19. Aus der Tiefe (7)

Nach vollendeter Arbeit wog Finn das Werk seiner Hände in selbigen und musterte es skeptisch. Abgesehen von zahlreichen Blutflecken, ein paar Kratzern und Schönheitsfehlern sah die Konstruktion eigentlich ganz gut aus. Aber was wollte er eigentlich damit? Wie gut war sein Plan denn überhaupt? Der Metallbecher an der Angelschnur war mehr als groß genug für Fiedlers Seelenfängerkapsel und so weit er das abschätzen konnte, würde die Stange das Gewicht auch tragen. Warum also sollte er nicht die Angel als Werkzeug benutzen? Andererseits - woher wusste er, dass er den Seelenbehälter in das Loch halten sollte? Wie das Sprichwort schon sagte: Wenn man nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht alles wie ein Nagel aus - und er hatte nur eine Angel... War die ganze Geschichte mit der Leiche und der Angel nicht zu verdammt unwahrscheinlich, um Sinn zu machen? Die Sache lief einfach zu glatt!
Oder war seine Glückssträhne vielleicht darin begründet, dass er endlich dem richtigen Ruf des Schicksals gefolgt war? Ging es den anderen Menschen, den erfolgreichen glücklichen Menschen etwa dauerhaft so, dass ihnen die Welt Handreichungen wie die Angel vor die Füße legte? Steinmeier beschloss, es bei der letzten Überlegung zu belassen und fingerte Fiedlers/Giorgios Seelenkapsel aus seiner Jackentasche. Bedächtig wog er das kühle Oval in der Hand und dachte nach. Er hatte nur diesen einen Versuch. Wenn die Seelenkapsel verloren ging, war seine Chance vertan und er würde Astrid im Brunnen zurücklassen müssen.
Vor sich selbst erschrocken verdrängte er eilig die aufkeimende Idee, sich in diesem Fall einfach Astrid entgegen zu stürzen und besann sich. Je länger er in diesem wortwörtlichen Loch fest saß, desto mehr setzte ihm die klamme und unwirkliche Atmosphäre zu. Halb unbewusst ballte er seine verwundete Hand zur Faust und genoss den pulsierenden dumpfen Schmerz als Lebensbeweis.
Solchermaßen verankert fanden seine Gedanken den Weg zurück zu ihrem Ausgangspunkt: Der Plan, die Seelenfalle gleich einem Köder an der Angel hinunter in den Brunnen zu senken, war riskant, da er keine Ahnung hatte, was dort unten in der schwarzen Tiefe vor sich ging. Das ursprüngliche Brunnenmonster war laut Fiedlers Quelle zwar unschädlich gemacht, aber das hatte noch lange nicht zu bedeuten, dass sich dort unten nicht etwas oder jemand anderes eingenistet hatte und mit nicht näher beschriebenen Gliedmaßen nach der Kapsel haschen würde. Selbst ohne aktive Einmischung konnte die wertvolle Fracht der Angel verloren gehen - sei es durch Strömungen, Winde, plötzlich geänderte Naturgesetze oder was sich diese vermaledeiten Grenze noch so alles einfallen lassen mochte.
Der erleuchtende Gedanke kam aus seiner Zeit am Theater: eine Generalprobe! Das war die Idee. Er würde die Szene einfach einmal trocken durchspielen - ohne die Kapsel. Rasch verstaute er den Seelenbehälter wieder  in seiner Tasche und ging vorsichtig näher an den Rand des Abgrunds. Dabei bemühte er sich, nicht zu tief in diesen hinein zu blicken, so sehr ihn Neugier und Angst auch reizen mochten. Schließlich setzte er sich umständlich mit ein paar Handbreit Sicherheitsabstand zum Rand des Abgrundes auf den kalten, nebelfeuchten Boden und streckte langsam und angespannt die Angelrute über das Loch ins Jenseits. Unverändert stiegen die glühenden Nebelfetzen träge empor und wehten durch den gemauerten Schacht. Wenn es eine Reaktion auf die Angel gegeben haben sollte, dann war sie derzeit für Finn nicht erkennbar. Behutsam, als könnte er dabei ertappt werden, löste er die Fixierung der Spule, auf der die Angelschnur aufgewickelt war und begann kontrolliert und vorsichtig den Metallbecher am Ende des Fadens in den finsteren Schlund hinabzusenken. Meter um Meter verschlang die Tiefe, ohne dass eine andere Kraft als das Gewicht des Bechers auf die Angel und Finns haltende Hand wirkte. Schließlich war die gesamte Schnur abgewickelt. Einen bangen Moment hatte Finn befürchtet, sie wäre nicht an der Spule befestigt und würde ausfädeln und auf Nimmerwiedersehen im Loch verschwinden. Dann aber zog ein großer Knoten den Faden stramm und hielt ihn sicher an Spule und Angel befestigt.

