24. Auf ein Andermal (2)

Knapp, trocken und sarkastisch lachte Brack auf. “Nein. Der wäre wohl ziemlich angepisst, wenn er davon erfahren würde! Aber bevor du fragst: Ich verstoße auch gegen keine Absprachen oder bestehenden Verträge.”
Zögerlich hellte sich der Ausdruck auf Fiedlers Gesicht etwas auf, dann nickte er und streckte die offene rechte Hand aus. “Na gut, ich bin dabei. Du fängst an! Was weißt du über die Persönlichkeitsprobleme des Schlosserbrückentrolls?”
“Klar. Ich fang an. Das kenne ich schon.” Über Bracks kantiges Gesicht huschte ein Anflug des Amüsements, als er die Abmachung der beiden Männer mit Handschlag besiegelte. Dann wanderte sein Blick in Richtung der Neustadtseite der Brücke und seine raue Stimme begann etwas abwesend zu erzählen: “Seit er den Auftrag an Land gezogen hatte, die Kirchner von den Toten zurückzuholen, hat Unbehaun darauf bestanden, dass du ihre Seele wiederbeschaffst. Du musstest das übernehmen. Da hat er keinen Zweifel gelassen. Gleichzeitig wollte er dich nicht alleine gehen lassen - vielleicht aus Misstrauen dir gegenüber, vielleicht aus der Befürchtung, jemand könnte versuchen, dir die Seele mit Gewalt wieder abzunehmen. Nicht zu unrecht, wie wir gelernt haben.
Natürlich habe ich vorgeschlagen, dich mit ein paar Männern zu begleiten und die Sache gemeinsam anzugehen, das war ihm aber nicht magisch genug. Stattdessen ließ er sich von einem Kollegen bei Libra et Liber einen Geist beschwören und binden, der dich begleiten sollte.” Er nahm einen Schluck Kaffee und schnitt eine angewiderte Grimasse als er fortfuhr. “Ich finde Geister an und für sich sin ja schon meistens reichlich unsympathisch - das Ding war aber echt hart an der Ekelgrenze. Soweit ich das mitbekommen habe, wollten sie dir etwas Körperliches mitgeben, das bei Bedarf auch physisch kräftig hinlangen könnte. Also nahmen sie eine Schaufensterpuppe, ein paar unecht aussehende ägyptische Tontöpfe und ein verdammt echt aussehendes Gehirn und stopften das alles ineinander und dann den Geist hinterher. Das resultierende Ekelpaket bekam dann von Unbehaun einen Auftrag und ein Empfehlungsschreiben, bevor es deine Richtung geschickt wurde. Alleine.”
Flüchtig sah Brack zu dem neben ihm am Geländer lehnenden aufmerksam lauschenden Fiedler hinüber. “Ganz ehrlich, ich hätte an deiner Stelle wahrscheinlich aus reinem Reflex versucht, das Ding beim ersten Kontakt auszuschalten. Aber dazu kam es wohl gar nicht. Keine Viertelstunde, nachdem die Schaufensterpuppe das Hauptquartier verlassen hatte, fing nämlich ihr Beschwörer völlig unvermittelt an zu schreien, kurz bevor ihm Blut aus Nase, Ohren und Augen sprudelte. Viel retten konnten wir nicht. Aus ihm und seinem zermatschten Gehirn war gerade mal noch herauszubekommen, dass er die Beschworene verloren hatte und dass sie ihm von einem ‘Weib aus Nacht und Flammen’ entrissen worden war. Wir sind natürlich sofort los und haben die Puppe gesucht - aber nur noch ein paar Plastikbrocken, Stofffetzen und den angeknacksten Topf mit dem Gehirn gefunden. Den Rest hatte offensichtlich deine Geisterbraut … gefressen.”
Fiedler verzog bei dem Gedanken etwas angeekelt das Gesicht und knüpfte nach kurzer Denkpause an Bracks Erzählung an: “Tja, wie auch immer sie das gemacht hat - als ich die von dir charmant als ‘Geisterbraut’ beschriebene Beschworene zu Gesicht bekommen habe, war ihr nichts Widerliches anzumerken. Nach dem Scharmützel ist die Dame dann in durchaus appetitlichem Zustand bei mir aufgetaucht, hat mir den Auftrag samt Unbehauns Knebelbrief präsentiert und sich flugs an meine Hacken gehängt. Dabei ist es ihr geradezu perfekt gelungen, alle notwendigen Instanzen inklusive mir bezüglich ihrer Identität erfolgreich hinters Licht zu führen. Sei’s drum.” Er machte eine wegwischende Geste, wie um alle möglicherweise aufkommenden Einwürfe von vorneherein entkräften. “Zwischendurch musste ich die Lady dann mal eine Zeit lang abhängen - zum Schutz eines Kontaktes, du verstehst schon. Irgendwie hat sie mich dann aber doch aufgespürt - und zwar ziemlich genau hier auf der Neuen Schlosserbrücke, wo sie dann auch prompt persönlich aufgetaucht ist. Selbstverständlich ließ sich der allseits bekannte Brückentroll die Gelegenheit nicht entgehen, eine Dame von der Grenze anzupöbeln.”

