näher gewirkt als dem Leben, so war nun keine Spur mehr von Verletzungen oder Blut zu sehen. Es mochte das unstete Licht der Taschenlampe sein, aber es erschien Fiedler, als höbe und senke sich Steinmeiers Brust mit ruhigen, tiefen Atemzügen.

"Geben Sie acht, dass Sie nicht auf unsere schlafende Prinzessin Nurunnihar treten, wenn Sie runterklettern!" Erst als er dem Klang von Sinas Stimme folgte, konnte Fiedler ihre Silhouette im Schatten einer Kabinenecke an einem noch relativ geraden Teil der Wand nahe der Tür lehnend ausmachen. Täuschte er sich oder wirkte die Beschworene erschöpft? Die Taschenlampe rasch in einen Spalt neben der ramponierten Deckenluke geklemmt, kletterte Fiedler durch die Luke und ließ sich so elegant wie möglich neben Finn auf den Kabinenboden herab.

15. Zurückgekehrt (3)

Von dem unerwarteten Wunsch etwas überrumpelt unterbrach Fiedler seine soeben begonnenen Bemühungen in die Kabine hinabzuklettern und zögerte einen Moment, bevor er nickte und die Taschenlampe zur Seite drehte. "Sie ... wollen also keine Unterstützung. Ich nehme an, dass Sie als Vertreterin meines Auftraggebers wissen, was Sie tun. Falls Sie mich doch brauchen sollten: ich bin hier oben. Wo auch sonst.” Er zwang ein gequältes Grinsen auf sein Gesicht. “Rufen Sie einfach, wenn Sie mich brauchen und ich löse Ihr Problem.”

Für einen Moment wurde Sinas grimmig entschlossener Ausdruck eine Spur weicher. “Keine Sorge, Herr Fiedler, Zombies und Wiederbelebungen mit Nebenwirkungen gehören nicht zu meinem Repertoire. Es geht nur darum, Finn Steinmeier wieder körperlich herzustellen - mehr werde ich nicht versuchen. Ach, und nehmen Sie doch bitte so lange das lästige Ding hier in Ihre Obhut! Es wäre mir im Weg und ich glaube, Sie haben dafür einen teuren Handel abgeschlossen.” Mit einem Schritt zur Mitte des Aufzugs und reckte sie die geschlossene linke Hand hoch zu Fiedler. Als sich die Faust öffnete, lag darin länglich oval und mattschwarz marmoriert, durchzogen von mattsilbernen Metallbändern und Mustern, Giorgios Seelenkapsel.

Unverzüglich hellte sich Fiedlers Miene ein wenig auf und zumindest das gezwungene Grinsen verschwand. “Ich danke Ihnen, Lady!” Aufgestützt auf die rechte Hand, die zudem noch die Taschenlampe umklammerte, beugte er sich tiefer nach unten in die Kabine und nahm das Artefakt entgegen. Während er die Kapsel in eine verschließbare Innenfuttertasche seiner Lederjacke verstaute, nahm er wahr, wie sich Sina unten an Steinmeiers Körper (es fiel schwer, nicht “Leiche” zu denken) zu schaffen machte und ihn mühelos aber behutsam zur Mitte der Kabine bewegte. Bedacht darauf, das gerade gegebene Wort nicht zu brechen, richtete er sich vorsichtig auf, drehte sich um und tastete mit dem Lichtschein seiner Lampe die Umgebung nach einer geeigneten Rückzugsmöglichkeit ab.

Naheliegenderweise fiel die Wahl für eine Ruhe- und Denkposition erneut auf die schon nach dem Abstieg als geeignet befundene Seilrolle. Tief aufatmend ließ sich Fiedler darauf nieder und stützte erschöpft die Ellenbogen auf den Beinen ab. Zurück zur Planungsphase. Zwar war Plan C, die Flucht zurück in den Aufzugsschacht durchaus erfolgreich gewesen, hatte aber in einer Sackgasse geendet. Wie also sollte er weiter vorgehen? Wenn Steinmeier tot war, blieb kein anderer Weg als einen Fehlschlag einzugestehen und auf eine zweite Chance zu hoffen. Sollte Sina aber tatsächlich den nicht-ganz-toten Steinmeier wieder so weit hinkriegen, dass dieser sein Gewicht selber tragen konnte, was wäre der nächste Schritt? Fiedler seufzte und vergrub das Gesicht zwischen den Händen. Objektiv betrachtet war Finn gerade nicht seine Hauptsorge. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm Lukas Brack als Anführer des Verfolgertrupps.