19. Aus der Tiefe (6)

Tor zum Jenseits? Endgültig? Von wegen! War er nicht hier, um Astrid durch eben dieses Tor zurück ins Diesseits zu holen? Finn zuckte zusammen, als wäre er gerade aus einem Albtraum erwacht. Für solche Gedanken hatte er gerade keine Verwendung, durfte er gerade keine Verwendung haben. Nietzsche hatte Recht: Er musste vermeiden, dass der Abgrund in ihn hineinsah! Also konzentrierte sich Steinmeier erneut und diesmal mit aller Kraft auf die Montage der altertümlichen Angel.
Im Grunde war es eine einfache Konstruktion, aber die Holzteile waren alt und über die Jahre (oder waren es Jahrhunderte?) in der klammen Umgebung des Brunnenschachtes aus der Form gegangen. Steinmeier fluchte, als ihm ein halb-montiertes Stangenteil aus seinen nervösen, schweißnassen Händen rutschte und laut klappernd auf den Steinboden fiel. Rasch fasste er hinterher, damit es nicht am Ende noch in den schwarzen Schlund des Brunnens rollen konnte, doch als er zupackte, jagte ein plötzlicher klarer Schmerz durch seine rechte Hand. Ein weiterer Fluch entfuhr Finns Lippen, als er das gefangene Angelteil diesmal vorsichtiger mit der Linken übernahm und sich seine verletzte Hand ansah. Quer über seine rechte Handfläche zog sich ein etwa vier Zentimeter langer leicht gewellter Schnitt, aus dem ein schmales aber stetiges Rinnsal an Blut quoll. Auch das noch!
Jenseits von Schmerz, Schreck und Ärger über seine eigene Unzulänglichkeit registrierte Finn überrascht, dass ein Teil von ihm die Verletzung durchaus erfreut aufnahm. Er blutete - und so lange er blutete, so lange sein Herz noch schlug, war er zumindest noch am Leben. Diese positive Verknüpfung blieb jedoch im Status einer Fußnote, während er mit der linken Hand hastig nach irgendetwas tastete, das er als Verbandsmaterial verwenden konnte. Es vergingen einige bluttriefende Sekunden, bis Finn in einer selten genutzten Innentasche seiner Jacke ein längst vergessenes Stofftaschentuch gefunden und entgegen dem Widerstand des fummeligen Reißverschlusses auch daraus geborgen hatte. Als notdürftiger Verband drei Mal um die Hand gewickelt und ungelenk provisorisch verknotet hielt der Stoff zumindest den Großteil der Blutung auf und versprach zudem, die schmerzhafte Verletzung vor weiteren physischen Belastungen oder eindringendem Dreck zu schützen. Gab es so etwas wie Tetanusimpfungen an der Grenze? Nun, Finn würde es wohl herausfinden müssen - aber erst nachdem er Astrid aus diesem vermaledeiten Loch befreit hatte!
Begleitet von gelegentlichen unterdrückten Schmerzenslauten nahm Finn verbissen seine Arbeit an der Angel wieder auf. Unterstützt von Wackel- und Drehbewegungen fügten sich die drei Stangenteile zu einer erstaunlich stabil wirkenden Rute zusammen. Skeptischer stand Steinmeier dafür der Angelschnur gegenüber, die sich vergilbt und widerwillig von einer kunstvoll verzierten Metallrolle abwickeln sollte. Mangels besserer Alternative und mit viel Fingerspitzengefühl und Feinarbeit sowie einer gehörigen Prise Geduld fädelte er dann aber doch die störrische Kordel durch die diversen Ösen (von denen eine verdächtig blutverschmiert war). Zuletzt gelang es ihm dann noch, den Metallbecher mit Hilfe einer Art Dreibein aus Messingstäben am Ende des Angelfadens zu befestigen, sicherheitshalber mit einem vierfachen Knoten, auf dass die wertvolle Fracht nicht am Schluss noch wegen seiner Ungeschicklichkeit verloren gehen konnte.

