Editorial: Sanierungsbedarf von Vorne bis Hinten

Was man nicht so alles bemerkt, wenn man mal wieder die Seiten in der Sidebar aktualisiert. Gerade versuchte ich, die aktuellen Kapitel als PDF online zu stellen (ich schulde euch #19 und #20, die Sanne wieder mal vorbildlich gestylt hat).

Als ich die Vorbereitungen dafür getroffen hatte (eine Kleinigkeit muss ich noch anpassen), wollte ich die beiden Kapitel auch noch in "von Vorne bis Hinten" einpflegen. Dabei hatte ich aber leider die HTML-Ansicht offen und musste den Quellcode dieser Unterseite ansehen - und das war grässlich. Da mir heute die Zeit zum Pflegen des unstrukturierten HTML-Molochs einfach fehlt, habe ich die Seite erst mal offline genommen. Alles was dort steht, ist auch in den PDFs von "VoxSolis - zum Ausdrucken" zu lesen (und zwar deutlich hübscher).

Keine Angst aber, die Volltextsuchbare Version für fachgerechte Literaturzitate kommt bestimmt wieder, bevor ihr eure Doktorarbeit über VoxSolis abgeben müsst (ich hätte gerne eine Kopie).

Editorial: Atempause

Langsam kommen die Erzählstränge zusammen und das Ende der Geschichte rückt näher. Während meine Lektoren gerade eifrig die Kapitel 21 und 22 gegenlesen mache ich eine kurze Schreibpause und erledige andere wichtige Dinge des Lebens - z.B. schlafen oder "Dinge" für die Hochzeit eines guten Freundes erledigen. Ich hoffe Ihr, liebe Leserschaft, haltet noch bis nächsten Dienstag durch, denn dann geht es weiter mit Kapitel 21: "Eskalation".