Sich auf die detektivische Kunst der Schlussfolgerung besinnend, ging er die Fakten durch: Die von Radewitz hatte Unbehauns Brief und Auftrag als echt bestätigt. Damit eingeschlossen war er, Alexander Fiedler, als Empfänger und Sina als Gesandte und Überbringerin des Briefes. Es konnte also als gesichert gelten, dass der Auftrag an sich nicht faul war. Von dieser Annahme ausgehend, was konnte dann eine von Brack angeführte Verfolgertruppe bedeuten? Hatte Brack die Seiten gewechselt und sich gegen seinen ehemaligen Dienstherren gewandt? Sicher, Unbehaun war kein besonders angenehmer Mensch aber sicherlich kein so übler Schurke, als dass er einen Lukas Brack gegen sich aufbringen würde - dafür war Brack viel zu loyal und leidensfähig. Andererseits konnte die Option nicht ganz ausgeschlossen werden. Was war die Alternative? Würde Unbehaun ein Verfolgerteam ansetzen, um Fiedler Druck zu machen oder ihn im Auge zu behalten? In diesem Fall machte es keinen Sinn, den Aufzug zum Absturz zu bringen und damit den Auftrag und ihrer aller Leben zu gefährden. War vielleicht nur das ein Unfall gewesen? Denkbar - und aktuell nicht nachprüfbar.

15. Zurückgekehrt (2)

“Steinmeier lebt?” Seine Erschöpfung ignorierend und von diesem neuen, möglicherweise flüchtigen Ausweg aus seiner moralischen und geschäftlichen Klemme motiviert, kam er zügig auf die Beine. Der Schein seiner Taschenlampe suchte und fand die Einstiegsluke und vorsichtig meisterte Fiedler das schwierige Gelände des Aufzugsdachs, bis er eine hinreichend komfortable Einstiegsposition in das Kabineninnere gefunden hatte. Kniend über die rechteckige Öffnung gebeugt, tastete er mit dem Lichtkegel der Maglite den Hohlraum darunter ab.

Durch den Aufprall waren drei der vier Wände der Kabine wie Pappkarton eingeknickt und das Dach teilweise einen halben Meter nach unten gerückt. Einzig der Rahmen der Aufzugstüre hatte der Gewalt des Aufschlags widerstanden, zwischen den beiden Türhälften klaffte jedoch eine circa dreißig Zentimeter weite Lücke, durch die im Taschenlampenlicht die fleckige Rückseite der Außentür zu erkennen war. Am Boden des Aufzugs lag eine aus der Decke heruntergebrochene transparente Plexiglasleiste, deren ursprüngliche Aufgabe es wohl gewesen war, einer Leuchtstoffröhre Schutz zu bieten. Glücklicherweise fehlte von Glassplittern jede Spur. Was hingegen sofort auffiel, war eine ausgedehnte braunrote Blutlache, die sich großflächig über das fleckige und stellenweise gerissene PVC des Kabinenbodens erstreckte.

In etwa dort, wo sich der Quell des großteils geronnenen Lebenssaftes befinden musste, kauerte Sina (in Menschenform) über einer Gestalt, die am Fuß der beim Aufprall krumm geschlagenen Wand lag. Es war Steinmeier - aber entgegen Sinas Aussage wirkte er in keiner Weise nicht lebendig: Die Haltung des Ex-Schauspielers wirkte unnatürlich verkrümmt und geknickt, an der rechten Schläfe schimmerte ein kleiner Fleck Schädelknochen durch das tiefe Rot einer Platzwunde und aus dem Mundwinkel troff noch der letzte zähe Blutfaden in den Unheil verkündenden See am Boden. Im Laufe seines Lebens hatte Fiedler schon viel zu viele Tote gesehen - und manche davon hatten einen deutlich besseren Eindruck gemacht als der schlaffe, zerschlagene Körper am Boden. In der jetzigen Situation brachte er es jedoch nicht über das Herz und die Lippen, diese Überlegung in einen trocken sarkastischen Kommentar zu verwandeln.

Während Fiedler noch um eine geeignete Äußerung rang, ergriff Sina ohne aufzusehen das Wort: "Wo bleibt denn Ihr berufseigener Scharfsinn? Ich habe gesagt, er ist nicht tot. Die Unterscheidung macht in diesem Fall durchaus Sinn." Sie wirkte angestrengt und konzentriert bei ihrer Betrachtung des Nicht-Toten vor ihr. "Sein Herz schlägt nicht, sein Blut fließt nicht, sein Körper wird kalt und der letzte Atem hat seine Lippen schon längst verlassen. Trotzdem ist da noch Lebenskraft in ihm. Kann das mit Ihrer Seelenkapsel zu tun haben?"