19. Aus der Tiefe (5)

Steinmeier setzte seinen Fuß auf den im blauen Licht feucht glänzenden steinernen Absatz. Er stutzte, wusste im ersten Moment aber nicht warum. Dann begriff er, dass sein Schritt von keinerlei Geräusch begleitet gewesen war. Ungläubig zog er die Augenbrauen zusammen und scharrte mit dem Fuß. Nichts. Langsam dämmerte ihm die vage Erkenntnis, dass er eigentlich schon länger keine Laute mehr gehört hatte. Ein kurzes Tappen an seine Ohren zeigte ihm, dass diese wohl noch funktionierten und die Ursache für das Phänomen wohl anderenorts zu suchen war. Etwas unsicher drehte er sich zurück zur Treppe und ging ein paar Stufen hinauf und wieder hinunter. Nichts. Das Gefühl der klammen kühlen nebligen Luft und das ewige blaue Leuchten waren die einzigen Wahrnehmungen hier unten. Ein merkwürdiger, unwirklicher Ort.
Sich auf sein ursprüngliches und “schicksalshaftes” Vorhaben besinnend, wagte er sich vorsichtig mit kleinen Schritten näher an den Rand des dunklen Abgrundes in der Mitte heran. Offenbar war auch dieses Loch das obere Ende eines gemauerten Schachtes, dieses Mal passte aber der Stil der Einfassung nicht zum Mauerwerk der Schachtwände. Während die Plattform, auf der Steinmeier stand, wie der Rest des unterirdischen Gebäudes (Tempels?) aus graubraunen Stein bzw. Steinblöcken bestand, begann hier unmittelbar unter der Einfassung eine unebene Brunnenwand aus nur grob behauenen und fast fugenlos zusammengesetzten Steinen deutlich dunklerer Färbung, die sich hinunter in die Dunkelheit bis außer Sichtweite zog.
War es wirklich eine gute Idee, dort hinunter zu starren? Das Nietzsche-Zitat drängte sich in Finns  Gedanken: “Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” Dieser spezielle Abgrund führte in ein Totenreich und hatte wohl schon einmal ein Monster beherbergt. Steinmeier schluckte trocken und wich zurück. Nahe der Schachtwand kniete er sich zu Boden und begann damit, die Angel zusammenzubauen. Das Bündel raschelte und scharrte, als er es auf die Steinplatten der Plattform legte, was ihn stutzen ließ. Vorsichtig klopfte er selbst mit dem Fuß auf den Boden - doch nichts war zu hören. Wie konnte es sein, dass er keine Geräusche verursachte, aber dieses banale Ding dort schon? Ein unangenehmer Verdacht keimte in ihm auf: Konnte es hier, im unmittelbaren Umkreis eines Tores zur Unterwelt eine Rolle spielen, dass er vorhin bei dem Unfall im Aufzug selbst quasi tot gewesen war? Wurde hier womöglich Sinas Heilzauber, oder was auch immer ihn zurück zu den Lebenden geholt hatte, angefochten und ungültig? Oder ... war er dort oben, als er unter dem Vogelschwarm hindurchgekrochen war, am Ende doch getroffen worden und einmal mehr gestorben ohne es zu merken? Der Brunnen und seine unwirkliche Umgebung - all das mochte vielleicht nur eine Metapher sein für seinen eigenen Übergang ins Jenseits! Wenn er nur noch ein Geist war, dann machte es auch Sinn, dass seine Schritte nicht zu hören waren und dass diese Nebelschwaden ihm nicht auswichen. Paralysiert hing Finn dem Gedanken nach, versuchte seine Logik zu entkräften und fühlte seine Blicke wider seinem bewussten Willen immer wieder in Richtung Mitte des Absatzes wandern, hin zum Abgrund, zum weit offen stehenden Tor zum endgültigen Jenseits.