24. Auf ein Andermal (1)

Unter den “Schergen” in Unbehauns Organisation hielt sich wacker das Gerücht, die sagenumwobene Regenerationsgabe von Lukas Brack würde ihn auch vor den Folgen heftigen Alkoholkonsums bewahren. Zu Bracks tiefem Bedauern hatte diese Legende aber keinen wahren Kern und sein Kopf pulsierte und gähnte eine schmerzhafte Erinnerung an die zahlreichen am vergangenen Abend zu seinen Ehren geleerten Gläser. Mit zusammengekniffenen Augen lehnte er an einem der blanken Metallpfosten, die das Plexiglasdach der Neuen Schlosserbrücke trugen und genoss das Halbdunkel des noch nicht ganz angebrochenen Tages. Um diese Uhrzeit verirrten sich selbst von den Normalos nur vereinzelt Passanten auf die Fußgängerbrücke, zumeist mürrisch oder gehetzten Schrittes auf dem Weg zu einer beruflichen Verpflichtung. Ein wunderbarer Moment, um die Privatsphäre des Schleiers und des schlechten Rufes der Brücke unter den Grenzgängern wie die kühle frische Morgenluft in vollen Zügen zu genießen.
“Brack, alter Haudegen!” Fiedlers vertraute Stimme ließ die Illusion von Abgeschiedenheit und Einsamkeit wie eine Seifenblase zerbersten und ein kameradschaftlich ehrliches Schmunzeln besetzte Bracks verwitterte Miene, als der Privatdetektiv den Brückenbogen entlang auf ihn zuhielt. Als die Entfernung eine Unterhaltung mit gemäßigterer Lautstärke zuließ, setzte Fiedler seine Anrede fort. “Was bei Odins eisigen Eiern bringt dich dazu, die Neue Schlosserbrücke als Treffpunkt auszumachen - und was hast du bitte mit dem vermaledeiten Troll angestellt? Verdroschen? Bestochen?” Er musterte den verkaterten Brack etwas näher und ergänzte mit schiefem Grinsen: “Oder hast du ihn etwa unter den Tisch gesoffen?”
“Nun werden Sie mal nicht frech, Herr Fiedler!” Mit hochgezogener Augenbraue und schlecht gespielter Verärgerung visierte Brack den Papphalter mit den beiden großen dampfenden Coffee-to-Go Bechern in Fiedlers Händen an. “Aber mit etwas Koffein im Blut vergesse ich diese Respektlosigkeit gegenüber Ihrem ehemaligen Leutnant wieder. Willst du die beide ganz alleine trinken, oder hast du einen davon übrig?”
Freundlich auflachend reichte ihm Fiedler bereitwillig eines der beiden Heißgetränke. Dann ließ er das Kartontablett lässig in einem nahegelegenen Abfalleimer verschwinden, während Brack behutsam an seinem Becher nippte und erläuterte: “Der Troll muss gerade eine kleine Identitätskrise verarbeiten und ganz besonders auf mich hat er wohl gar keinen Bock mehr. In ein paar Wochen sieht das sicher anders aus - das Gedächtnis von Brückentrollen ist ja nicht unbedingt berühmt.”
Fiedler nahm lässig einen Platz neben Brack am Geländer ein und schlürfte einen Schluck Heißgetränk aus dem Plastikbecher. “Das schränkt die Auswahl auf ‘verdroschen’ und ‘unter den Tisch gesoffen’ ein. Wie viel Kaffee muss ich dir ausgeben, um mehr über diese Identitätskrise zu erfahren? Ich nehme an, das hängt mit der Geschichte von letzter Woche zusammen, oder?”
“Du bist eben eine echte Spürnase, Herr Detektiv.” Ironisch verzog Brack die Mundwinkel. “Aber ja, das ist genau der Grund, warum ich dich treffen will - und warum ich dich hier treffen will.”
Seine Miene war deutlich nüchterner, als er fortfuhr. “Mal im Ernst, Fiedler. Bei der Sache mit dir, Unbehaun und der Geisterbraut sind mir dann doch zu viele Fragen offen geblieben. Für mich stank die ganze Angelegenheit von vorne bis hinten nach miesester Politik und Ränke. Ich bin kein Freund von Intrigen. Andererseits weiß ich, dass du zwar mit Intrigen leben kannst - aber sehr viel Wert darauf legst zu wissen, wer warum an den Fäden zieht. Also schlage ich dir einen Deal vor: Jeder von uns packt aus, was er weiß - und erzählen kann. Danach wissen wir beide besser Bescheid, schweigen darüber und überleben vielleicht etwas länger mit dem, was wir wissen. Abgemacht?”
Fiedler sah ihn nachdenklich an. “Weiß Unbehaun, dass du hier bist und mit mir sprichst?”