Hastig ging Fiedler sein zugegebenermaßen eher knappes Wissen über Giorgios Artefakt durch und schüttelte dann entschieden den Kopf - ungeachtet dessen, dass ihm seine Gesprächspartnerin gerade den Rücken zuwandte. "Nein, das glaube ich nicht. Die Seelenkapsel muss erst geöffnet werden, bevor sie aktiv ist. Außerdem wäre die Lebenskraft dann bestenfalls in der Kapsel und nicht in Steinmeier selbst. Ich habe so ein Ding schon im Einsatz gesehen - der Körper ist dann eher Nebensache."

"Schade, das wäre eine angenehme Erklärung für seinen Zustand gewesen. Untot ist er aber auch nicht - jedenfalls nicht auf eine mir bekannte Art und Weise. Ein unbemerktes 'Abschiedsgeschenk' von Samedi scheidet damit allerdings aus." Sina legte nachdenklich den Kopf in den Nacken, wandte sich aber, offenbar von Fiedlers Lampe geblendet, schnell wieder nach vorne.

"Können Sie... also ich meine... haben Sie die Möglichkeit, ihm zu helfen?" Fiedlers an der Grenze lange trainierter Höflichkeitsreflex, andere nicht nach ihren Fähigkeiten zu fragen, erschwerte seinen Versuch, die Beschworene auf das seines Erachtens nach einzig Richtige anzusprechen.

Erwartungsgemäß wirkte Sina nicht im geringsten überrascht. "Verzeihen Sie mir meinen leider nicht dem Klischee entsprechenden Verzicht auf Drama und Emotion, Herr Fiedler, aber es läuft auf eine Frage hinaus: Ist Finn Steinmeier für Ihren Plan, Ebenezer Unbehauns Auftrag umzusetzen, ersetzbar?”

Es kostete Fiedler einiges an Überwindung, um nicht reflexartig und impulsiv zu verneinen, sondern statt dessen unter Aufbringung all seiner trainierten Professionalität seine verbleibenden Optionen abzuschätzen. Zu seiner Erleichterung fühlte sich das Ergebnis jedoch auch moralisch richtig an: "Wenn wir kurzfristig Erfolg haben wollen - nein. Falls er endgültig stirbt, hätte ich erst in der Ordnung von Wochen einen ... Ersatzmann für ihn, der dann zudem auch noch schlechter geeignet wäre. Jetzt", Fiedler hob das Wort betont hervor, "brauche ich Steinmeier - und zwar lebendig, nicht nur nicht-tot!"

Sinas Körpersprache und Zögern zeigten, dass sie zwar mit dieser Antwort gerechnet hatte, deren Inhalt ihr aber nicht besonders gut gefiel. Kaum eine Bedenksekunde später strafften sich aber ihre Schultern wieder und sie stand mit einer entschlossenen Bewegung auf. "Wie Sie wünschen. Dann werde ich versuchen, Herrn Steinmeiers Geist wieder mit seinem angestammten Körper zu versehen." Sie blickte mit vor die Augen gehaltener Hand zu Fiedler und seiner Taschenlampe hinauf. "Ein echter Gentleman würde einer Dame bei so einem Unterfangen ihre Privatsphäre lassen, Herr Fiedler, und Sie sollten das besser auch tun. Nehmen Sie also ihre grässlich grelle Funzel aus der Dachluke und geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie erst wieder einen Blick in diese Aufzugkabine werfen, wenn ich Sie dazu auffordere - oder nach Ablauf einer Stunde, je nachdem, was früher eintritt!"