19. Aus der Tiefe (4)

Seine Fingerkuppen berührten erst halbfeuchtes rauhes und bereits etwas brüchiges Leinengewebe, dann schloss sich seine Hand um einige vom Stoff lose umschlossenen etwa daumendicken Stäbe, die sich leicht gegeneinander bewegen ließen. Das Ganze wirkte wenig bedrohlich, sondern eher wie Werkzeug oder ein Zeltgestänge. Finns Neugier überwog nun seine Vorsicht bei weitem und er nahm das Bündel hoch, wickelte es einigermaßen behutsam aus und versuchte zu verstehen, was er da sah: Drei kurze Holzstäbe, die so wirkten, als könnte man sie zusammenstecken, sowie eine lange um ein Stück Holz gewickelte Schnur, an deren Ende ein schlichter Zinnbecher befestigt war. Mit etwas Phantasie konnte man sich die Einzelteile zu einem Ganzen zusammengesetzt als eine etwas merkwürdige und primitive Angel vorstellen, an deren Ende sich eben ein Becher anstelle eines Angelhakens befand. Finn stutzte, dann erschien auf seinem Gesicht wieder sein rebellisches Markenzeichen-Grinsen. Das Ding kam ihm gerade recht. Zufall? Egal. Schicksal! Das Bündel mit der Angel unter den Arm geklemmt, machte er sich auf den Weg zur anderen Treppe. Schicksal hin, Schicksal her - er hatte nicht vor, auf der viel zu schmalen und viel zu alten Treppe über einem leuchtenden Brunnenschacht mit Direktverbindung zum Totenreich um ein menschliches Skelett herumklettern zu müssen.
Der Abstieg in den Schacht glich einem Ausstieg aus der restlichen Welt. Je tiefer Finn in die blau durchstrahlte Tiefe hinunterstieg, desto beherrschender wurde die kühle, neblig feuchte und beklemmend ruhige Atmosphäre im Inneren des Brunnens. Bevor er die Treppe betrat, hatte er noch einmal überschlagen, ob es nicht reichen würde, mit der Angel oben am Rand des Brunnens zu bleiben. Jedoch schien ihm die Schnur zu kurz und auch wenn die Lichtschleier unten im Schacht eine Abschätzung der Tiefe schwierig machten, wirkte der Brunnen zu tief - genauer gesagt ließ sich kein Grund ausmachen. Warum hätte sich schließlich der Tote auf den Stufen überhaupt die Mühe eines Abstiegs machen sollen, wenn die Angel als Werkzeug ausgereicht hätte? Nein, ihm blieb keine andere Wahl, als in den Brunnen hinunter zu steigen, wenn er Astrid retten wollte.
Hier unten war die Luft feucht und von einem dünnen seltsamen Nebel durchdrungen, der das blaue Leuchten zu tragen und zu verstreuen schien. Die unebenen und stellenweise fast völlig ausgetretenen Steinstufen waren nass und glitschig und jeder einigermaßen sichere Schritt erforderte Konzentration und Bedacht. Schon gut zwanzig Meter über Steinmeiers Kopf schwebte der Brunnenrand, zu einer dunklen Scheibe geschrumpft, als sich unten im Nebel undeutlich ein Ende der Treppe abzuzeichnen begann. Entgegen Finns Befürchtungen hörten die Stufen aber nicht einfach im Vertigo-induzierenden Nichts auf. Sie führten auch nicht einfach zu einer trüben Wasseroberfläche und darunter weiter, um allen Schrecken den Aufstieg zu erleichtern, die aus dem Totenreich hinauf drängen wollten. Stattdessen endeten beide Treppen auf einer weiteren steinernen Plattform, in deren Mitte ein rundes, drei Meter durchmessendes völlig schwarzes Loch klaffte, aus dem unentwegt blau lumineszierende Nebelschwaden aufstiegen. Diesmal führte keine Treppe weiter hinunter. Für einen lebendigen Menschen war es nicht vorgesehen, weiter nach unten zu steigen.

