17. Andere Anweisungen (4)

“Ahm...” begann Brack unsicher und ein wenig gekränkt, da hob Unbehaun stillegebietend seinen klingenumwirbelten Arm und schnitt seinem Untergebenen das Wort ab: “Ich will Sie eigentlich nicht lange auf die Folter spannen, allein schon, weil mir die Zeit dafür fehlt. In den Ereignissen, die Sie in Ihrer Verantwortung sehen, finde ich einiges an Selbstüberschätzung - wenn auch nicht von Ihrer Seite, sondern von Frau Hasmann. Offenbar ist der jungen Dame der Triumph über den Puppen-Troll-Hybriden zu Kopf gestiegen, denn was sie sich mit dem Aufzug geleistet hat, lässt jede Selbstkontrolle vermissen. Bedenken Sie, welche Auswirkungen der Absturz gehabt hätte, wenn ein Grenzer - womöglich sogar Alexander Fiedler - bei dem Vorfall ums Leben gekommen wäre! Abgesehen vom Tatbestand der leichtfertigen Tötung mit magischen Mitteln wäre dieser Bruch des Durnburger Friedens auch politisch unserem Bund zur Last gelegt worden. Mit ihrem törichten Fluch hat Frau Hasmann unnötig Leben von befreundeten und möglicherweise neutralen Personen gefährdet und einen Bruch des Paktes von Durnburg riskiert. Natürlich ist es offensichtlich, dass in der Spielhalle eine wie auch immer geartete beeinflussende Wirkung vorgeherrscht hat, aber ich erwarte von meinen Adepten, dass sie gerade solche Bedrohungen antizipieren und kompensieren!” Die Stimme des Magiers hatte sich kaum verändert, doch der Unterton und der wilder und schneller werdende Tanz der Dolche um seine linke Hand verrieten aufwallenden Zorn, der aber rasch wieder zum gewohnt unwägbar sachlichen Ton abklang. “Was mich zur Insubordination bringt.”

Unvermittelt drehte sich Unbehaun zu dem verblüfften und unwillkürlich das Schlimmste erwartenden Brack um. “Ist Ihnen bekannt, dass Sie nicht der Erste sind, der mir über das Versagen Ihres selbst verantworteten Vorhabens berichtet? Nein? Nun, einer Ihrer Handlanger hielt es bereits für nötig, mich vor Ihnen über die Geschehnisse zu informieren.” In Bracks Kopf rasten die Gedanken. Zwar hatte er nicht die höchste Meinung über Beil und Mohrek, dass sie ihn hier anschwärzen wollten, konnte er sich aber nicht vorstellen. Zählte Unbehaun die Hasmann zu seinen Handlangern? Wohl kaum. Wer kam dann in Frage?


Als er sich scheinbar lange genug an Unbehauns Verwirrung geweidet hatte, fuhr dieser fort: “Bevor Sie sich über die zweifelhafte moralische Integrität Ihrer Männer zu viele Sorgen machen: Der Informant hatte mitnichten vor, Sie ans Messer zu liefern.” Unwillkürlich schielte Brack zu den Dolchen. “Stattdessen erklärte er, das Scheitern der Aktion wäre einzig und allein in seinem eigenen Versagen begründet.” Unbehauns durchdringender Blick nahm erneut wie ein Bannstrahl Besitz von Brack. “Es sieht so aus, als würde es hier zum praktizierten Brauch, die Verantwortung für das Versagen anderer zu übernehmen. Wissen Sie, was ich daraus schließe?” Ergeben ließ Brack eine weitere rhetorische Frage über sich ergehen. “Ihre ‘Schergen,’ oder wie Sie sie nennen, entwickeln einen gewissen Zusammenhalt und nehmen Sie als Anführer und Vorbildfunktion in Schutz. Zwar missfällt mir der dadurch latent im Raum stehende Gedanke, welche Position diese Männer wohl einnehmen würden für den rein hypothetischen Fall einer Konfrontation zwischen Ihnen und dem Bund, repräsentiert durch mich. Dennoch halte ich die Situation für den Bund für vorteilhaft, so lange ich mir Ihrer Loyalität sicher sein kann. Gerade für eine Organisation wie die unsere ist eine Führungsperson, mit der sich die weltliche Belegschaft assoziieren kann, durchaus nützlich.”

17. Andere Anweisungen (3)

Auf eine schmerzhafte Diskussion mit ungewissem Ausgang gefasst, straffte Brack seine Haltung und hob die zur Faust geballte Hand, um bei Unbehaun anzuklopfen. Bevor jedoch seine Knöchel Kontakt mit dem fein gemaserten Holz machen konnten, wich dieses unvermittelt zurück und die schwere Tür schwang lautlos auf. Einige Meter weiter stand die hochgewachsene schmale Gestalt von Ebenezer Unbehaun mitten in dessen Büro, die rechte Hand noch in der Vollendung einer nach Zauberei anmutenden Geste begriffen. Allerdings wurde Bracks Aufmerksamkeit viel mehr von der Linken des Magiers angezogen, um die gleich einem pulsierenden spiraligen Tanz die sieben fliegenden Dolche kreisten.

“Brack! Verschwenden Sie nicht meine Zeit, indem Sie gedankenverloren vor meinem Büro stehen. Wenn ich auf geistloses Herumstehen irgendwelchen Wert legen würde, hätte ich dort mit Sicherheit eine Wache postiert.” Unbehauns Ton wirkte leicht angespannt aber wie immer nicht nennenswert erregt. “Kommen Sie herein, schließen Sie die Tür hinter sich, und lassen Sie uns ein paar Worte wechseln!”