15. Zurückgekehrt (1)

Die Atmosphäre unten im Schacht war eines günstig produzierten Horrorfilms würdig. Von oben sickerte eine Spur trübes Restlicht herab, das gerade ausreichte, um den nach dem Aufzugsabsturz ihres Zwecks beraubten, schlaff von den Wänden hängenden Liftkabeln den Anschein grotesk langer lebloser Würmer zu verleihen. Nach einem kräftezehrenden und zermürbend langen Abstieg setzte Fiedler endlich einen Fuß auf das schiefe und von einem Knäuel heruntergestürzter Zugkabel übersäte Metalldach des abgestürzten Aufzugs am Grund des Schachts. Die sich Stockwerk um Stockwerk nach unten erstreckende Reihe von Metallbügeln der Wartungsleiter war im Dunkeln schon lange für Fiedler nur noch mit ausgelaugten Händen und Füßen zu ertasten gewesen. Nicht nur seine Kletterpartie, nein auch seine Laune war an ihrem Tiefpunkt angekommen, als er sich schwer atmend mit grimmiger Miene auf eine Seilrolle setzte, die er zuvor im unsteten Lichtkegel seiner Taschenlampe als hinreichend harmlos befunden hatte.

Welches Ärgernis nun den maßgeblichen Ausschlag für seine finstere Stimmung gegeben hatte, konnte er nicht eindeutig zuordnen. War es der Umstand, dass er gerade 15 geschlossene Aufzugstüren beim Klettern in Abwärtsrichtung passiert hatte, von denen keine einen ausreichenden Halt oder breiten Sims für eine dringend notwendige Pause geboten hätte? Lag der Grund darin, dass auch die Türe zu Giorgios Spielhalle fest geschlossen war und geschlossen blieb - auch nach heftigem Klopfen und Rufen? Lag es an dem immer wieder unterdrückten Vorwurf an sich selbst, dass er es gewesen war, der Steinmeier in die Sache hineingezogen hatte? Mit Sicherheit hatte jedoch dazu beigetragen, dass Sina, die beschworene, mächtige, ach-so-starke Sina, sich erst in Katzenform zwölf Stockwerke auf seiner sterblichen schwitzenden Schulter ausruhen musste, nur um sich kurz darauf zu recken und mit einem knappen “Ich geh’ dann mal voraus! Sie können ja irgendwann nachkommen” hinunter in die Dunkelheit zu springen.

Seinen Verpflichtungen treu war er die verbleibenden Meter in die Tiefe geklettert, die nach Salz und Eisen schmeckende Maglite mangels freier Hand zwischen die gebleckten Zähne geklemmt. Innerlich aber hatte er gekocht vor Wut. Offenbar war das alles hier doch ganz einfach - jedenfalls wenn man eine nichtstoffliche Schnalle war! Gehörte es zu Unbehauns Auftrag an seine Begleiterin, ihn gelegentlich vorzuführen oder dezent zu demütigen? In jedem Fall musste Fiedler sich erst einmal wieder in den Griff kriegen und wieder professionell denken können, bevor er Sina erneut entgegentreten wollte. Er streckte und ballte die Hände, um seinen schmerzenden Unterarmmuskeln wieder etwas Leben einzuhauchen.

“Hey, Fiedler, wenn Sie ihre kleine Verschnaufpause da oben beendet haben, kommen Sie doch mal hier rein!” Sinas Stimme klang blechern durch die teilweise von den Aufzugstrossen verdeckte Deckenluke der abgestürzten Kabine. Fiedler schnaubte etwas verächtlich. Offenbar sollte er nicht zur Ruhe kommen dürfen. Der nächste Satz aber ließ ihn aufhorchen: “Ich habe Steinmeier gefunden - und so ganz tot ist er scheinbar noch nicht.”

14. Umgekehrt (5)


Sich auf die Detektivtugenden Logik und Deduktion besinnend, wog Fiedler seine Optionen ab. Mit Brack zu reden war gerade nicht möglich und könnte darüber hinaus noch zu ernsten Problemen führen, falls dieser tatsächlich die Seiten gewechselt haben sollte. Mit Sina über ihre Loyalität zu reden würde erfahrungsgemäß zu nichts führen, da sie sich entweder auf Unbehauns Brief und die darin eingelöste Schuld berufen würde oder aber aggressiv werden und ihn physisch angreifen konnte. Insbesondere nach dem, was die Dame mit dem Troll auf der Brücke und dem Einsiedler an der Decke gemacht hatte, erschien ihm der Gedanke, mit einer angreifenden Sina auf engem Raum eingesperrt zu sein, gerade als wenig erfreulich. Zudem drohte sich das Zeitfenster für die von ihm geplante Flucht bei all den Überlegungen und Diskussionen zu schließen. Was blieb also, als weiter zu machen wie geplant - und vielleicht später bei geeigneter Gelegenheit nachzufragen.