19. Aus der Tiefe (3)

Dummerweise hatte Fiedler keine guten Tipps gehabt, wie er sich im Umfeld des Brunnens zu benehmen hatte. Allerdings zweifelte Finn grundsätzlich daran, ob der Detektiv überhaupt mehr Details hatte. Darüber hinaus war er auch sich nicht gänzlich sicher, inwiefern die vorhandenen Informationen von Gedächtnislücken verfälscht worden waren, sei es aufgrund von Zeit, Whiskey oder berufsbedingten Erschütterungen von Fiedlers Schädel. Bislang hatte sich eigentlich gar nichts an der Grenze als rundweg harmlos herausgestellt und Finn beschloss, lieber behutsam vorzugehen. Andererseits - wenn das Schicksal ihn hätte sterben lassen wollen, dann wäre er sicher schon im Finstervogelschwarm verendet.
Mut fassend schob er das Kinn vor, richtete sich mit schmerzenden Knien auf und sah sich den strahlenden Brunnen vor sich näher an. Getreu dem ersten Eindruck handelte es sich um einen runden, in Stein gefassten Schacht, dessen Wände mit den gleichen glatten braungrauen Steinen ausgekleidet waren, die bereits den Boden der gesamten Halle auskleideten. Das Rund der Brunnenöffnung war an zwei Stellen von den Absätzen zweier Treppen unterbrochen, deren etwa einen halben Meter schmale gefährlich rund getretene Stufen sich als zwei steile parallel gewundene Spiralen in die Tiefe hinab zogen. An den matt glänzenden mit angelaufenen Wellenmustern verzierten Steinwänden tanzten träge Lichtschleier mit weichen Schatten und suggerierten eine ruhige, kaum bewegt und irgendwie blau beleuchtete Wasseroberfläche unten in der Tiefe.
Es war ein etwas dunklerer unebener Umriss ein paar Meter unterhalb des Brunnenrandes auf der Treppe ihm gegenüber, der Steinmeiers Aufmerksamkeit auf sich zog. War das eine weitere Gefahr, die ihm dort auflauerte? Reflexartig tastete er nach einer Waffe an seinem Gürtel, zog seine Hand aber etwas peinlich berührt wieder zurück als er realisierte, dass er unbewaffnet war. Erneut wallte Sarkasmus in ihm auf: sein großartiger Plan, das Schicksal herauszufordern wurde natürlich ungleich besser und heldenhaft dämlicher, wenn er sich gerade mal mit bloßen Händen wehren könnte! Finn riss sich zusammen. Was auch immer dort lag, gefährlich oder nicht, es würde ihn dank seiner Gabe gar nicht erst wahrnehmen, wenn er etwas näher rückte, um sich die Sache anzusehen. Langsam, vorsichtig und geduckt schlich er um den Brunnen herum in Richtung der gegenüberliegenden Treppe, seine Schritte bei weitem übertönt vom Brausen und Flattern des tödlichen Vogelschwarms, keine drei Armlängen entfernt.
Nach ein paar Metern und einigen Anflügen vagen Grusels gestand sich Steinmeier ein, dass es die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels waren, die dort in die Tiefe des Brunnens starrten. Der Rest des Skelettes lag in vermoderten Tuchfetzen wenig zusammenhängend verteilt über die nächsten Stufen. Bei allem zivilisationskonditionierten Grauen ob dieser Erkenntnis verspürte Finn aber auch eine gewisse Erleichterung: Ein Skelett in so schlechten Zustand würde sich wohl (hoffentlich) nicht als Untoter gegen ihn erheben. Jedenfalls nicht, so lange nicht dieser Irre Möchtegerngott namens Samedi hier aufkreuzte. Der letzte Gedanke ließ Finn innerlich zusammenzucken. Verdammt. Er war hier nahe am Totenreich. Siedend heiß fiel ihm das “Gesetz der Namen” wieder ein, das ihm einer von Fiedlers aalglatten Kumpels in seinen ersten Wochen an der Grenze nahegebracht hatte. Namen hatten hier Macht. Einen Namen auszusprechen hieß, dessen Besitzer zu rufen - und insbesondere bei Geistern, Göttern und sonstigen Beschworenen war das gerne eine fahrlässig ausgesprochene Einladung mit schwerwiegenden Folgen. Er nahm sich fest vor, den Namen des Barons nicht auszusprechen und wenn möglich, nicht einmal explizit zu denken.
Entschlossen richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf die sterblichen Überreste auf der Treppe. Ein paar Schritt oberhalb der skelettierten Leiche lag noch etwas auf den Stufen, das aussah, wie ein längliches Bündel aus grobem, im blauen Licht des Brunnens schwarz erscheinenden Stoff. War das der Grund für das Ableben des Toten? Nun gut, die wenigsten Finn bekannten und vorstellbaren Monster waren in einen schwarzen Sack gewickelt - aber konnte man das wissen? Verächtlich schnaubend besann sich Steinmeier auf sein neu beschlossenes Motto, das Schicksal herauszufordern und hielt auf das Bündel zu. Was es auch war, es bewegte sich nicht. Bereit zurückzuspringen beugte er sich hinunter und streckte eine Hand aus, um es aufzunehmen.