Reflexartig tat Brack wie ihm geheißen, den Blick nie gänzlich von dem tödlichen Wirbel der schwebenden Klingen abgewandt. Kaum war das Türschloss mit präzisem Schnappen hinter ihm eingerastet, fuhr Unbehaun fort. “Bevor Sie versuchen zu erraten, was ich schon weiß, kläre ich Sie im Sinne der allgemeinen Effizienz wohl am besten selbst über meinen bisherigen Informationsstand auf: Unser Botengeist wurde von einem anderen Beschworenen überwältigt und verschlungen. Das andere beschworene Wesen hat dann in Menschengestalt mit meinem Brief Herrn Fiedler angeheuert und wahrscheinlich die subsumierte Essenz des Boten genutzt, um Frau von Radewitz zu täuschen. Irgendwie ist dann die Substanz des Botengeistes in den Troll der neuen Schlosserbrücke geraten, wo Sie und Frau Hasmann sie aufgespürt haben. Mit Hilfe einer rituellen Verbindung konnte die andere Beschworene in eine Kneipe im Alten Hafenviertel verfolgt werden, wo Frau Hasmann außer Gefecht gesetzt wurde. Korrekt? Ergänzen Sie bei Bedarf!”

Ohne direkt hinzusehen wusste Brack, dass sich Unbehauns stahlblaue Augen in die seinen bohrten. Er nickte und es gelang ihm, seinen Fokus von den bedrohlich sirrenden Messern abzuwenden und den Blick des Magiers zu erwidern. “Die Zusammenfassung ist soweit richtig.” Durch die gewohnte Situation der direkten Konfrontation fiel es Brack leichter, gefasst und professionell zu bleiben. “Nach dem Ausfall von Frau Hasmann versuchten Mohrek und ich dann, Fiedler und den Geist zu verfolgen, wir gerieten aber in einen Hinterhalt und wurden abgehängt. Im Übrigen ist Mohrek schwer verletzt und kampfunfähig, aber immerhin stabil. Derzeit habe ich keine Spur, um die Verfolgung unmittelbar wieder aufzunehmen. Des Weiteren ist mir bewusst, dass die Operation von mir zu verantworten ist.” Er unterbrach seine Rede kurz, um Unbehaun die Möglichkeit eines Einwurfes zu geben, doch dieser sah ihn nur mit leicht angehobenen Augenbrauen auffordernd an, so dass er fortfuhr: “Mein nächster Schritt wäre wohl, mich bei meinen Kontakten und den einschlägigen Quellen umzuhören, wo die Gruppe um Herrn Fiedler als nächstes auftaucht. Wenn ich allerdings Fiedler richtig einschätze, wird es schwer ihn zu finden, wenn er nicht gefunden werden will. Haben Sie andere Anweisungen?” Brack verstummte in Erwartung einer ungewissen Antwort und konzentrierte sich darauf, seinen Blick nicht auf die kreisenden Klingen abgleiten zu lassen.

Einen ewigen Moment lang stand die Zeit still so lange Unbehaun schwieg, nur die sieben Dolche zogen ihre Bahnen - hypnotisch gleichmäßig, doch zu schnell, um ihre Konturen klar auszumachen. Dann zog ein rasch vergänglicher Anflug von Amüsement über das Gesicht des Magiers. “Andere Anweisungen? Was hat die ganze Sache denn mit Anweisungen zu tun? Haben Sie den Kopf zu Frau Vanderduhn gebracht - oder gar Frau Hasmann bei ihren Studien belassen?”

Brack zögerte eine klamme Sekunde, bevor er sich zu einem knappen “Nein.” durchrang. Eine längere Erklärung, wenngleich angemessen, hätte sein Gegenüber wahrscheinlich sowieso nicht geduldet. Darüber hinaus fand Brack rhetorische Fragen ermüdend und war sich im Grunde sicher, dass Unbehaun die Antworten schon längst kannte. Wie erwartet deutete der Magier ein Nicken an und dozierte weiter: “Was Sie mir gerade berichtet haben, geschah sicher nicht auf meine Anweisungen. Wie soll ich Ihr Vorgehen also betrachten, als Selbstüberschätzung oder als Insubordination?” Mit einer unterkühlten Geste wandte Unbehaun Brack den Rücken zu und machte sich an etwas auf seinem Schreibtisch zu schaffen, während er offensichtlich auf eine Antwort wartete.

17. Andere Anweisungen (2)

Ob sich diese spontane Entscheidung seines Schergen nun positiv oder negativ auf den Erfolg der gesamten Mission ausgewirkt hatte, war Brack allerdings nicht ganz klar: In dem Augenblick, in dem Irene Hasmann ohnmächtig in Beils fangbereiten Armen zusammensackte, war die magische Flipperkugel im Aufzugsschacht mit einem fiesen Geräusch zerborsten. Sekunden später stürzte ratternd und kreischend die Aufzugskabine ab. Diesmal war es Brack gelungen, rasch auf die neue Situation zu reagieren. Diesen Absturz würde wahrscheinlich niemand überlebt haben. Oben im Schacht jedoch waren ein in der Dunkelheit ein paar Gestalten zu erahnen gewesen: Zumindest ein Teil ihrer Zielpersonen hatte sich also aus dem Lift retten können.


Kurzerhand hatte er Beil mit der bewusstlosen, unberechenbaren und ihm zudem noch schutzbefohlenen Frau Hasmann zurück ins Hauptquartier geschickt, bevor er dann mit Mohrek in den Liftschacht gestiegen war. Die darauf folgende Kletterpartie an der rostigen Serviceleiter im Schacht hatte ihn einmal mehr vor Augen geführt, dass er auch nicht jünger wurde. Zum Teil mochte er es auf das Gewicht von Waffen und Rüstung schieben, doch dem bärenstarken und fast zwanzig Jahre jüngeren Mohrek war er nicht ansatzweise hinterhergekommen. Dazu war es wiederum sein eigener Fehler gewesen, Mohrek nicht zum Zusammenbleiben geordert zu haben. Natürlich war der Heißsporn vorausgestürmt, darauf bedacht, eigenhändig die Verfolgten einzuholen - und natürlich war er voll in die Falle gerannt.