20. Konfrontation (5)

Die Stimme seiner Gegenüber schäumte von unterdrückter Wut und Verachtung. “Glauben Sie wirklich, wir wären auf Sie und Ihre ärmlichen Möglichkeiten angewiesen? Wenn Sie jetzt verschwinden, schlägt das weder hohe Wellen noch hält es uns nennenswert auf. Sie und ihr derzeitiges Wohlbefinden sind nichts weiter als eine Option auf eine Abkürzung auf dem Weg zu unserem Ziel.” Selbstbewusstsein lag in Victoria Thomas Worten und auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war ihm klar, dass zumindest sie glaubte, was sie sagte - und nur das zählte für sein Überleben. Gefasster, aber mit unvermindertem Nachdruck fuhr sie fort: “Mitternacht, mein Bund, wusste schon immer mit Macht umzugehen. Die Zeit von Unbehauns antiquiertem Bücher- und Debattierclub hingegen ist vorbei. Wenn wir dem Rat erst den Zugang zum Orakel präsentieren, können die Damen und Herren wählen: Entweder sie revidieren ihre Entscheidung, das Orakel an 'Libra et Liber' zu vergeben, oder sie lassen sich auf einen zermürbenden inneren Konflikt mit uns ein. Gegen uns oder gegen Unbehauns Alt-Herren-Verein - was glauben Sie, wie sich die schlappen Intriganten um dieses konfliktscheue Chamäleon von einem Burgherren entscheiden werden?”
Mit der schneidenden Kälte und Präzision eines Skalpells zerteilte eine neue Stimme den etwas einseitigen Dialog. “Eine faszinierende Perspektive, die Sie da offenbaren, Frau Thomas. Wie schön, dass die Schurkenschule von Mitternacht immer noch die gute Tradition des enthüllenden Monologes lehrt!”
Unbehaun! Der Drahtzieher tauchte persönlich auf dem Schlachtfeld auf! Überrascht wollte sich Fiedler zur Quelle der Stimme wenden, musste dann aber realisieren, dass er diese nicht orten konnte. In der Schwärze um ihn herum deuteten ein paar hektische Geräusche an, dass sich auch die Leute von Mitternacht umzuorientieren versuchten. Sekundenbruchteile später gellte ein Schmerzensschrei, gefolgt und übertönt von Unbehauns allgegenwärtiger, vollkommen emotions- und humorfreier Stimme: “Vorsicht, meine Damen und Herren! Am besten Sie halten gänzlich still, sonst rennen Sie noch in die Klingen, die nur Millimeter von Ihrer Haut, Ihrer Kehle oder vielleicht Ihren Augen in der Dunkelheit schweben. Natürlich würde ich den Durnburger Kontrakt niemals brechen - aber sollten Sie aggressive Handlungen vorhaben, kann ich weder für bleibende Schäden noch für Todesfälle bürgen!"
Fiedler registrierte, dass die Thomas diesmal auf keine Provokation zu reagieren schien. Hatte sie etwas vor? Hatte Unbehaun sie bereits ausgeschaltet? Wie stark war Unbehauns Truppe? Konnte er hier etwas sehen?
Offenbar bedachte auch Ebenezer Unbehaun die nächsten Handlungen der Opposition. "Sollte ich recht in der Annahme gehen, Frau Thomas, dass Sie gerade einen magischen Pfeil mit meinem Namen und ein paar Dreingaben besprechen, rate ich Ihnen dringend davon ab.” Die Stimme des Magiers zeigte nicht den Hauch von Unsicherheit. Entweder er bluffte sehr gut oder er konnte tatsächlich über einen Erkenntniszauber die Vorgänge im Raum beobachten. Beides war ihm vorbehaltlos zuzutrauen. “In der Tat habe ich von Ihrer durchaus interessanten Form von Objektmagie gehört. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, Ihnen die Kontrolle ...” Unbehaun ließ das Wort - den Namen seines magischen Spezialgebietes - ein wenig hallen “... über jedes fliegende Geschoss hier entreißen zu können. Das wäre dann nach dem Kontrakt eine Handlung in Selbstverteidigung und ich würde schweren Herzens doch guten Gewissens das symbolische Band des magischen Pfeils zu Ihnen nutzen, um die Flugrichtung entsprechend anzupassen. Eine solche Eskalation kann unmöglich im Sinne unserer beider Parteien und des Rates sein.”
Erneut ließ Unbehaun eine Pause entstehen und diesmal antwortete Victoria Thomas mürrischer Alt mit erneut schlecht gespielter Entrüstung: “Was für bizarre, klischeehafte und dazu noch realitätsferne Unterstellungen - aber was erwartet man sonst von einem Staubfänger von Liber et Libra? Haben Sie vor, mit Ihren Phantastereien fortzufahren, bis wir die Lust an der Sache verlieren oder uns zu beleidigen, bis wir Ihre Leute aus gebrochenem Stolz angreifen? Beides ist meines Erachtens nach aussichtslos. Wir werden uns die Seele der Seherin und den Schlüssel zum Orakel holen - da müssten Sie uns schon mit Gewalt davon abhalten… oh - aber das verbietet Ihnen ja Ihr erhabener Kontrakt.” Häme hatte sich in die Stimme der Agentin von Mitternacht geschlichen. "Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag, bei dem Sie ohne Konflikt, ohne Blutvergießen und mit minimalem Gesichtsverlust davonkommen: Der Rat hat Libra et Liber Recht und Pflicht zugesprochen, die Seele der Kirchner und die Verbindung zum Orakel in beherrschbarer Form in Besitz und unter Kontrolle zu bringen. Offenbar stehen der Erfüllung dieses Auftrages einige Hindernisse im Weg - der Brunnengeist und andere Gefahren der Unterstadt zum Beispiel. Wie wäre es, wenn Sie Mitternacht um Hilfe bitten, ganz informell versteht sich. Ich würde dann das Hilfegesuch rasch und unkompliziert annehmen, wir könnten die Seele gemeinsam bergen - und da mein Bund über bessere physische Sicherheitsvorkehrungen verfügt, ist es einfach sinnvoll, wenn die Seele und das Orakel in unserem Schutz und Besitz verbleiben. Wenn Sie diese Lösung selbst im Rat vorschlagen, können Sie vielleicht sogar ein bisschen weise wirken und Eindruck ob Ihrer Bescheidenheit schinden. Na, was sagen Sie?"
Entgegen Sinas vorherigem Rat hatte Fiedler den erneuten Monolog der Thomas dazu genutzt, sich so leise und vorsichtig wie möglich in Richtung der zumindest halbseitig Sicherheit versprechenden Wand zu bewegen. Vielleicht hätte ein anderer Vertreter von Libra et Liber das Kompromissangebot zur konfliktfreien Kapitulation im politischen Winkelzug angenommen. Wenn Unbehaun aber in den letzten zehn Jahren nicht ein grundlegend anderer geworden war, dann lief die Situation gerade schnurstracks auf eine Auseinandersetzung zu. Was trieb Sina gerade? …und wie viel Sinn machte es eigentlich noch, auf Steinmeier zu warten?
Fiedlers im Dunkel zur Sicherheit ausgestreckte Fingerspitzen berührten kalten feuchten und rauhen Stein - die Wand. Rasch und beinahe lautlos drückt er sich mit dem Rücken an und hielt seinen Dolch bereit. Mögen die Spiele beginnen!