19. Aus der Tiefe (2)

Der Boden war kalt und so trocken, wie es der Boden einer finsteren Höhle eben sein konnte. Für einen Moment musste Finn gegen den Gedanken an toxischen Finstervogelkot ankämpfen, dann eilte ihm aber seine Vernunft zur Hilfe mit dem Hinweis, dass man so eine Guanomenge doch sicher hätte riechen müssen. Da die Luft hier zwar feucht und klamm und nach Keller aber keineswegs nach Vogelkacke roch, tastete er sich fast mutig auf allen Vieren voran.
Er war noch keine Körperlänge vorangekommen, als plötzlich ein Luftzug seine Haare und sein rechtes Ohr streifte. Ein zweiter folgte unmittelbar, als wäre etwas knapp über seinem Kopf vorbei geflogen. Unwillkürlich zog Steinmeier den Kopf ein und fluchte innerlich über seinen Leichtsinn und Fiedlers uneindeutige Ja-Nein Spielchen mit der Ratte. Klar wichen die Finsterviecher dem Kirchengestühl aus - aber offenbar nur verdammt knapp!
War jetzt der richtige Moment zum Umkehren? Nein. Das Schicksal sollte entscheiden, da blieb kein Platz für Feigheit oder Selbsterhaltungstrieb. So eng es ging duckte er sich in die Ecke zwischen Bank und Boden und robbte auf Ellenbogen und Knien weiter. Dabei hoffte er inständig darauf, dass die Vögel in den Zwischenräumen zwischen Sitzreihen nicht den ganzen Luftraum bis zum Boden ausnutzen mochten. (Sicher würden sie ihn nicht bemerken.)
Meter um Meter schob sich Finn voran. Immer dichter wurde der Vogelschwarm über ihm und immer häufiger sauste ein gefiedertes, mit Krallen, Klingen und Dornen bewehrtes Etwas an ihm vorbei. Mehr als einmal spürte er, dass etwas rasch und leicht aber reißend und rupfend über seine Jacke streifte - und jedes mal fuhren ihm Schrecken und die Erwartung brennender Schmerzen eiskalt durch die Glieder.
Dann war mit einem Mal der Spuk vorbei. Etwas überrascht und ziemlich erleichtert registrierte Finn, dass an seinem Kopf keine manifestierten federbewehrten Vogelleiber mehr vorbeizischten. Dennoch besaß er die Geistesgegenwart nicht gleich aufzuspringen, sondern stattdessen noch ein Stückchen weiter zu kriechen und dann noch eines, bis er sich sicher war, dass auch seine Füße nicht mehr unter dem "Schatten" des Schwarms waren. Dabei bemerkte er vor sich ein schwaches, aber mit zunehmender Annäherung stärker werdendes bläuliches Glimmen, dessen Ursprung sich in Bodennähe befinden musste. Leuchtete der Brunnen etwa? Was war aus der "guten Tradition" der finsteren gefährlichen Orte geworden? Den eigenen ironischen Gedanken genießend löste Steinmeier seinen Körper von den kalten Pflastersteinen, drückte sich vorsichtig hoch auf alle Viere (die Vögel würden ihn auch so nicht bemerken) und krabbelte vorsichtig in Richtung der aus dem magisch verstärkten Dunkel immer deutlicher hervorstechenden Lichtquelle. Mit jedem Schritt wich die unnatürliche Schwärze mehr und mehr zurück, bis sich ein mit breiteren Steinblöcken umsäumter, etwa fünf bis sechs Meter durchmessender kreisrunder Schacht aus den Schatten schälte. Aus der von Finns Position nicht einsehbaren Tiefe entsprang das bereits zuvor erahnte blaue Glimmen  und tauchte die Szene in diffuses, unregelmäßig pulsierendes Licht, der Helligkeit einer Vollmondnacht entsprechend.
Ein vorsichtiger Blick über die Schulter zeigte, dass der Vogelschwarm keine 2 Meter hinter ihm wie eine wabernde flatternde Wand den Luftraum füllte. Diesen wie von einem unsichtbaren Kreis bestimmten inneren Radius unterschritt jedoch keines der unangenehmen Wesen - zumindest nicht, so lange sie Finn nicht bemerken würden. (Und das würden sie nicht.) Zeit und Anlass genug also, um sich zunächst einmal mit dem leuchtenden Abgrund vor sich zu beschäftigen - die wenigsten Brunnen strahlten blaues Licht aus, nur um blau zu leuchten. So konzentriert wie eben möglich versuchte er sich an das zu erinnern, was Fiedler über den Brunnen erzählt hatte: Das Ding war ein Loch in der Realität, das zu einer Art Totenwelt führte. Außerdem war es verdammt alt und zumindest früher von einer Kreatur bewohnt, die einen Totenkult um sich initiiert hatte. Schaudernd schüttelte er den Kopf. Wäre ihm so etwas vor zwei Jahren als Drehbuchvorlage angeboten worden, hätte er die Nase gerümpft und herablassend freundlich den absurden B-Movie abgelehnt. Steinmeier schüttelte widerwillig den Kopf und besann sich auf die Gegenwart.