Jedes Kind der Grenze wusste, was ein Einsiedler war - aber nur wenige Grenzer waren sich der physischen Bedrohung bewusst, die von einer Horde dieser Kreaturen ausgehen konnte, wenn sie ausgehungert und gleichzeitig nahezu unbeobachtet waren. In seiner Torheit und taktischen Unfähigkeit hatte Mohrek daher versucht, frontal zwischen den Plastikmonstern hindurchzubrechen und war übel zugerichtet worden, bevor Brack das Gemetzel mit den hartschaligen Gallertwesen für sich hatte entscheiden können. Die gute Nachricht dabei war natürlich, dass Mohrek überlebt hatte und sich hoffentlich sowohl körperlich als auch seelisch von seinen Wunden erholen würde. Damit blieb “nur noch” die schlechte Nachricht zu überbringen, dass sie bei der Verfolgungsjagd spektakulär versagt hatten. Die anderen hatten sie abgehängt und sie hatten mit dem von der Hasmann provozierten Aufzugsabsturz sogar riskiert, einen Grenzgänger aus einem anderen Bund zu töten - nach den Gesetzen des Durnburger Paktes ein schweres Vergehen!


Nach sieben Stockwerken Aufstieg im Marschtempo öffnete Brack schwer atmend und erhitzt die feuersichere Metall- und Glastür auf den Gang, an dessen Ende das Büro seines Chefs lag. Gleich würde die Gnadenfrist, die sein Fußmarsch bedeutete, vorbei sein. Gut so! Versteckspielen war nicht sein Ding. Brack zog es vor, sich als ‘Ehrenmann’ zu betrachten, der die Dinge stets so schnell wie möglich beim Namen nannte.


Verwirrend war aber, dass er eigentlich auch Alexander Fiedler als einen ‘Ehrenmann’ in Erinnerung hatte, was nicht so recht zu dessen Rolle in der ganzen Geschichte passte. Hatte nicht Unbehaun eine große Schuld bei Fiedler eingelöst, damit dieser den Auftrag für ihn übernahm? Wieso machte Fiedler dann gemeinsame Sache mit der Beschworenen, die Unbehauns Gesandte vernichtet hatte? Handelte er aus freien Stücken, um Unbehaun zu hintergehen? Wurde er gezwungen oder getäuscht? Nicht einmal auf diese Frage hatte Brack eine Antwort. Würde sein Versagen noch als adäquate Leistung für einen “Leitenden Schergen” durch gehen? Wohl kaum.

Im Zuge dieser Überlegungen verloren Bracks Schritte ihre Entschlossenheit und kamen schließlich zum Stillstand, keinen Meter vor der soliden Türe aus dunklem Holz, neben der auf einem schlichten cremeweißen Schild in nüchternen Buchstaben der Schriftzug “Ebenezer Unbehaun, Magister Princeps” stand. Brack rang mit sich selbst: War es wirklich eine gute Idee, jetzt dort anzuklopfen? Würde es nicht allen Beteiligten nutzen (oder weniger schaden), wenn er erst Bericht erstattete, nachdem er die Sache mit Fiedler und den vermaledeiten Geistern geklärt hatte? Was scherte sich ein Mann in Unbehauns Position um Zwischenergebnisse? Musste sein Vorsprechen jetzt nicht den Anschein erwecken, er wäre als “Oberscherge” der Aufgabe nicht gewachsen? Für einen Moment zögerte Brack. Dann schüttelte er knapp aber heftig den Kopf. Solche fadenscheinigen Ausflüchte und Entschuldigungen waren nur ein süßes Gift, das einen die schmerzhafte Wahrheit der eigenen Schwächen vergessen ließen! Sollten sich doch die anderen dieser Droge hingeben und den blassen Opiumtraum der Selbsttäuschung leben! Er hatte sich schon vor Jahrzehnten geschworen, auch unangenehmen Wahrheiten ins Gesicht zu sehen - so lange sie denn wahr waren.

17. Andere Anweisungen (1)

Schritt um Schritt stapfte Brack die schwarz glänzende Beton- und Kunststeintreppe des Bürogebäudes hinauf und mit jeder Stufe, die ihn seine schweren Stiefel näher an Unbehauns Büro herantrugen, wuchs das mulmige Gefühl in seinem Magen. Schon zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden musste er seinem Chef schlechte Nachrichten überbringen. Zu deutlich war ihm vom letzten Mal noch das peinigende Ritzen der schwebenden Klingen im Gedächtnis verblieben - selbst wenn an seinem Hals keine Spuren mehr davon zu sehen waren. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, als er sich ausmalte, zu welchen Zornesausdrücken sich Unbehaun diesmal hinreißen lassen mochte, wenn er vom Scheitern seiner Pläne erfuhr.


Dabei hatte sich die Sache eigentlich gut angelassen: Nach der Schlägerei mit dem verstümmelten Troll auf der Neuen Schlosserbrücke war es einer erschöpften aber zuversichtlichen Irene Hasmann relativ leicht möglich gewesen, den Geist auszumachen, der den Troll so zugerichtet hatte. Die Spur hatte sie erst in eine Spelunke im alten Hafenviertel und dann in eine Art Spielhölle geführt. Nach kurzen aber intensiven Verhandlungen war dort ein Kerl namens Giorgio bereit gewesen, ihnen einen Aufzug zu zeigen, durch den offenbar kurz zuvor das von ihnen verfolgte beschworene Wesen zusammen mit Alexander Fiedler und einer weiteren Person geflohen war.


Ungefähr von diesem Moment an war dann aber alles schief gelaufen. Dieser verfluchte Aufzugsschacht! Mit grimmigem Schwung nahm Brack eine weitere Stockwerksplattform und setzte ohne Innehalten den Aufstieg die nächste Treppe hinauf fort.