Editorial: Vox Solis - Die letzte Meile

Nun ist es soweit. Die letzte Meile ist gegangen - das letzte Kapitel von Vox Solis ist fertiggeschrieben, von den Lektoren gegengelesen und in die Postliste des Blogs eingetragen. Damit endet eine "schriftstellerische Odyssee", die sich über Jahre hinwegzog. Ein paar Eckdaten:
  • Vox Solis begann 2007 und endet Anfang 2014 und kommt damit auf eine Laufzeit von über 6 Jahren (zugegebenermaßen mit einer jahrelangen Unterbrechung).
  • Geht man davon aus, dass ich etwas mehr als einen Abend pro Woche mit dem Schreiben verbracht habe, würde ich meiner Familie so in etwa ein Jahr an Abenden schulden. (Die Schreibpause relativiert die Gültigkeit dieser Abschätzung deutlich, allerdings hatte ich auch häufig mehr als einen Abend pro Woche oder auch mal einen "Schreibtag". Ich gehe also mal sicherheitshalber von einem geschuldeten "Abendjahr" aus.)
  • Seit dem Beginn von Vox Solis ist unser Haushalt von zwei auf fünf Personen gewachsen.
  • Das gesamte "Vox Solis - Reloaded" wurde über Google Drive als Plattform geschrieben und zwar auf den Tastaturen von drei verschiedenen Laptops, einem Tablet und gelegentlich auch mal einem von fünf Smartphones.
  • Am Tag nachdem ich das letzte Wort des letzten Kapitels getippt habe, gab es ein großes Update für Google Drive für Android. Damit wurde unter anderem "suchen und ersetzen" eingeführt - eine Funktion, die ich während des Schreibens (Tablet mit Anstecktastatur) mehrmals schmerzlich vermisst habe. Danke, Google! Von wegen "don't be evil"...
So. Jetzt aber genug nutzloser Halbwahrheiten. Am Dienstag geht es weiter mit "24. Auf ein Andermal". Viel Spaß und danke für's Lesen!