20. Konfrontation (4)

Schweigen erfüllte die nachfolgenden Momente und Fiedler versuchte, sich auszumalen, was gerade geschah. Dann ertönte eine Antwort im spröden Alt einer missmutig wirkenden Frauenstimme, allenfalls halbherzig bemüht, die Heuchelei in ihren Worten zu verbergen. “Herr Fiedler, sind Sie das?” und dann dem Klang nach offenbar an jemand anderen gewandt: “Alles Halt! Das ist ein besonderer Protegé des Legats und der Mann darf auf keinen Fall durch uns zu Schaden kommen!” Fiedler griente sarkastisch, ließ das schlechte Schauspiel über sich ergehen und wartete, bis er wieder angesprochen wurde. “Was treiben Sie denn hier unten? Nehmen Sie sich in Acht - hier gibt es einen recht gefährlichen Geist, der sich als Schutzzauber um einen Brunnen in der Mitte des Raumes gelegt hat. Bleiben Sie also besser am Rand des Raumes, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!”
“Danke für die rührende Fürsorge, Verehrteste! An Ihnen hat der Legat doch wahrlich ein vorbildliches Mitglied verloren.” Hinter Fiedlers sarkastischem Grinsen spielte sich vor Fiedlers innerem Auge noch einmal der  Wutanfall seines Freundes Boris ab, seines Zeichens Würdenträger der sich ‘Legat’ nennenden Verbindung, als besagte Victoria Thomas sich mit einem eleganten Winkelzug zum konkurrierenden Bund ‘Mitternacht’ abgesetzt hatte. Mit einer wohl abgewogenen Prise Schärfe im freundlichen Ton fuhr er fort: “Da ich Ihre Intelligenz nicht unnötig beleidigen möchte, werde ich nicht einmal vortäuschen, Ihre geheuchelten Worte ernst zu nehmen. Lassen Sie uns einfach ignorieren, dass Ihre Häscher gerade versucht haben, mich zu packen und dass Ihre Schützin meiner Begleiterin gerade einen Pfeil in die Brust verpasst hat. Lassen Sie uns stattdessen doch einfach im Sinne des Durnburger Vertrages verhandeln und Klartext reden.”
Angespannt in die Dunkelheit lauschend machte er eine Pause, um der Gegenseite Zeit zum Bedenken und Reagieren zu geben. Die Antwort kam bald und sie klang verärgert, frustriert und höhnisch - genau wie er es erwartet hatte. “Klartext!” Das Wort wurde geradezu ausgespien. “Na gut, wenn Sie Ihrer Situation unbedingt ins Auge sehen wollen, zögern wir die Sache eben hinaus. Wenn es Klartext ist, der Sie glücklich macht...” Man konnte das Augenrollen seitens Frau Thomas gut erahnen. “Verhandeln wir also, wie es die Herren des Rates so gerne tun: Sie, Herr Fiedler, sind dabei, eine Seele aus diesem Brunnen zu holen, auf deren Besitz Sie kein Recht haben. Sollten Sie uns diese Seele aushändigen oder uns Ihren Weg die Seele zu bergen zugänglich machen, erhalten Sie freies Geleit an die Oberfläche. Vielleicht sollten Sie in Ihre Entscheidung einbeziehen, dass wir in jeder Form der Auseinandersetzung sicherlich die Oberhand behalten würden.”
Es ging also tatsächlich um die Kirchner! Eher nebenher wog Fiedler ab, woher Mitternacht und deren Agenten von der Sache wussten: Ein Verrat der Ratten lag natürlich nahe, erklärte aber nicht Victoria Thomas' offensichtlich zielgerichtete Motivation. Wenn er etwas aus der Thomas herauskitzeln konnte, dann würde er vielleicht sowohl Zeit gewinnen als auch etwas über Unbehauns Motive erfahren. Widersprach das seinem Vertrag? Er dachte lieber nicht weiter darüber nach, der Zweck heiligte nun mal die Mittel. Verborgen von der Dunkelheit erneuerte sich das Grinsen auf Fiedlers Gesicht - diesmal eine Spur waghalsiger und markiger als davor.
“Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie mich nicht für dumm verkaufen sollen? Wenn Sie darauf aus wären, mich kaltzustellen, hätten Sie das längst getan, Schätzchen. Sie kennen meinen Ruf und wissen also, dass es verdammt schwer ist, aus mir etwas herauszupressen - egal ob mit Folter oder Magie. Seien Sie also zur Abwechslung mal ehrlich zu sich selbst, Lady: So etwas wie 'Klartext' ist gerade das Beste, was sie von mir kriegen können.” Die lässig selbstbewusst-verwegene Privatdetektivstimme gelang Fiedler diesmal geradezu filmreif. Er setzte nach. “Was lässt Sie eigentlich glauben, dass Ihr Verein mehr Recht hat die fragliche Seele zu besitzen als meine Herren Auftraggeber?” Gespannt lauerte er auf die Antwort.