Im Nachhinein betrachtet hätte er es merken müssen! Schon seit sie auch nur in die Nähe dieser Spielautomatenhalle gekommen waren, war Irene Hasmann irgendwie nervös und merkwürdig gewesen. Gut, er hatte sie gefragt, ob alles in Ordnung war, aber er hätte ihr verstocktes "Ja, sicher!" besser nicht nach dem Wortlaut, sondern nach ihrem Ton werten dürfen. Wie konnte er sich eigentlich von der idiotischen Annahme irreleiten lassen, Magier wären Herr ihrer selbst und würden schon wissen, was sie tun?


Ohne einen koordinierten Plan für eine Verfolgung der Flüchtigen abzuwarten, hatte sie auf eigene Faust einen Zauber in den Schacht geworfen, der die Flucht der Verfolgten "gehörig bremsen" sollte. Erneut war es einfach nur dämlich von ihm gewesen, sie trotz aller Warnsignale in ihrem Verhalten, wie etwa dieser ungewöhnlich selbstherrlichen Angeberei, nicht aufzuhalten! Kaum hatte sie die ersten zischenden Worte des Spruchs begonnen, war ihr offensichtlich jede Kontrolle entglitten. Was auch immer sie da an Magie wirkte, quoll als rasend schnell wachsende schwarzviolett leuchtende Wolke aus ihrem geöffneten Mund, ihren Augen und ihrer Nase und jagte surrend den Schacht hinauf. Dann war Hasmann einfach stocksteif mit ausgebreiteten Armen in der Lifttüre stehen geblieben, während ihre manifestierte Hexerei offenbar im Aufzugsschacht wie ein schwarzer Kugelblitz hin und her zischend von den Wänden und der Decke abprallte.

Wie er noch unschlüssig da gestanden hatte, unsicher, ob er sie nun gemäß seinem Diensteid beschützen oder in Ruhe zaubern lassen sollte, war Beil schneller und entschlossener gewesen: Mit einem knappen wohlplatzierten Hieb auf den Hinterkopf schlug der von hinten herangeeilte Scherge die Zauberin nieder und bewusstlos. Später hatte er Brack berichtet, der von ihm professionell (und natürlich gewaltarm) in Schach gehaltene Giorgio habe zuvor urplötzlich seinen Widerstand eingestellt, scheinbar als ihm klar wurde, dass die Hasmann eine Zauberin war, die sich gerade anschickte, Magie zu wirken. Stattdessen beharrte er nun eindringlich darauf, dass es zu ihrer aller Besten unbedingt nötig wäre, Irene Hasman auszuschalten, bevor sie ‘zum Spielball ihrer eigenen Hexerei’ würde. Offenbar war der Spielhallenbesitzer sogar bereit gewesen, einen Schwur darauf zu leisten, dass er ohne Hintergedanken die Wahrheit sagte und der sonst eher sture Beil hatte zugestimmt und zunächst sicherheitshalber Giorgio und dann eben Irene Hasmann aus dem Gefecht gezogen.

16. Unterstadt (7)


"Nichts dergleichen werden wir tun." Fiedlers Ton klang ein wenig, als belehre er einem ungezogenes naives Kind. "Selbstverständlich werden wir, sollten wir einen Funken als Preis aushandeln, mit unserem Wort dafür bürgen - und ein gegebenes Wort ist an der Grenze Gesetz. Das sollten Sie wissen." Nach einem fast unmerklichen Stocken fuhr er fort. "Des weiteren bin ich mir sicher, dass die Antwort, die wir vom Volk der Ratten erhoffen, eher eine Kleinigkeit darstellt, die leicht beglichen werden kann."

"Aber Astrid sagte doch, der Preis..." Verwundert setzte Steinmeier zum Antworten an, doch Sinas vernichtender Blick brachte ihn zum Verstummen und seine Augen folgten denen Fiedlers, bis auch er das knappe Dutzend kleiner felliger Wesen mit langen wurmartigen Schwänzen entdeckt hatte, die mit schwarzfunkelnden Knopfaugen von den Metallrohren an Wand und Decke in ihre Richtung starrten.

"Ich grüße die Vertreter des Rattenvolkes!" Fiedlers Stimme klang ein wenig offizieller und gestelzter als sonst. "Befindet sich ein Sprecher unter euch?"

Wenn Fiedler sich eine Antwort erwartet hatte, dann blieb diese aus. An ihrer Stelle erklang aus Richtung der Wand ein leises, aber vernehmbares helles Klicken, als etwas kleines, hartes gegen eine Metallrohr schlug.

"Also nein." Zwar wirkte Fiedler ein wenig enttäuscht, jedoch entschlossen. "Dann gehe ich recht in der Annahme, dass wir den üblichen Code verwenden?"

Erneut kam statt einer Antwort ein Geräusch, diesmal aber als dreifaches Klicken in Folge.

"Also ja. Gut." Einen Moment lang wog Fiedler seine nächsten Sätze ab. "Würdet Ihr uns gegen Bezahlung von hier aus zum Tiefen Brunnen führen?"

Drei Klicks erschollen von der Wand und der Detektiv fuhr zuversichtlich fort: "Könnt Ihr uns helfen, den magischen Schutz des Tiefen Brunnens schadlos zu überwinden?"

Diesmal klickte es nur zweimal und Fiedlers Gesichtsausdruck verfinsterte sich. "Möglicherweise? Das macht die Sache komplizierter. Könnt ihr uns wenigstens Instruktionen zukommen lassen, wie der Schutzzauber zu überwinden ist?"

"Klick-Klick-Klick" tönte es von einer anderen Stelle der Wand.

"Hmmh. Ok. Werdet ihr für eure Unterstützung einen Preis verlangen?"

"Klick-Klick-Klick" klang von der Decke.

"Werdet ihr Tauschwährung als Bezahlung akzeptieren?"

Es klickte schon ein einziges Mal, bevor Fiedler den Satz überhaupt vollendet hatte.

"Gefallen?"

"Klick."