23. Auf ein Wort (9)

Die Lippen der Gräfin komprimierten sich zu schmalen bleichen Strichen und zwischen ihren Augenbrauen vertieften sich drei steile Falten, als sie einige Momente lang wort- und regungslos nachdachte, die Blicke fest mit Fiedlers verschränkt. Dann atmete sie einmal etwas tiefer durch und nickte ein weiteres Mal, diesmal deutlich und zustimmend.
“Gut. Ich akzeptiere. Ihr zweites Ziel kann ich allerdings nicht erzwingen, jedoch werde ich alles in meiner Macht aber auch Verantwortung Stehende tun, um die Entscheidung so möglich zu machen. Dabei werde ich aber weder meine Person noch die meiner Schwester und natürlich auch nicht das Wohl des Zirkels aufs Spiel setzen. Eine Forderung meinerseits hätte ich aber noch, Herr Fiedler: Was auch immer Sie tun, sagen oder anderweitig äußern - halten Sie meine Schwester Griselda aus der Sache heraus. Nehmen Sie an?”
“Selbstverständlich nehme ich an. Der Handel gilt.” Fiedler versuchte so seriös wie möglich zu wirken.
Ein weiteres Mal musterte ihn die Gräfin, diesmal von oben bis unten. “Dann ist wohl alles Notwendige besprochen, nicht wahr? Entschuldigen Sie mich bitte, aber ich muss mich wieder meiner anderweitigen Verpflichtungen annehmen. Manche Debatten müssen auch einmal zu Ende geführt werden. Auf Wiedersehen, Herr Fiedler. Vielleicht zu einer erfreulicheren Gelegenheit.”
Bevor der Detektiv etwas entgegnen konnte, hatte sie sich abgewandt und eilte mit entschlossenen aber angemessenen Schritten davon in Richtung Schloss. Zögernd blickte Fiedler ihr hinterher. War er tatsächlich ungeschoren davongekommen? Sicherlich nicht. Für den Moment hatte er sich wohl durchsetzen können - aber die Sache würde sicherlich mehr als nur ein Nachspiel haben. Er musste Unbehaun die Angelegenheit erklären. Gut, das würde sicher unangenehm werden, sollte aber ohne negative Folgen machbar sein, so lange er aufrichtig bei der Wahrheit blieb - bis auf sein Gespräch mit der Gräfin. Sicher würde der Magier nicht darüber erfreut sein, dass die Seele der Kirchner verloren gegangen war. Mit etwas Glück konnte die Gräfin ihm und seinem Bund aber genug Honig ums Maul schmieren, so dass er den Verlust rasch vergessen oder als Erfolg verbuchen würde.
Wie es allerdings mit Astrid Kirchner und ihrem frisch gebackenen “Untermieter” Finn Steinmeier weitergehen sollte, war ihm ein Rätsel. So lange sie in der Seelenkapsel gefangen waren, würde es Gruppen wie Mitternacht, Libra et Liber, den Rabenzirkel oder Leute wie die Thomas, Unbehaun und die Gräfin geben, die sich das Medium und seinen Zugang zum Orakel für ihre eigenen Zwecke zu Nutze machen wollten. Ein Artefakt wie die Seelenkapsel war schnell an sich gerissen - und die Anzahl durch Gewalt, Intrige und Niedertracht von Hand zu Hand wandernder mächtiger Artefakte war nicht unerheblich. Normalerweise wäre sein Impuls gewesen, die Kapsel irgendwo wegschließen zu lassen. Diesmal würde das aber bedeuten, Steinmeier und die Kirchner zu einer Existenz in absoluter Gefangenschaft zu verdammen - falls das für in einer Dose eingesperrte Geister überhaupt einen Unterschied machte.
Fiedler erstarrte: Erst jetzt realisierte er, dass es sich bei dem handschmeichelnd metallenen Gegenstand in seinen Händen gar nicht um das Röhrchen des Zigarillos handelte, sondern eben gerade um die besagte Seelenkapsel! Seit über einer Minute musste er geistesabwesend mit dem Ding gespielt haben - und das unter den wachsamen Augen der Gräfin! Wie konnte es sein, dass sie ihn nicht einmal darauf angesprochen hatte? Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass sie das Artefakt kannte und von Laternen und Gebäuden drang noch genug Licht hier in den Burghof, als dass selbst eine ältere Dame die Kapsel klar in seinen Händen erkennen musste. Es war kaum denkbar, dass die Gräfin im gegebenen Kontext nicht sofort eine Verbindung zwischen der Kapsel in seinen Händen und der Seele der Kirchner ziehen musste. Nur von Steinmeier wusste sie wahrscheinlich nichts...
Verdammt, Steinmeier!
Die überfällige Erkenntnis traf den übermüdeten Detektiv wie ein Blitz. Offensichtlich war dessen Gabe für diesen kleinen aber feinen Effekt verantwortlich! Fiedlers Züge hellten sich auf. Wenn Steinmeier die Anwesenheit der Seelenkapsel nach seinem Belieben verschleiern konnte, sah die Zukunft des Artefakts natürlich deutlich rosiger aus. Andererseits…  Wer wusste schon, was die Zukunft beinhaltete?
Die Kirchner!
Fiedler wurde klar, dass er die Antwort auf alle seine Fragen im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand hielt. Nun musste er nur noch einen Weg finden, mit den Insassen der Kapsel zu sprechen.