20. Konfrontation (3)

Zu Fiedlers Überraschung löste sich das Geschoß mühelos und ließ sich ohne Beschädigung oder Blutvergießen aus Sinas Körper entfernen. Offenbar hatte die Beschworene ihre physische Konsistenz entsprechend angepasst, in der Dunkelheit ließen sich jedoch keine Details ausmachen - und eigentlich war Fiedlers Interesse auch nur sehr begrenzt. Kaum hatte die Pfeilspitze das manifestierte Fleisch verlassen, glitt ein kurzer Anflug von Taubheit über Fiedlers Handflächen und der Detektiv musste einen Reflex unterdrücken, um den Pfeil nicht fallen zu lassen. Solche erahnten Empfindungen waren für gewöhnlich die Echos magischer Effekte, die gerade an ihm und seiner Immunität abglitten - und seiner Erfahrung nach gehörte ein ‘taubes Gefühl’ zu Lähmungen oder Bannzaubern. Fiedlers Logik sprang an und wägte ab: Ging man von einem gleichen Treffer wie bei Sina aus, hätte ihn ein der Pfeil alleine auch ohne magisches Nachsetzen ziemlich sicher außer Gefecht gesetzt oder sogar getötet. Was hätte es für einen Sinn gemacht, ihn dann noch zu paralysieren? Es bestand damit eine ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit, dass das Geschoss in keinem Fall ihm gegolten hatte, sondern gezielt dazu gedacht gewesen war, seine nur bedingt stoffliche Begleiterin auszuschalten.
Das Räderwerk in Fiedlers Kopf arbeitete rasch. Objektgetragene Magie. Überlegtes Vorgehen. Männer als Kanonenfutter und eine Frau in der zweiten Reihe. Dazu der Regenschirm. Er wandte sich dorthin, wo er Sina vermutete. “Ich glaube ich weiß, mit wem wir es zu tun haben. Die werden mir vorerst nichts tun. Versuchen Sie mal, ein möglichst kleines Ziel abzugeben! Mal sehen, was passiert, wenn ich unseren Angreifern die Maske abreiße, indem ich sie beim Namen nenne - vielleicht gewinnen wir so Zeit für Steinmeier.” Er runzelte die Stirn. “Was auch immer das bringen mag.”
Sina zögerte, offenbar nicht gewillt, klein beizugeben. “Und Sie glauben, das bringt was? Wenn Sie von so einem Pfeil getroffen werden, bietet sich hier kaum die Gelegenheit, Sie zusammenzuflicken, Herr Fiedler!”
In Fiedlers Stimme klang drängende Ungeduld: “Herrgottnochmal,  vertrauen Sie mir endlich! Ich weiß, was ich tue! Durnburg ist mein Revier und ich will diesen verdammten Auftrag ohne unnötiges Blutvergießen auf unserer und deren Seite erledigen. Wenn ich mich irre, können Sie mich ja einfach sterbend liegen lassen - aber ich wette, Sie würden mich zusammenflicken, nur um mir danach zu erklären, Sie hätten es ja gleich gewusst! So, jetzt folgen Sie bitte meinem Rat und lassen mich arbeiten!”
Irgendwie war es nicht die schlechteste Entwicklung, dass eine Antwort von Sina ausblieb. Für langwierige Diskussionen blieb einfach keine Zeit! Er wartete einen Atemzug und setzte ein seiner Ansicht nach möglichst privatdetektivwürdiges Lächeln auf - wohl wissend, dass ihn wahrscheinlich niemand sehen konnte. Dann holte er Luft und sprach sein im Dunkel verborgenes Gegenüber mit fester gelassener Stimme an. “Victoria Thomas, nehme ich an? Ich gehe davon aus, dass ich Sie weder an den Durnburger Kontrakt erinnern muss, noch daran, dass auch die Führer von Mitternacht diesen unterschrieben haben.”