Flüsternd wandte er sich an Sina: "Zum Lift. Leise." Auf eine adäquate Reaktion ihrerseits vertrauend schob sich Fiedler so schnell und gleichzeitig lautlos wie möglich durch den Vorhang, hinaus aus der Fotobude. Nur wenige Meter entfernt kämpfte sich ein gerüsteter kräftiger Mann (war das Brack?) mit wuchtigen Schwerthieben durch eine völlig surreal wirkende, ihn bedrängende Horde bunter Plastiktiere und wandte ihnen dabei glücklicherweise den Rücken zu. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes hatten drei leicht lädiert wirkende Einsiedler einen anderen Mann an die Wand gedrängt, der sie offensichtlich kaum auf Abstand zu halten vermochte. Mehr Details waren im trüben schwachgrünen Halbdunkel nicht zu erkennen - zumal Fiedler dafür gar keine Zeit blieb. Auf leisen Sohlen eilte er zum Aufzugsschacht, wobei er erleichtert aus dem Augenwinkel registrierte, dass Sina ihm mindestens ebenso unauffällig folgte.

Der klaffende Abgrund des Schachtes war so düster und tief wie zuvor. Fiedler verdrängte einen Anflug von Schwindel und suchte einen Weg hinab. "Da drüben sind Griffe in der Wand." Sinas Worte und Ton waren sachlich und nüchtern - und ihre Augen offenbar besser als die seinen, denn er konnte nur vage einen etwas dunkleren Streifen erahnen, der sich als Schatten im Schatten an der Seitenwand des Liftschachtes hinabzog. Anscheinend hatte die Beschworene sein Zögern bemerkt und ergänzte: "Wenn Sie auf dem Sims da entlang balancieren, kommen sie direkt dorthin." Konnte er ihr überhaupt vertrauen? Hatte er nicht gerade festgestellt, dass mit ihrer Geschichte etwas nicht stimmte? Hinter ihm zerschmetterte Brack krachend einen weiteren Einsiedler, deren Anzahl merklich geschrumpft schien. Hier in der Aufzugstüre stehen zu bleiben, machte ihn zu einem viel zu gut sichtbaren Ziel! Entschlossen setzte er einen Fuß in den Aufzugsschacht auf den Sims, den ihm Sina gewiesen hatte und balancierte vorsichtig und mit mulmigem Gefühl die feuchte Betonwand entlang.

Als sich Fiedlers tastende Hände um den kalten rau grundierten Metallbügel schlossen, war hinter der Türe auf der anderen Seite des Abgrundes der Kampflärm abgeklungen. Er sah sich nach Sina um, doch konnte er auf den ersten Blick nichts entdecken. Erst als er etwas verblüfft ein zweites Mal den Sims absuchte, glomm ihm ein paar grüner Augen mit geschlitzten Pupillen entgegen, um die herum sich schwärzer als der Schatten die Silhouette einer Katze abzeichnete. "Sina?" Verwirrt zog Fiedler die Augenbrauen zusammen. Hatte sie ihre Gestalt gewandelt - oder war hier einfach eine Katze im Schacht? Wie zur Antwort auf seine Frage maunzte das Tier und sprang zielgerichtet und punktgenau auf die Schulter des an der Leiter hängenden Detektivs. Einen riskanten Abwehrreflex unterdrückend duckte sich Fiedler, ohne den haltenden Griff loszulassen.

"Sie sind doch nicht etwa allergisch, Herr Fiedler!" Sinas Stimme in seinem Ohr klang schnurrender als sonst, aber immer noch als ihre erkennbar.

Gereizt fauchte Fiedler zurück: "Kündigen Sie solche Spielchen besser an! Um ein Haar wäre ich abgestürzt!"

"Nun haben Sie sich nicht so, ich bin leicht, flauschig und zudem stubenrein. Schaffen Sie es die paar Stockwerke nach unten zu klettern?" Die Katze schubberte sich ausgiebig gegen Fiedlers Kopf.

"Lassen Sie den Quatsch und stören Sie mich nicht!" In Fiedlers Stimme war keine Andeutung einer besseren Laune zu erahnen - wenngleich er selbst nicht wirklich sicher war, ob er den langen Abstieg schaffen würde. Blieb nur zu hoffen, dass Brack mit seinem verletzten Mitstreiter lang genug beschäftigt war und zudem keine Überraschungen von oben oder unten kommen würden. Wie hieß es doch so schön? Alles Gute kommt von oben? Grimmig stieg Fiedler Stufe um Stufe in die finstere Tiefe, die zuvor schon Steinmeier verschlungen hatte.