23. Auf ein Wort (8)

Im Laufe von Fiedlers letzten Worten hatten sich die Augen der Gräfin zu schmalen argwöhnischen Schlitzen verengt und das Entsetzen war wohl kontrollierter Wut gewichen: “Spielen Sie mit mir, Fiedler?”
Den Zorn einer der mächtigsten Personen der Stadt auf sich zu ziehen war sicher keine gute Idee. Trotzdem hoffte Fiedler, das Schlimmste noch vermeiden zu können. Er wählte die Ehrlichkeit als seine Waffe.
“Aufrichtig gesagt: Ja. Aber wenn Sie es gestatten, biete ich Ihnen ein Remis an.”
“Ein Remis? Wir spielen also Schach?” Die Augenbrauen der Gräfin hoben sich zu schmalen skeptischen Bögen über ihren grauen Augen. “Sprechen Sie weiter - aber schwören Sie mit ihren ersten Worten Vertraulichkeit in dieser Sache.”
Damit hatte Fiedler gerechnet. “Ich schwöre, dieses Angebot und diese Unterhaltung für mich zu behalten, als hätte ich sie vergessen. Ich verspreche weiterhin Vertraulichkeit und Schutz Ihres Namens nach meinen Möglichkeiten, sollten Sie mein Angebot annehmen.”
Die Gräfin wirkte zufrieden und er sprach weiter: “Mein ursprünglicher Auftrage ist dummerweise durch die Un-Einigkeit meines Auftraggebers unerfüllbar und hinfällig geworden. Es bleibt mir also nichts als zu Improvisieren und mich um die Grundlagen zu kümmern: Mein erstes Ziel ist daher die Unversehrtheit meines Klienten. Dem gültigen Wortlaut des Vertrages nach sind das derzeit sowohl Ebenezer Unbehaun als auch die Beschworene. Um Unbehauns körperliches Wohl mache ich mir keine ernsthaften Sorgen. Ich habe aber Grund zu der Annahme, dass der Auftrag zur Beschaffung der Seele des Mediums vom Rat an seinen Bund vergeben wurde. Wenn Unbehaun also versagt, würde das einen Gesichtsverlust für Libra et Liber bedeuten und eine Gefahr für seine Position und Zukunft. Das möchte ich vermeiden und dafür muss ich entweder Unbehaun die Seele zukommen lassen oder Sie kümmern sich darum, dass der Gesichtsverlust auch ohne Übergabe der Seele ausbleibt.”
Fiedler machte eine kurze Pause, prüfte noch einmal die Logik seiner nächsten Worte und fuhr fort: “Im Fall der Beschworenen fürchte ich um deren physische oder astrale Unversehrtheit, sofern man das so beschreiben kann. Sorgen Sie dafür, dass sie aus Ihrem Beschwörungspakt entlassen wird und nicht von Unbehauns Magiern verhört werden kann. Ach ja - und nur wenn dieses Verhör ausbleibt, kann ich es überhaupt verhindern, dass Unbehaun die Seele des Mediums erhält.”
Solche Forderungen und Erklärungen hasste Fiedler eigentlich wie die Pest und er hoffte, sein lange geübtes Pokerface könnte die wachsende Nervosität überspielen. Widerwillig ließ er sich dazu hinreißen, das Metallröhrchen aus seiner Tasche zu ziehen, in dem er den Zigarillo überreicht bekommen hatte und seine ruhelosen Finger damit zu beschäftigen. Dementgegen hatte seine Gegenüber Gestik und Mimik wieder völlig unter Kontrolle und lauschte ernst und professionell interessiert seinen Ausführungen, untermalt von gelegentlichem verstehenden bis abschätzigem Nicken.
“Mein zweites Ziel ist etwas altruistischer, nämlich, dass die Seele des Mediums nicht als Objekt behandelt wird.” Nur in Gedanken fügte er hinzu “und die von Steinmeier auch nicht”, während er weitersprach: “Frau Kirchner soll selbst entscheiden können, für wen und für welche Parteien sie ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Verfügung stellt. Ich halte sie für so klug, sich unter den Schutz des Rates zu begeben - aber das Ob, das Wie und das Warum soll ihre eigene Sache bleiben. Wirken Sie auf den Rat ein, um diese Entscheidung herbeizuführen. Wenn jemand in Durnburg genug Einfluss hat, dann Sie. Im Ausgleich dazu dürfte sich das Medium davon überzeugen lassen, die Geschehnisse des letzten Tages auf sich beruhen zu lassen.”