20. Konfrontation (2)

“Hey!” Sinas Stimme klang empört und vorwurfsvoll aber ohne jede Spur von Schmerz, während sich Fiedler geduckt an der Wand aus dem Lichtkreis des Zaubers hinausmanövrierte. Unwillkürlich hatte dieser Angriff aus dem Hinterhalt seine zwar leicht angestaubten aber noch hinreichend funktionierenden Söldnerreflexe aktiviert: Wer in einer dunklen Umgebung im Licht stand, war ein leichtes Ziel. 'Lieber blind am Leben als tot im Licht.' Widerwillig grinsend musste er an den Lukas Brack denken, den er damals als Söldner in Thule kennengelernt hatte. Solche gereimten, trivialen aber trotzdem irgendwie treffenden Halbweisheiten zu jeder Situation waren dessen Markenzeichen als Weibel seines Haufens gewesen.
Aber damals war damals und jetzt war jetzt. Die Brücke zur Gegenwart schlagend fokussierte Fiedler seine Gedanken wieder auf das, was nun zählte: Wer griff sie gerade an? War es Bracks Leuten zuzutrauen, hier aus dem Dunkel zu attackieren? Denkbar - aber unwahrscheinlich: Brack war zwar ein erfahrener und gefährlicher Gegner, er folgte aber einem ungeschriebenen Ehrenkodex und würde nur im Ausnahmefall unangekündigt aus dem Hinterhalt angreifen.
Fiedler runzelte die Stirn. Angenommen, Sina würde tatsächlich gegen Unbehaun arbeiten, wäre sie für ihn bedrohlich genug, um eine solche Verzweiflungsaktion zu rechtfertigen? Möglich - aber ebenfalls unwahrscheinlich: Zuvor bei der Verfolgungsjagd im Aufzugsschacht hatte Brack einen nur mäßig kampfstarken und wohl eher unerfahrenen Mann vorgehen lassen. Hätten sie es auf eine Konfrontation ankommen lassen, wäre dieser Einzelkämpfer alleine Sina und ihm gegenüber gestanden. So lange Fiedler ihn kannte, hatte Brack immer auf seine Leute Acht gegeben und unnötiges Blutvergießen sowie Verluste vermieden (bei sich selbst machte er gelegentlich Ausnahmen). Einer übermächtigen Bedrohung durch Sina war sich Brack demnach wohl nicht bewusst. Also konnte seine Truppe mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Urheber dieses Hinterhalts ausgeschlossen werden und es handelte sich bei den aktuellen Angreifern um eine weitere Partei. Er seufzte zischend. Die Sache wurde nicht einfacher - aber zumindest nicht eintönig.

“Nun, Herr Fiedler!” Eine vertraute rauchige Stimme flüsterte unweit von seinem Ohr aus der Finsternis: Sina. “Lassen Sie uns ein wenig zusammenarbeiten - fürs Angiften bleibt uns sonst im schlimmsten Fall später so wenig Zeit übrig. Zur Sache: Sie sind zu fünft und haben eine Art magisch erweiterten Regenschirm, hinter dem sie sich bis eben verborgen hielten. Drei von ihnen haben die Deckung verlassen, laufen gerade nach links und rechts los und versuchen offenbar, Sie abzufangen. Am besten entkommen Sie denen wohl, indem Sie einfach stehen bleiben und die Jungs erst einmal ins Leere laufen lassen. Die Person mit dem Regenschirm kann ich nicht näher erkennen, sie bleibt abwartend weiter hinten im Raum, daneben eine junge Frau mit Bogen. Bisher hat die Schützin keine weiteren Anstalten gemacht, erneut zu schießen und ich würde vermuten, die sind gerade genau so blind wie Sie. Wenn Sie nun bitte so freundlich wären, diesen verfluchten Pfeil aus mir zu entfernen? Ich gelobe auch feierlich, Ihre Garderobe nicht mit irgendwelchen Körpersäften zu verschmutzen - so etwas müsste ich schließlich erst eigens manifestieren.”
Für einen Moment haderte Fiedler mit sich, bevor sein Sinn für Loyalität die Oberhand gewann, wenn auch begleitet von einer Prise verwunderten Sarkasmus. “Aber sicher doch, meine Verbündetste! Gestatten Sie mir allerdings die Frage, warum Sie das fiese Teil nicht selber herausziehen oder einfach Ihre Gestalt wandeln?”
Unterschwelliger Ärger klang in der Stimme der Beschworenen mit. “Wenn ich die Formulierung ‘verfluchter Pfeil’ wähle, dann ist diese in diesem Fall absolut wörtlich gemeint. Das Ding verwundet mich natürlich nicht, wenn es mich trifft, aber es behindert meine Handlungen in dieser Form. Hinterhältigerweise liegt auf dem Pfeil aber ein recht potent wirkender Zauber, der den trifft, der die Spitze aus einem getroffenen Ziel entfernt - eine Art magischer Widerhaken. Nun machen Sie schon! Ihnen dürfte die Hexerei wohl wenig Sorgen bereiten!” Schlanke aber kräftige Finger fassten aus der Dunkelheit nach Fiedlers Arm und führten seine Hand zielstrebig an den glatten hölzernen Pfeilschaft. “Achtung, das wird jetzt schmerzhaft …” Etwas peinlich berührt verstummte Fiedler, als er die Nicht-Anwendbarkeit seiner Worte begriff und riss stattdessen mit aller Kraft an dem Pfeil.