Hilfesuchend sah Fiedler zu Sina hinüber, die kurz abfällig schnaubte und dann mit rauer fester Stimme merklich gereizt die seltsam asymmetrische Verhandlung fortführte: "Ich biete maximal einen Funken für die mit meinem Gefährten vereinbarten Dienste, verlange dann aber, dass euer Volk uns auf dem Weg zum Brunnen vor Gefahren warnt und uns unaufgefordert hilft, diese zu umgehen."

Es dauerte einen kaum merklichen Augenblick, dann antwortete ein dreifaches Klicken aus Richtung der Wand.

Mit einem weiteren Schnauben griff Sina in eine Tasche, die sie am Gürtel trug, während Fiedler wieder das Wort übernahm: "Wer wird uns führen?"

Auf das Stichwort hin plumpsten zwei lebhafte Ratten von der Decke auf den Boden und huschten wenig scheu in die Mitte des Gangs vor Fiedlers Füße.

"Gut. Danke. Dann soll der Handel besiegelt sein." Eine Prise Schalk und Drama schlich sich in seine Stimme. "Schatzmeisterin, walte sie ihres Amtes!"

Sina warf ihm einen ihrer abschätzigen Blicke zu, fischte mit spitzen Fingern eine kleine runde Beere aus ihrem Beutel und legte diese auf eines der Rohre. "Dieser Gegenstand entspricht der vereinbarten Bezahlung. Dafür stehe ich mit meinem Wort und mit dem meines Beschwörers."

Sofort löste sich einer der Nager von der Rattengruppe an der Wand und beeilte sich flink, mit vorsichtigen Zähnen die Frucht aufzunehmen und zu seinen Artgenossen zu bringen. Kaum war das kleine Tier bei seinen Artgenossen angekommen, setzten sich sowohl die Ratten an der Decke als auch die an der Wand in Bewegung und krabbelten übereinander, durcheinander und schließlich die Rohre entlang davon, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.

"Ja danke auch. Das war ein echt erhellendes Gespräch." Steinmeier hatte das Geschehen verfolgt. Jetzt winkte er den Ratten hinterher und ein gespielt dümmliches Grinsen wuchs auf seinem Gesicht, als er sich zu dem ein paar Schritte vor ihm stehenden Fiedler drehte. "Wie schade! Jetzt habe ich vergessen, unsere Ratten-Lassies zu fragen, wie viel mal Klicken für 'da liegen zwei Verletzte hinter der alten Eiche' steht..."

16. Unterstadt (6)

Den Sarkasmus im Raum stehen lassend, wandte er sich ein der Gangwände zu, griff seine Waffe von unten mit der Hand am Lauf und begann, an einem der Metallrohre Klopfzeichen zu geben.

Einmal.
    Pause.
        Einmal.
            Pause.
                Zweimal.
                    Pause.
                        Dreimal.
                            Pause.
                                Fünfmal.
                                    Pause.
                                        Achtmal.

Mit lakonisch leerem Gesichtsausdruck, drehte sich Fiedler zu den beiden anderen um, die ihn fragend ansahen - wobei zumindest Steinmeier von der Taschenlampe geblendet die Augen zusammenkniff. “So. Jetzt warten wir ab, ob wir gehört wurden. Ansonsten gehen wir einfach weiter und versuchen es später noch einmal.”

“Das Zeichen ist immer noch das gleiche?” Sina wirkte verwundert. “Es ist lange und weit her, dass ich mit den Ratten zu tun hatte, aber wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, war der Ruf damals der gleiche.”

“Überrascht Sie das? Die kleinen Biester sind wahrscheinlich weitaus besser organisiert als der Rat von Durnburg und ihre Gesellschaft und Kultur bestehen seit Ewigkeiten, ohne dass zumindest mir größere Umbrüche bekannt wären. Wäre es nicht durchaus einleuchtend, dass sich einige Dinge nicht ändern, weil sie schon immer so waren und weil es einfach keinen Grund für eine Änderung gibt." Er machte eine Pause und lauschte. "Sie haben doch bestimmt irgendwelche Supersinne zu Ihrer Verfügung, meine Dame. Kommt schon jemand, sollen wir warten oder laufen wir los?"

Sinas Miene war während Fiedlers Erklärung nichtssagend und undurchschaubar gewesen. Auf seine Aufforderung hin, setzte sich die Beschworene aber in Bewegung und machte einen lässigen Schritt zu der gleichen Wand, an der auch Fiedler stand. Ohne ihre Handschuhe abzulegen, berührte sie die dort verlaufenden Rohre, eines nach dem anderen, ließ ihre Finger jeweils kurz darauf verweilen, bevor sich die Hand auf das nächste legte. Aufmerksam sahen die beiden Grenzgänger dem merkwürdigen Tanz zu, bis sie sich schließlich von den Rohren ab- und Fiedler und seiner Taschenlampe zuwandte.

"Da ich eine gute Vorstellung davon habe, welche Art von 'Besuch' wir erwarten und da an diesem Rohr das Getrappel einer größeren Anzahl kleiner krallenbewehrter Füße zu fühlen ist, sagen mir meine 'Supersinne', dass wir wohl nicht lange zu warten brauchen. Entspannen Sie sich also, meine Herren und vielleicht geben Sie mir einen kleinen Einblick in die üblichen Preise der hiesigen Rattentruppe?"

Fiedler zögerte, sah zwischen Sina und Steinmeier hin und her und senkte die Taschenlampe ein wenig, woraufhin sich Steinmeiers Augen sichtlich entspannten. "Das Übliche, schätze ich. Tand zum Tauschen, eine kleine Gefälligkeit - wenn es um wertvolle Ware geht, auch eine große Gefälligkeit oder einen Funken."