23. Auf ein Wort (7)

Fiedler nickte zustimmend. “Abgemacht, Frau Gräfin. Wenn Sie mir bei der Gelegenheit zusagen könnten, die Details, die ich Ihnen über den Auftrag und meine Nachforschungen gebe, ebenfalls diskret und vertraulich zu behandeln?”
“Selbstverständlich.” Auch die Gräfin nickte. “Meiner Erfahrung nach ließen sich für diesen speziellen Fall einige eher exotische Möglichkeiten konstruieren, wie Griseldas Erkenntnisfähigkeiten umgangen werden könnten. Handelte es sich bei der Beschworenen um eine wehrhafte Instanz mit starker Selbststruktur?”
Es fiel Fiedler nicht schwer, ein verständnisarmes Gesicht zu machen. “Ahm. Wehrhaft ist sie sicherlich. Ja. Was so etwas wie eine ‘Selbststruktur’ ausmacht, kann ich allerdings aus meiner Warte nicht beurteilen.”
Mit einer Geste wischte die Gräfin den unsicheren Teil seiner Antwort beiseite. “Wie dem auch sei. Falls Unbehaun ursprünglich ein anderes beschworenes Wesen ausgesandt hat, könnte die falsche Beschworene dieses Wesen überwältigt, bezwungen und subsumiert - es sich also einverleibt haben, wenn man das so sagen kann. Auf diese Art und Weise könnte meine Schwester durch die Anwesenheit des echten  im Inneren des falschen Geistes getäuscht werden.”
Nun war es an Fiedler, die Stirn zu runzeln. “Verzeihen Sie mir den Ausdruck - aber das klingt ein wenig abartig - wenngleich auch irgendwie plausibel.” Innerlich raufte er sich die Haare. Alles was die Gräfin gesagt hatte, bestätigte seinen Verdacht gegen sie, aber es gab nichts, an dem er sich - oder besser sie festhalten konnte. Zeit, den letzten Trumpf zu spielen. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und versuchte etwas abgeschlagen und erschöpft zu wirken (was ihm nicht schwer fiel). “Aber einmal unter uns gesagt: Ich warte mit Spannung darauf zu erfahren, wer diese falsche Beschworene denn auf Unbehaun und mich angesetzt hat. Dann werden wir auch erfahren, mit welchem Trick Ihre Schwester um ihren makellosen Ruf betrogen wurde.”
“Ach ja? Ist das so?” Das Interesse der Gräfin war offensichtlich geweckt und sie schien es entweder nicht für nötig zu halten oder es gelang ihr gerade nicht, diesen Umstand zu verschleiern. “Was macht Sie so sicher, dass Sie diese Informationen erhalten werden?”
Fiedler blieb bei seiner teils-gespielten Erschöpfung, behielt seine Gegenüber aber peinlichst genau im Auge. “Wie ich schon sagte: Es gab eine Konfrontation zwischen Unbehaun und der Beschworenen und am Ende ist es Unbehaun und seinen Leuten gelungen, das Wesen weitgehend intakt in ihre Macht zu bekommen. Wenn ich es richtig verstanden habe ist geplant, morgen früh die Beschworene in einer Art Verhör auseinanderzunehmen. Wie wörtlich das auch immer gemeint sein mag.” Was sie da hörte, gefiel der Gräfin offensichtlich gar nicht. Die Sorgenfalten waren etwas tiefer geworden und in ihren Augen hatte sich der Unmut in einen Anflug von Entsetzen verwandelt. Zeit noch eine Schippe drauf zu legen:
“Damit wird sich wahrscheinlich auch das Dilemma meines Auftrages klären. Wenn die Identität der Beschworenen erst als Fälschung bewiesen wurde, dürfte ein einfaches Aufsuchen eines vom Rat ermächtigten Schiedsgerichtes reichen, um mich meiner Pflichten ihr gegenüber zu entbinden. Dann kann ich endlich die Seele des Mediums wie vereinbart an Unbehaun persönlich übergeben und die Sache ist wieder im Lot.”
Bevor er fortfuhr, straffte Fiedler seine Haltung wieder und blickte der überrumpelten Gräfin ins Gesicht. “Mein Anliegen an Sie ist also allein, dass Sie Vorbereitungen für die Flut an Schwierigkeiten treffen sollten, die morgen über Ihre Schwester hereinbrechen dürften. Alles weitere liegt in den Händen von Libra et Liber, dem Rat und der Person, die mir die falsche Beschworene auf den Hals gehetzt hat.”
Er verlieh seiner Stimme einen auffordernden Unterton. “Selbstverständlich würde ich auch meine Hilfe anbieten, so lange dadurch meine Interessen und Verpflichtungen gewahrt werden. Gerne auch unter einem Versprechen der Diskretion. Ich frage mich nur, ob Sie sich in der Lage sehen, meine Hilfe zu benötigen…” Der Satz verklang im sanften Abendwind.

23. Auf ein Wort (6)

Zu Fiedlers großen Erleichterung zeigte die Gräfin eine Reaktion und antwortete immer noch unmutig, aber weniger ablehnend als zuvor: “Ungewöhnlich, in der Tat, aber es kommt mitunter vor, dass sich ein beschworenes Wesen gegen seinen Beschwörer auflehnt. Wenn Sie Ihren Vertrag aufgrund eines solchen Kunstfehlers Ihres Auftraggebers nicht erfüllen können, dann benötigen Sie sicher nicht meine persönliche Unterstützung. Ein einfaches Gesuch an den Rat oder ein Schiedsgericht sollte das doch lösen. Konnten Sie Ihren Auftrag denn erfüllen?”
So ging also die Argumentation. Fiedler begriff, dass der von der Gräfin vorgeschlagene Lösungspfad eventuell gangbar gewesen wäre, wenn nicht Unbehaun Sina in seinen Bannkreis gezwungen hätte. Dennoch hatte sie sich nicht weit genug aus der Deckung gewagt, als dass er sie packen konnte. Oder war sie gar nicht involviert? Mutwillig ignorierte er die Frage zu seinem Auftrag.
“In den meisten Fällen hätten Sie Recht. Gerade die Freifrau von Radewitz würde sich auch hier wieder in ihrer Funktion als Vertrauensperson und als ermächtigte Schiedsfrau anbieten, da sie den Fall bereits kennt. Was die Sache aber deutlich erschwert ist der Umstand, dass es sich bei dem Auftraggeber um niemand geringeren handelt als Ebenezer Unbehaun, das Oberhaupt von Libra et Liber. Sicherlich können auch einem erfahrener Meister wie Herrn Unbehaun Fehler unterlaufen. Ich bin mir jedoch sehr sicher, dass er die Beschworene, die eben zuvor als sein Geschöpf aufgetreten war, zuvor noch kein einziges Mal gesehen hatte. Deren Verhalten deutete übrigens in die gleiche Richtung, denn sie versuchte, sich vor ihm zu verstecken.” Fiedler schüttelte demonstrativ den Kopf, bevor er die Gräfin eindringlich anblickte. “Was ich an der Sache nicht verstehe und wo Sie mir vielleicht weiterhelfen können: Wenn die Beschworene nicht von Unbehaun gerufen und beauftragt war, wie konnte sich dann Griselda von Radewitz dazu hinreißen lassen, deren Identität zu bestätigen? Sie hat erst die Echtheit eines Briefes von Unbehaun bestätigt, in dem er eine Beschworene als seine Vertreterin einsetzt, und dann die falsche Beschworene als diese Vertreterin identifiziert! Kann es sein, dass Ihre Schwester getäuscht worden ist? Die Möglichkeiten von Bestechung oder falschem Spiel aus eigenen Interessen schließe ich bei ihr natürlich aus.”
Gleichzeitig mit einer fachlichen und persönlichen Frage konfrontiert, legten sich einige Denk- oder Sorgenfalten auf das gepflegte aber bejahrte Gesicht der Gräfin, bevor sie entgegnete. “Ihre Frage ist recht privat. Ich bin bereit, Ihnen eine Antwort zu geben, wenn ich Ihr Wort habe, dass sie meine Auskunft für sich behalten.”