20. Konfrontation (1)

"Was macht Sie eigentlich so sicher, dass Steinmeier nicht gleich blutend und schreiend aus der Dunkelheit stolpern wird, gefolgt von irgendeiner Monstrosität, die er unterwegs aufgegabelt hat?" Skepsis und Sarkasmus lagen in Sinas Stimme, als sie die minutenlange Stille in dem unterirdischen Gewölbe unterbrach. "Egal wie lange ich darüber nachdenke, die Idee, unser verwundbarstes Teammitglied alleine in den Seelenbrunnen zu schicken, scheint mir nicht gerade ideal."
In Fiedlers Miene ballte sich Unmut. "Hören Sie, Teuerste, wenn Sie gerade noch Wert auf 'Ideallösungen' legen, schätzen Sie die Situation massiv anders ein als ich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Brack und seine Leute uns hier aufspüren, und wenn Sie nicht noch ein Ass aus ihrem manifestierten Ärmel zaubern können, haben wir nur diesen einen Versuch, die Seele der Kirchner zu meinem oder auch Ihrem Auftraggeber zu bringen. Wenn Sie das anders sehen, weil Sie mehr wissen, dann wäre es eine großartige Gelegenheit gewesen, Ihre Informationen mit uns zu teilen, bevor ich Finn allein in dieses vermaledeite Loch geschickt habe! Da Sie sich stattdessen in betont mysteriöses Schweigen gehüllt haben, mussten Steinmeier und ich zwangsweise ohne Ihre unsterbliche Weisheit entscheiden. Damit haben Sie Ihr Recht auf Einspruch und Gemäkel erst einmal verwirkt."
Sina neigte den Kopf und setzte einen distanziert arroganten Gesichtsausdruck auf. "Versuchen Sie mir damit zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Wir sprachen eben schon von schlechten Ideen und die Ihren werden nicht gerade besser. Glauben Sie, ich müsste Sie mit Samthandschuhen anfassen, Fiedler? Oder sind die der Meinung, dass das ein angemessener Umgangston mit Herrn Unbehaun selbst wäre?"
Fiedlers Augen funkelten zornig und verächtlich. "Ach, muss sich die Unsterbliche schon wieder hinter Unbehauns Rücken verstecken? Offenbar, meine Teuerste, hat Ihr geschätzter Herr Unbehaun Ihnen nichts, aber rein gar nichts über die Beziehung zwischen ihm und mir erzählt. Ich mag ihm vielleicht einen Gefallen oder auch mein Leben schulden, aber nichts desto trotz habe ich vor ihm weder Angst noch mehr Respekt als nötig. Was Sie angeht, Schätzchen, bin ich mir ziemlich sicher, dass Sie dabei sind, mich und Steinmeier irgendwie über den Tisch zu ziehen. Wie genau, kann ich gerade nicht sagen, aber die ganze Sache stinkt zum Himmel! Wenn nicht die von Radewitz den Vertrag verifiziert hätte...” Er stockte und die Wut in seinem Gesicht verging zu einem Ausdruck unwilliger Erkenntnis: “... verdammt, wir haben ein Problem!”

Überrascht ließ Sina von einer scharfen Entgegnung ab. “Wie bitte?”

Fiedler sah sich um ihn am Boden um, so weit das helle aber flackernde Licht von Sinas Zauber reichte. Seine Stimme klang gleichzeitig nüchtern und verärgert.  “Die Ratten sind weg. Das heißt, es droht Ärger. Normalerweise wären sie sicher geblieben, um einen guten Preis für den Rückweg auszuhandeln.” Er machte einen Schritt zurück in Richtung Wand. “Sehen Sie etwas? Ist der Schutzzauber dabei, sich mit uns anzulegen? Kommt etwas aus dem Brunnen?”
Mit wachsamer Haltung ließ nun auch Sina ihren Blick durch den Raum gleiten. “Auf den ersten Blick wirkt alles wie vorher. Der Geist in der Mitte des Raumes ist immer noch ein Vogelschwarm und wirkt allenfalls latent gefährlich, so lange wir hier außerhalb seines Einflusses bleiben...” Sie stutzte und sah konzentriert links an der Mitte des Raumes vorbei ; “warten Sie... da ist noch etwas... in der Dunkelheit verborgen...”
Wie zur Antwort zischte völlig unvermittelt etwas aus der Dunkelheit heran, ein knapper Einschlag war zu hören und mitten aus Sinas Brust ragte der schwarze Schaft eines Pfeils.