Unaufgefordert schüttelte Steinmeier resigniert den Kopf. "Ich werde eure Grenzwelt nie ganz begreifen. Mir ist klar, dass ihr auf das Geld der Normalos wenig Wert legt. Zu beliebig, zu flüchtig, mit ein bisschen Zauberei leicht fälschbar und nicht wirklich etwas wert. Gut, es ist angenehm, für seine täglichen Notwendigkeiten bezahlen zu können, aber spätestens wenn du weit genug hinter dem Schleier bist, nimmt dich eh kein Normalokassenclown mehr wahr. Hey, ich habe Typen gesehen, für die ging nicht mal mehr 'ne Schiebetüre mit Bewegungsmelder auf! Warum tote obskure Währungen dann doch tatsächlich etwas wert sind, kapiere ich nicht ganz, lasse es aber gelten. Auch die anderen Tauschgeschäftchen leuchten mir ein. Ich kriege was, das ich brauchen kann und bezahle mit etwas, das der andere benötigt. Ob es dabei um Dinge oder um Gefälligkeiten geht, ist mir egal. Aber eure Begeisterung für Blätter, Steinchen und Stöckchen - also diese 'Funken', die ist einfach albern. Jetzt kommt sicher gleich der Standardspruch, dass in den Dingern 'primordiale Kraft' enthalten ist - aber woher will ich das wissen und was bringt es mir? Den ganzen hochmagischen Mumpitz kann man natürlich nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken und im Prinzip kann dir jeder Depp erzählen, der Kiesel in seiner Tasche wäre ein Funken. Trotzdem ist das eure höchste und härteste Währung." Er grinste sein rebellisches Markengrinsen, wirkte dabei aber irgendwie ein bisschen verzweifelt und verloren. "Wenn wir jetzt also gleich mit ein paar in der Normalität nicht intelligenten Nagetieren verhandeln, dann können wir ihnen ja einfach eine Glaskugel andrehen, oder einen primordialen Flusen aus Fiedlers Jackentasche!"

16. Unterstadt (5)

"Sieht harmlos aus, zumindest auf den ersten Blick. Was meinen Sie, Lady?" So gut es eben von seiner aktuellen Position aus ging, versuchte Fiedler das Licht der Taschenlampe in die Winkel und Schatten des vor ihnen liegenden Ganges zu dirigieren.

"Ich denke, wir werden wohl persönlich nachsehen müssen, Herr Fiedler, wenn wir eine verlässliche Aussage haben wollen.” Behände schob sich Sina an Fiedler vorbei durch den Türspalt. Für einen Moment verdeckte ihr Körper den Lichtstrahl der Taschenlampe, dann hatte sie die äußere Aufzugstür passiert, glitt elegant zur Seite und gab das Sichtfeld zum Gang hin frei. Es vergingen aber kaum ein paar Sekunden, bis ihre behandschuhte Hand wieder im Spalt auftauchte und etwas bedeutete, das Fiedler als Zeichen  nach zu kommen ansah.                                      

“Nicht so voreilig, Süße!” Fiedlers mürrisches Knurren war wahrscheinlich leise genug, um nicht bei Sinas Ohren anzukommen, doch selbst wenn, wäre es ihm egal gewesen. “Wir wissen noch gar nicht, ob wir etwas mit den Ratten und dem Brunnen zu tun haben wollen.”

Verärgert wollte er sich gerade umdrehen und nachsehen, was Steinmeier gerade so trieb, als dessen Stimme überraschend nah und gefasst knapp hinter ihm erklang. “Doch, ich weiß es jetzt. Wir werden die Ratten rufen. Wir werden ihren Preis bezahlen und sie werden uns zum Brunnen und zu Astrid führen.”

“Aha.” Fiedler wirkte nicht gänzlich überzeugt. “Und Sie sind sich jetzt sicher, dass das eine gute Idee ist? Wenn man mit den Ratten Geschäfte macht, sollte man immer vorsichtig sein!”

Mit ungewohnter Überzeugung und Selbstsicherheit suchten Steinmeiers Augen den direkten Kontakt. Ohne die Spur eines Zweifels entgegnete er: “Das ist mir klar, Herr Fiedler. Ich mag vielleicht nicht auf eine lebenslange Erfahrung als Grenzer zurückblicken, wie Sie das tun, aber halten Sie mich bitte nicht für dumm! Wenn ich sage, dass wir uns von den Ratten zum Brunnen führen lassen, dann weil ich mir absolut sicher bin, dass es der richtige und beste Weg zu unserem gemeinsamen Ziel ist: der Rückkehr von Astrid ins Reich der Lebenden. Oder geht es mittlerweile um etwas anderes?” Ohne eine Antwort abzuwarten, begann Steinmeier damit, sich durch die Öffnung zwischen den Schiebetürhälften nach draußen zu zwängen.

Einen kurzen Augenblick überlegte sich Fiedler, ob er den Ex-Schauspieler auf- und festhalten sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Steinmeier hatte Recht: Nahm man dessen Vision für bare Münze, waren logisch betrachtet die Ratten und der Tiefe Brunnen der einzige Weg, zeitnah zu Astrid Kirchners Geist zu gelangen. Wenn jemand Einwände dagegen oder Argumente dafür finden könnte, dann war das Steinmeier - und wenn der sich sicher war, was gab es für Alternativen? Den Tiefen Brunnen konventionell zu recherchieren, während Brack und Unbehauns Männer Jagd auf sie machten? Wohl kaum. Knurrend machte sich Fiedler daran, sich selbst und seine gerade etwas hinderliche aber unverzichtbare Lederjacke wohlbehalten hinter Steinmeier her durch den Türspalt zu zwängen. Die ganze Sache war dabei, sich zu verselbstständigen!

Draußen wartete bereits Sina mit ihrem charakteristisch katzenhaften Lächeln. “Ich sehe, die beiden Kamele haben es wohlbehalten durch das Nadelöhr geschafft. Das könnte ein paar Reiche wohl hoffen lassen... aber ich schweife ab. Lassen Sie uns die Ratten rufen!”

Steinmeier nickte zustimmend und sah Fiedler auffordernd an. Dessen säuerliche Miene ließ deutlich erkennen, wie sehr er dem Vorgehen misstraute, dennoch griff er mit der Linken in die Innentasche seiner Lederjacke und zog seinen lädierten Revolver heraus. “Selbstverständlich. Ich vertraue immer gerne den Stimmen in Ihrem Kopf. Sie auch?”