23. Auf ein Wort (5)

Der Gesichtsausdruck der Gräfin konnte als “mitnichten amüsiert” umschrieben werden und ihre Stimme hatte an Schärfe und Härte gewonnen. “Was für ein Spiel treiben Sie hier, Herr Fiedler? Meine Zeit ist kostbar und ich habe Sie in Erinnerung als jemand, der sich auf die Kunst zur Sache zu kommen versteht. Bislang klangen Ihre Worte aber eher, als wollten Sie sich wichtig machen und mich vor Ihren Karren spannen. Korrigieren Sie diesen Eindruck oder hören Sie besser auf, meine Zeit zu verschwenden!” Mit inquisitorischer Eindringlichkeit nahm ihr Blick Fiedlers Augen in den Fokus.
Sein bestes Pokerface bemühend ging der Detektiv seine Optionen durch. Im Grunde hatte er ein Ultimatum gestellt bekommen: Klartext oder Schweigen. Andererseits hätte sie ihn nach seiner bewusst vagen Ansage auch einfach stehen lassen können. Zugegebenermaßen wünschte sich ein kleiner Teil von ihm, dieser Fall wäre eingetreten und er hätte sich mit seiner Vermutung grundlegend geirrt. Egal. Zeit für seinen nächsten Zug. Etwas mehr Verbindlichkeit in der Stimme ging er auf die Forderung seiner Gegenüber ein, seinerseits ihre Mimik und Körpersprache aufs Genaueste beobachtend:
“Ich bemühe mich nur um Ehrlichkeit, Gräfin, und wollte den Maßstab meines Anliegens möglichst schnell zurecht rücken. In aller möglicher Kürze: Heute morgen suchte mich eine Beschworene auf und gab mir den Auftrag, eine verstorbene Grenzgängerin - ein Medium - aus dem Totenreich zurückzuholen. Der Umstände halber konnte ich nicht ablehnen, aber um auf Nummer sicher zu gehen, ließ ich  die Echtheit des Auftraggebers hinter der Beschworenen überprüfen. Zu meinem Bedauern bestätigte mir Griselda von Radewitz als stadtbekannte Autorität die Identität und die Legitimation der Beschworenen, was mich dazu nötigte, den Vertrag letztendlich zu akzeptieren.” War da eine Reaktion zu erkennen gewesen, als er die Freifrau von Radewitz erwähnt hatte? Immerhin handelte es sich bei der guten Griselda um die Schwester der vor ihm stehenden Gräfin. Möglich - aber nicht sicher. Um nicht unnötig zu provozieren unterdrückte Fiedler den Reflex, einen Zug aus dem langsam verglimmenden Zigarillo zu nehmen und fuhr fort.
“Die Details meiner Nachforschungen tun an dieser Stelle nichts zur Sache. Relevant ist, dass sich am Schluss die besagte Beschworene und der angeblich hinter ihr stehende Auftraggeber überaus feindselig gegenüberstanden.” Ha! Diesmal hatte sich ganz sicher etwas im Gesicht der Gräfin geregt! Mühsam verbarg Fiedler seinen inneren Triumph.
“Sie können sich sicherlich vorstellen, wie überrascht ich von dieser Entwicklung war - und in was für eine schwierige Vertragslage ich damit geraten bin.” Er ließ eine Kunstpause entstehen, indem er mit einem etwas nervösen Zug den fast völlig erkalteten Zigarillo noch einmal aufglimmen ließ.