Editorial: Kapitel 19...

... ist vorbei und am kommenden Dienstag geht es weiter mit "20. Konfrontation".

Viel Spaß und vielen Dank für's Lesen!

19. Aus der Tiefe (9)

“Dummkopf! Ich hatte nie einen Film mit dir gesehen, als wir uns kennengelernt haben. Du hast mich in ‘Dunkelmanns Machenschaften’ geschleppt und ich mochte ihn nicht, weil du nicht du warst.” Astrids Stimme hatte einen drängenden eindringlichen Ton angenommen. “Bitte hör auf mich und flieh! Er ist fast da! Du hast nicht mehr viel Zeit!”
Verwirrt blickte sich Finn auf der menschenleeren und völlig ruhigen Plattform um. “Wer ist fast da?”
Wie zur Antwort setzte sich eine dicke Fleischfliege auf seine verletzte Hand. Steinmeier schrie auf, als hätte ihn ein Skorpion gestochen, sprang auf und schüttelte sie ab. Panikerfüllt sah er sich noch einmal um. Ein weiteres Insekt surrte in einer aufdringlichen Kurve an seinem Kopf vorbei, dann noch eines. Dort wo die Fliegen flogen wirbelten die vormals schimmernden Nebelfetzen zu diffusen Wolken aus- und durcheinander.
“Der Ghede hat dein Blut geleckt, als es in den Abgrund geraten ist. Jetzt kommt er, um dich zu holen - und wenn er der Spur des Blutes folgt, wird er dich finden, so lange Blut in deinen Adern fließt. Lauf!” Die letzte Aufforderung war eigentlich überflüssig gewesen, denn Steinmeier hastete bereits die ausgetretenen und feuchtglatten Stufen der gewundenen Treppe hinauf, so schnell es sein Selbsterhaltungstrieb erlaubte und verlangte. Verdammt! Er hätte daran denken müssen, dass es eine idiotische Idee war an der Grenze zum Totenreich zu bluten! War vielleicht doch ein Blutfleck an dem Angelbecher gewesen, der den irren Götzen auf seine Spur gelockt hatte?
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung unten auf der Plattform am Brunnengrund. Begleitet von einem vielstimmigen Summen und Sirren quoll eine schwärzlich schillernde Masse aus unzähligen chitinumhüllten Fliegenkörpern aus der Tiefe, die sich in Sekunden über die von Steinmeier dort zurückgelassene Angel und deren Umgebung ergoss. Mehr und mehr Insekten versammelten sich dort und bildeten einen weiter und weiter anwachsenden Klumpen. Dann hörte der Abgrund auf fliegendes Gewürm auszuspeien und eine Veränderung ging durch die Geschwulst aus Fliegenleibern. Mit einer langgezogenen aber dennoch gleichzeitig mühelos und schlacksig wirkenden Bewegung erhob sich aus dem unförmigen Haufen eine zunächst vage und unscharf wirkende menschliche Kontur, als wäre die Person zuvor dort zusammengekauert gewesen. Mehr und mehr Insekten strömten in die Silhouette, verliehen ihr zunehmend Substanz und Stofflichkeit, bis dort auf der Plattform unverkennbar die große dürre Gestalt von Baron Samedi stand, vollständig bis auf den Zylinderhut. Vom Grauen hypnotisiert hielt Steinmeier inne und starrte aus seiner erhöhten Position mit ungläubig offenstehendem Mund und aufgerissenen Augen hinunter auf das Geschehen. Sein gesamtes Bewusstsein brodelte von dem Wunsch, für den Voodoo Götzen unsichtbar zu sein. Zweimal hatte es schon funktioniert - da musste es auch dieses Mal klappen!
Mit einer aufreizend langsamen Geste streckte Samedi seine Arme aus und die Textur seines Körpers verwandelte sich von einem wabernden Meer aus Insektenkörpern zu samtschwarzer Haut, gekleidet in einen ebenso mattschwarzen Anzug. Als wolle er einen schmerzenden Wirbel einrenken drehte er seinen Kopf nach links und nach rechts, klopfte betont lässig ein paar reale oder imaginäre Staubflusen von seinem linken Ärmel. Dann wandte er sein Gesicht mit zu dem immer noch vor Entsetzen starren Steinmeier, blickte ihn aus weiß brennenden Augen voll schwelender Wut und Rachsucht an und gestikulierte mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand erst zu seinen eigenen Augen und dann zu Finn ein unmissverständliches “Ich sehe dich!”.
Eine Sekunde lang schien die Zeit still zu stehen. In Steinmeiers geistigen Ohren drängte Astrids Stimme vehement und besorgt darauf, er möge weiterlaufen, doch der Blick des Barons hielt ihn wie in einem Bann. Schließlich gelang es ihm doch, sich loszureißen. Er keuchte, besann sich der Situation und rannte jenseits jeder Vorsicht weiter die Treppe hinauf. Unten am Brunnengrund sah ihm der Ghede nach, spie eine Fliege auf den Steinboden, die sich sofort brummend in den Abgrund stürzte und setzte sich gemessenen Schrittes in Bewegung die Treppe hinauf, ein grimmiges Schädelgrinsen auf den geschminkten Lippen.