16. Unterstadt (4)

“Großartig. Wer noch?” Mit einem genervten Seufzer hatte die Beschworene die Augen verdreht. “Habt ihr keine Menschen, die sich unter ihrer eigenen Stadt auskennen?”

Während Steinmeier noch überlegte, ergriff Fiedler etwas sarkastisch aber nüchtern das Initiative: “So wenig ich von der Idee begeistert bin, aber in Anbetracht unserer aktuellen Lage stimme ich Herrn Steinmeier zu. Es mag sein, dass ein Undergrounder, ein Troglodyt oder jemand aus einer anderen Gang der Unterstadt uns den Weg zum Brunnen zeigen kann. Vielleicht kennt dieser Jemand sogar die Schutzmagie, die den Brunnen umgibt, und weiß dazu noch einen Trick, den Zauber zu umgehen. Wenn Sie oder Herr Steinmeier aber keinen wahnwitzig guten Kontakt in die Unterstadt haben, werden wir über meine Kontakte wohl Tage brauchen, bis wir einen geeigneten einheimischen Führer gefunden haben. Bei den Ratten müssen wir nur fragen - und bezahlen.” Er wandte sich an Finn. “Habe ich das falsch im Gedächtnis, oder hat sogar die Astrid in Ihrer ... Vision ... geweissagt, wir müssten uns an die Ratten wenden, auch wenn das teuer wäre?”

Offensichtlich verursachte die Frage Unbehagen bei Steinmeier: “Ja. Nein. Irgendwie schon - aber da war noch etwas, glaube ich...”

Unnachgiebig hakte Sina nach: “Was denn? Nun gehen Sie doch mal in sich! Ewig können wir hier sicher nicht herumhängen.” Entschlossenheit ausstrahlend sah sie sich in der Kabine um und steuerte dann den lädierten Öffnungsmechanismus des Ausgangs an. “Kommen Sie, Herr Fiedler, und helfen Sie mal einer Dame, eine Tür zu öffnen! Ein Gentleman der alten Schule weiß doch sicher auch dann noch, was sich gehört, wenn er so tief unten angekommen ist wie wir es gerade sind...”

“Aber selbstverständlich und jederzeit, meine Teuerste!” Grinsend vollführte der Detektiv eine schwungvoll elegante Wende, folgte Sina eilig und ließ Finn nachdenklich, grüblerisch und bedrückt in der Mitte des Aufzugs im Dunklen stehen. Als er nach kaum zwei Schritten aufgeholt hatte, stand die Beschworene bereits an der Tür und musterte den gebeutelten Öffnungsmechanismus mit einer distanzierten Skepsis, die von tiefgreifendem Unverständnis zeugte. Lässig steckte Fiedler die Hände in die Hosentaschen und genoss die Situation. “Schätze, wir könnten Glück haben. Normalerweise gehen die Dinger nicht so einfach auf wie das von Hollywood immer behauptet wird. So ein altes Teil wie dieses hier hat aber vielleicht ‘ne Mechanik, die die Türen an einem Stockwerksausgang entriegelt - und es sieht so aus, als wären wir tatsächlich im untersten Untergeschoss angekommen.”

Betont gefasst und höflich sah er Sina an. “Wollen Sie den Vortritt beim Aufstemmen der Türflügel, oder darf ich Ihnen assistieren?”

Wider Erwarten sah ihn Sina fast schon giftig an. “Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Fassen Sie mit an!”

Es kostete Fiedler einige Anstrengung, seine Verwunderung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Bislang war der Beschworenen jede Gelegenheit recht gewesen, ihre physische Überlegenheit herauszustellen - und jetzt wollte sie Hilfe beim Öffnen einer verklemmten Schiebetür? War die Wiederkehr von Steinmeier so kostspielig für sie gewesen oder kam sie einfach nur nicht mit mechanischen Systemen klar? Diese gerade wenig nützlichen Überlegungen so professionell wie möglich beiseite schiebend nickte er jedoch und merkte an: “Am besten wir ziehen gleichzeitig mit möglichst der gleichen Kraft und etwas Gefühl beide Flügel zur Seite. Auf drei - und ich zähle!”

Wortlos und überraschend teamfähig nahmen die Beschworene und der Detektiv Stellung links und rechts der Aufzugstüren. Fiedler zählte - und kurz nachdem er “Drei” gesagt hatte, begann sich der Spalt zwischen den Türhälften scharrend und schleifend zu verbreitern. Ging das erste Handbreit noch einfach, wuchs die Öffnung von da an immer schwergängiger, bis schließlich Fiedlers Griff nachgab und seine Hände von der Türkante abglitten. “Das verfluchte Teil will nicht weiter auf!” Fiedler stolperte, hielt sich die schmerzenden Finger und begutachtete das schmale aber vorhandene Ergebnis ihrer Anstrengungen. Zum Glück waren die äußeren Türflügel der Bewegung der inneren Schiebetüre gefolgt und hatten sich ebenfalls um das gleiche Stück geöffnet. Von einem bequemen Durchweg konnte man zwar beileibe nicht sprechen, aber mit ein wenig gutem Willen und gegebenenfalls etwas Nachhilfe von hinten oder vorne würde jeder von ihnen sich dort hindurch zwängen können. So weit, so gut.

Neben ihm starrte Sina angestrengt in die Dunkelheit außerhalb der Kabine. Fiedler bückte sich kurz, um die zuvor abgelegte Taschenlampe wieder aufzunehmen und schickte dann deren Lichtkegel nach draußen in die Finsternis. Im Lampenschein zeichnete sich ein langer niedriger Gang ab, an dessen betongrauen Wänden und Deckenwölbung mehrere dicke schwarz korrodierte Rohrleitungen entlang liefen. Auch gut. Rohre eigneten sich vortrefflich, wenn man Ratten brauchte.