19. Aus der Tiefe (1)

Kein halbes Dutzend Schritte hatte sich Steinmeier von den anderen entfernt, als sich die Dunkelheit wie dichter Nebel um ihn schloss. Er warf einen ungewollt verunsichert wirkenden Blick zurück über die Schulter und sah Fiedler und Sina hinter sich. Offenbar war die Beschworene Fiedlers sarkastischer Aufforderung nachgekommen und hatte für Licht gesorgt,  denn um ihre Haare tanzten nun gelb-blaue Flammen. Dabei wirkten die Umrisse der beiden ihm Nachsehenden seltsam undeutlich und diffus gezeichnet und von allen Seiten schienen schwarze wabernde Schatten in die Szene zu kriechen. In ein paar Schritten würden sie - würden sie von der Dunkelheit verschlungen werden.
So mutig wie möglich den Gedanken an eine Umkehr verwerfend wandte Finn seinen Blick wieder nach vorne, wo sein eigener Taschenlampenschein einen aussichtslosen Kampf gegen die auf ihn eindringende Finsternis führte. Würden die Vogelviecher auf Licht reagieren? Würden sie seine Taschenlampe wahrnehmen, obwohl sie ihn vergessen hatten? Nein, die Vögel würden ihn nicht bemerken. Auf solch abwegige Gedanken durfte er sich gar nicht erst einlassen - also schnell etwas anderes denken!
Unwillkürlich zwängte sich ein sarkastisches Lächeln in seine Mundwinkel. Offenbar war es sein Schicksal, düstere und gefährliche Orte alleine zu betreten. Er dachte an den gerade überstandenen Albtraum im Aufzugsschacht, während er weiter seine Schritte bedächtig und möglichst geradlinig zur Raumesmitte lenkte. Die tintenartige Schwärze, die ihn und sein kleines Licht mehr und mehr bedrängte, war völlig anders als die graubraun flirrende Dunkelheit seiner Nahtoderfahrung. Wenn er hier den Tod finden sollte - würde dann diese unnatürliche Finsternis dem grauen Wabern weichen?
Finn unterbrach seine Gedankenspiele und hielt inne, als jäh die dunkelbraun glänzende hölzerne Armlehne eines alten Kirchengestühls aus der Dunkelheit wie durch eine schwarze Wasseroberfläche in seinen Lichtkegel stieß. Das Ziel war nah und die Richtung stimmte auch fast. Innerlich machte er sich ein Kompliment für seinen Orientierungssinn. Dann versuchte er angestrengt, vor sich die Konturen der von Sina erwähnten Bankreihen auszumachen, doch die ölige Schwärze gab keines ihrer Geheimnisse preis. Dafür realisierte Steinmeier, dass das zuvor eher im Hintergrund wahrnehmbare Rauschen mittlerweile so weit angeschwollen war, dass es als eine Vielzahl leise zischender Flattergeräusche erkennbar wurde.