19. Aus der Tiefe (8)

Finn atmete erleichtert auf, aber nur ein wenig. Dann harrte er aus, am Rande des Abgrundes sitzend und diesen versuchshalber mit seiner Angel reizend. Einige Zeit verging und weder hatten irgendwelche mehr oder weniger paranormalen Naturgewalten begonnen, an Angelschnur und Becher zu zerren, noch hatte ein namenloser lovecraftscher Horror seine Tentakel aus der Brunnenöffnung nach ihm ausgestreckt. Mit einer Mischung aus Zuversicht und Enttäuschung spulte Finn die Angelschnur auf, wobei ihm sein immer noch schmerzender Handteller etwas im Weg war. Offenbar hatte der improvisierte Verband längst durchgenässt und jeder Handgriff, den er mit der rechten Hand verrichtete, hinterließ einen blutigen Abdruck. Leicht angewidert holte er die Angel ein und inspizierte Becher und Angelrute. Bis auf die scheinbar unvermeidlichen Blutflecken war die Rute makellos und solide: keine Fuge war auseinandergeraten, kein Riss war entstanden, keine Schnur hatte sich abgerieben, keine Öse hatte sich gelöst. Auch der Becher schien unbeschädigt - und zudem noch frei von blutigen Abdrücken. Finn nickte zufrieden und fälschte gekonnt einen “Kennerblick”. Die Konstruktion machte durchaus den Eindruck, dass man ihr die Seelenkapsel anvertrauen könnte.
Einmal mehr griff seine Hand nach dem kalten ovalen Behälter in seiner Jackentasche und erneut durchflutete ihn das damit verbundene kühle ruhige Gefühl. Was dieses Ding wohl noch so alles tat, außer Seelen in sich zu fangen? Einen Moment lang spürte er bewusst den tickenden mechanischen Vibrationen aus dem Inneren des Artefakts nach, bevor er den Kopf in einer wohl trainierten rebellischen Geste zur Seite neigte und dazu ansetzte, das Objekt zu öffnen. Sich Fiedlers Anleitung entsinnend nahm er die Seelenkapsel in beide Hände, drückte und drehte wie bei einem Bajonettverschluss und tatsächlich ließen sich die beiden Hälften der Kapsel ohne Gewalt verschieben und verdrehen, bevor sie mit einem sanften Klicken einen Spalt breit auseinandersprangen - jedoch nur um fast sofort wieder dicht zusammenzuschnappen.
Finn fluchte innerlich. Warum mussten die Dinge immer so kompliziert sein? Verflixte Mechanik! Was hatte er jetzt nur wieder verkehrt gemacht?
“Danke, Finn, du hast mich aus dem Totenreich gerettet. Es hat funktioniert. Nun sieh’ zu, dass du es lebend hier heraus schaffst!”
Der plötzliche und unerwartete Klang von Astrids (Astrids!) Stimme ließ Steinmeier vor Schreck zusammen, als hätte man  einen Eimer eisigen Wassers über ihn ausgeleert. “As.. Astrid? Du bist schon da drin?”
“Ja, Finn. Du brauchst die Angel nicht. Hier unten können wir Toten ebenso sein, wie ihr Lebenden. Ich habe auf dich gewartet und darauf, dass du die Kapsel öffnest. Jetzt lauf! Du bist in Gefahr!”
Steinmeier entsann sich Fiedlers Warnung und Bedenken bezüglich anderer Geister, die sich als Astrid ausgeben könnten.
“Woher will ich wissen, dass du wirklich Astrid bist? Du könntest genau so gut ein anderer Geist sein, der mich nur benutzen will, um hier heraus zu kommen.” Er grübelte eine Sekunde lang, bevor er die Seelenkapsel herausfordernd ansah. “Wenn du Astrid bist - welchen meiner Filme fandest du am besten, bevor wir uns kennenlernten?”