23. Auf ein Wort (4)

Sein erstes Ziel nach dem Verlassen der Durnburger Unterstadt war “Die Weiße Taube” gewesen, ein Café in den Gassen der Altstadt. In der weißen Taube gab es nicht nur qualitativ hochwertige Heiß- und Kaltgetränke zu fairen Preisen, vielmehr diente das Lokal als Zentrale für den Rabenzirkel, wie Mitternacht oder Libra et Liber ein Bund von Grenzgängern mit erheblichem Einfluss. Zwar hatte der öffentliche Teil der “Taube” um diese Uhrzeit schon geschlossen gehabt, der Nachtwächter des Rabenzirkels war aber dennoch dort gewesen, um dringende Anliegen entgegenzunehmen. Irgendwie musste Fiedler dann auch dringlich und eindringlich genug gewirkt haben, so dass der Mann von der Nachtwache den Versuch aufgegeben hatte, ihn abzuwimmeln.
Man hatte ihn hier erwartet. Im Grunde war das keine Überraschung. Er hatte beim Rabenzirkel um eine Audienz bei der Gräfin gebeten, ihres Zeichens die als kompliziert bekannte Anführerin des durchaus mächtigen Bundes, und war daraufhin zum Schloss geschickt worden, wo sie sich wohl in einer längeren politischen Debatte mit anderen Mitgliedern des Rates befand. Beim Gedanken an die bevorstehende Diskussion kamen Fiedler einmal mehr Zweifel, ob ihm die Idee, ein Ratsmitglied (und dann noch die Gräfin) für seinen Auftrag einzuspannen in einem ausgeruhteren Zustand nicht als leicht fahrlässige Verzweiflungstat erschienen wäre.
Das Geräusch absatzbewehrter Damenschuhe, die mit zügigen, entschlossenen aber mitnichten hastigen Schritten den gepflasterten Weg vom Schloss herankamen, riss Fiedler aus seinen Gedanken. Keine Zeit mehr für Zweifel - jetzt galt es, die Fäden zusammenzuführen und dabei den Kopf auf den Schultern zu bewahren. Das schuldete er seinem Ruf - und irgendwie schuldete er das auch Steinmeier. In Missachtung von Nässe, Kälte, Hunger, Bedenken und sonstigen Unbehagens wurde Fiedlers Miene “detektivtypisch” gelassen und professionell, er korrigierte seine Haltung zu “aufrecht aber lässig” und stellte sicher, dass er der sich nähernden Respektsperson erst einmal ungezwungen den Rücken zuwandte. Showtime!
“Guten Abend Herr Fiedler!” In der Stimme der Gräfin schwangen neben der gebotenen Höflichkeit etwas Ärger, Ungeduld aber auch eine Prise Neugier mit. “Wenngleich ich die Gelegenheit genieße, nach der stickigen Luft im Saal etwas frische Luft zu schnappen - fassen Sie sich kurz, ich habe zu tun. Welche Gefahr schwebt über unser aller Leben, dass sie mich unbedingt sofort sprechen müssen? Um was geht es?”
Mit einer betont gelassene Bewegung wandte sich Fiedler zu ihr um, nahm den zuvor zwischen die Zähne geklemmten Zigarillo aus dem Mund bevor er mit gelassener Höflichkeit aber unterschwellig grimmigem Unterton antwortete. “Ich grüße Sie, Frau Gräfin und es ehrt mich, dass Sie sich die Zeit genommen haben mich anzuhören. Jedoch muss ich Sie gleich in zweierlei Hinsicht enttäuschen: Zunächst kann ich aber nach den Geschehnissen der letzten Stunden nicht aufrichtig sagen, dass der Abend ‘gut’ wäre. Außerdem geht es höchstens um eine Handvoll an Leben und zumindest zwei davon sind sowieso nicht mehr zu retten.” Er ließ eine wohldimensionierte Pause folgen und wahrte einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck, während sich auf der aristokratischen Miene seiner Gegenüber Skepsis und Unmut ausbreiteten. “Dennoch bin ich davon überzeugt, dass Sie sich für die Sache durchaus interessieren könnten - und dass zumindest zwei der involvierten und in gewisser Weise gefährdeten Leben für Sie persönlich von großer Bedeutung sind.”
Damit hatte er seinen Eröffnungszug getan. Mal sehen, wie die Gräfin ihn aufnahm. Gelassener als zuvor nahm Fiedler einen Zug aus seinem Glimmstengel und entließ einer Antwort harrend eine kleine Rauchwolke in den Abendhimmel. Es fiel ihm leichter, das Spiel zu spielen, als über dessen Folgen nachzudenken.