Erneut besann er sich darauf, dass die Vögel sich nicht um ihn scheren würden. Einmal mehr wog er die Risiken ab. Dann duckte er sich neben die so eben gefundene Bank, schaltete Fiedlers Taschenlampe aus und verstaute sie so gut es eben ging in seiner Jackentasche. Nein, die Biester sollten gar keine Gelegenheit haben, sein Licht zu bemerken und wenn möglich sollte ihn auch keines der Viecher versehentlich umbringen. Da bevorzugte er es doch, ein paar Meter würdelos durch die Dunkelheit zu krabbeln - zusehen konnte ihm hier immerhin keiner.

Edtiorial: Sendepause

Vielen Dank für's Lesen! Vox Solis kommt planmäßig am Dienstag wieder mit "19. Aus der Tiefe".

18. Ins Dunkel (7)

"Tun Sie, was Sie tun müssen, Steinmeier. Die Kapsel zu benutzen ist einfach: Fassen Sie sie an beiden Enden an, drücken Sie die beiden Hälften leicht gegeneinander und drehen Sie den oberen Teil etwa eine Viertelumdrehung im Uhrzeigersinn. Ein klassischer Bajonettverschluss eigentlich. Das ganze geht ohne Gewalt, versteht sich. Wenn Sie für das Drehen Kraft aufwenden müssen, machen Sie etwas falsch. Danach müssen sie nur noch Astrid dazu bewegen, in den Behälter hinein zu schlüpfen. Sobald eine Seele das Ding betreten hat, schließt sich der Mechanismus von selbst wieder und sie kann erst wieder entweichen, wenn jemand Körperliches die Kapsel wieder öffnet. Vielleicht bereiten Sie Astrid auf diesen Umstand vor, nicht dass sie sich unnötig gefangen fühlt."
Steinmeier nickte bedeutungsschwer und ließ die Hand mit der Seelenbehälter in der eigenen Jackentasche verschwinden. Wofür war dieses Ding eigentlich gebaut worden? Was tat man mit gefangenen Seelen? Wofür brauchte Fiedler denn wirklich Astrids Seele? Und wenn er schon Fiedler traute, was garantierte ihm, dass dessen Auftraggeber mit offenen Karten spielte? Was für eigene Interessen hatte denn Sina? Die Zweifel kehrten zurück, verblassten aber kurzerhand vor einem klaren Gedanken: Astrid hatte ausdrücklich gesagt, dass, wenn sie schon zurückgeholt werden sollte, dann am liebsten von ihnen. Es war also klar: Er würde tun, was er tun musste und das war, Astrid mit dieser Kapsel aus dem Brunnen zu ziehen.
Fiedler erwiderte sein Nicken und hielt ihm dann noch den Griff seiner Taschenlampe entgegen. "Da, nehmen Sie etwas Licht mit. Es wäre doch schade und dumm, wenn Sie in der Dunkelheit in den Brunnen fallen würden. Außerdem bin ich mir sicher, dass weder Paradox noch Zauberkraft unserer Beschworenen hier von einem kleinen Lichtzauber überstrapaziert werden. Nicht wahr Sina?"
"Danke." Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm Finn den schwarzen Metallgriff der Lampe entgegen, registrierte die vielen winzigen Schrammen seiner kühlen Oberfläche und die klamme Feuchte, die sich nun von Fiedlers Händen nun auf seine übertrug. Irgendwie vermittelte das schwere Metall der Taschenlampe ein Gefühl von Sicherheit und Zuversicht, das er gerade mehr als gut gebrauchen konnte. Jetzt war ein guter Moment zu gehen.
"Wünschen Sie mir Glück ... und fragen Sie mich nicht, was Sie tun sollen, falls ich da nicht mehr rauskomme." Sein berühmt trotziges Rebellengrinsen aufsetzend sah sich Steinmeier noch einmal zu Sina um, die ihm ebenfalls aufmunternd zunickte. Dann setzte er sich in Bewegung dorthin, wo Sina zuvor die Mitte des Raumes angedeutet hatte und wo sich die Dunkelheit zu einem stofflichen Vorhang aus Schwärze verdichtete. Schwärze und Finstervögel.
Finstervögel, die ihn nicht sehen durften.
Er konzentrierte sich darauf.