16. Unterstadt (3)

"Sie war es. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Die Art, wie sie sprach, ihr Wissen über die Geschehnisse damals, ihre Weise, mit meinen Schuldgefühlen umzugehen - das war Astrid." Steinmeier verfiel ein wenig ins Schwärmen, fand aber gleich wieder zurück auf den Boden der aktuellen Tatsachen, doch Fiedler ließ sich nicht so leicht überzeugen: "Das war also die echte Astrid oder aber ein Wesen, das Ihre im Todeskampf freiliegenden Erinnerungen lesen und manipulieren konnte. Die größte Sehnsucht eines Menschen zu kennen und zu nutzen ist eine beliebte Strategie bei diversen spirituellen Raubtieren der Grenze!"

"Ihr Zögern in Ehren, mein lieber Herr Fiedler, aber erzählen Sie uns doch von dem Brunnen, den Sie so verlockend erwähnt hatten." Trotz der Wortwahl lag weniger Spott als interessierte Aufforderung in Sinas Tonfall. Sie trat aus ihrer abseitigen Position im Schatten etwas näher an die beiden Männer heran.

"Verlockend ist hier erst mal gar nichts!" Fiedler wirkte patzig und unwillig, rang sich aber dann doch zu einer Erläuterung durch: "Also gut. Vor ein paar Jahren bin ich bei den Recherchen für einen hier nicht weiter relevanten Fall über die Aufzeichnungen eines Geschichtsgelehrten gestolpert, der sich auf alte magische Orte spezialisiert hatte. Ein Teil dieser ziemlich umfangreichen, trockenen und langwierigen Lektüre ging um einen alten Brunnen, noch aus der Zeit der Römer. Im ach so finsteren Mittelalter wurde das Loch zum Geheimtipp, wenn es um Stimmen von jenseits des Grabes ging: Orakelsprüche, Prophezeihungen, Zauberformeln und allerhand Dinge, von denen ein erfahrener Grenzer im Normalfall lieber die Finger lässt. Die Einzelheiten kriege ich nicht mehr zusammen, aber irgendwie muss es der Brunnen geschafft haben, über all die Jahrhunderte nicht glatt gezogen zu werden. Ich erinnere mich daran, dass der Schreiberling einen ganzen Haufen Fehden und Intrigen beschrieb, die seiner Ansicht nach um den Brunnen gingen. Als dann der Durnburger Pakt geschlossen wurde und der Rat die Grenze der Stadt übernahm, ging man der Sache mit dem Brunnen buchstäblich auf den Grund. Dort fand man ein ziemlich fieses Wesen aus einer Anderwelt, das sich seit Jahrhunderten von den Opfern und Geschenken 'an die Toten' nährte und die Anhängerschaft des Brunnens kontrollierte. Insgesamt lief das Ganze auf ein Gemetzel zwischen den Brunnenkultisten und den Leuten des Rates hinaus, an dessen Ende das Brunnenmonster von irgend so einem Helden - den Namen habe ich vergessen - vernichtet wurde. Interessant an der Sache ist, dass der Brunnen tatsächlich eine Art undichte Stelle in eine Schattenwelt der Toten darstellt. Offenbar hatte sich die Brunnenkreatur dieses Zugangs zu den Toten bedient, um mit ihren eigenen Fähigkeiten Geheimnisse und Prophezeihungen aus den ruhelosen Seelen Verstorbener zu entlocken."

Fiedler hielt inne und kratzte sich mit dem Daumen an der Nase. "Bevor Sie jetzt allerdings in Jubelstürme und blinden Aktionismus ausbrechen, liebe Weggefährten, muss ich Sie aber noch über einen Haken bei der Brunnensache in Kenntnis setzen." Für einen Moment genoss Fiedler insbesondere Steinmeiers Aufmerksamkeit, während Sina seinen Ausführungen deutlich gelassener folgte - doch er hatte etwas zu lange gezögert, denn Finn fiel ihm ungeduldig ins Wort: "Ich weiß es! Der Geist des toten Brunnenmonsters lauert jetzt auf der anderen Seite des Brunnens. Ja?"

Überlegen lächelnd winkte Fiedler ab: "Auch wenn die Idee im Prinzip gut ist, Herr Steinmeier, unser Problem kommt aus der anderen Richtung: Irgend eine Fraktion in der Stadt hat wohl kurz nach der Sache mit den Kultisten beschlossen, dass ein Ort wie der Brunnen für uns Normalgrenzer besser nicht zugänglich sein sollte. Möglicherweise wollte man auch einfach kein Tor zum Totenreich ungeschützt quasi im Keller stehen haben. Wie dem auch immer sei, gibt es wohl einen Zugangsschutz um den Brunnen, den mein Geschichtler übrigens wie Ihre Astrid als 'Seelenbrunnen' bezeichnete. Allerdings," Fiedler machte noch eine, diesmal eher knapp bemessene dramatische Pause, "allerdings hatte der gute Gelehrte auch notiert, dass es nicht unmöglich ist, diese Schutzvorkehrung zu umgehen. Wahrscheinlich ist es etwas permanent Magisches - solche Dinge haben immer eine Hintertür. Denken Sie einfach mal an die Sphinx: Eine tolle Wachkreatur, wenn da nur der Rätseltick nicht wäre..."

"Das klingt genau nach dem Ort, den wir suchen, nicht wahr, Herr Steinmeier?" Sina klang entschlossen und aufbruchsbereit, wohingegen Finn nur stumm nickte. "Da Sie offenbar noch nie an diesem sagenhaften Brunnen waren, Herr Fiedler, bleiben für mich nur zwei Fragen offen: Wer kann uns dorthin führen - und wer kennt die Schwachstelle des Schutzzaubers?"

Bevor Fiedler etwas sagen konnte, knurrte Finn Steinmeier bereits betont grimmig die Antwort, die der Detektiv notgedrungen auch hatte geben wollen: "Die Ratten."