7. Fragestunde (3)


Das Treffen war dann eine recht seltsame Angelegenheit. So ziemlich jeder der Anwesenden schien sein privates kleines Geheimnis zu haben und irgendwie lief alles darauf hinaus, dass alle einen mehr oder weniger begründeten Hass auf den Gastgeber mit sich herumtrugen. Schließlich kam, was kommen musste: Der Gastgeber wurde tot im Kaminzimmer aufgefunden. Natürlich ermordet. Klassisch, nicht wahr?" Ein Schluck aus seinem Glas und Fiedler blickte noch einmal durch den Raum. An der anderen Seite des Lokals hatte mittlerweile der flackernde Schein eines Streichholzes angezeigt, dass sich die Person im Schatten frische Rauchware angesteckt hatte, die diesmal mit deutlich größerem Durchmesser brannte.

Als jegliche Einwürfe seitens seiner Zuhörer ausblieben, fuhr Fiedler fort: "Natürlich ermittelte sofort die Polizei, jedoch auch mich interessierte die Angelegenheit - eher weniger wegen dem Mord als vielmehr wegen der Karten. Ich halte zwar eigentlich die Regeln der Gastfreundschaft hoch und das Meucheln des Gastgebers gehört sicher nicht dazu, aber die Bluttat war eine geradezu perfekte Entschuldigung, neugierig sein zu dürfen.

Stück für Stück stellten sich zwei Dinge heraus: Einerseits besaßen alle diejenigen, die damals bei dem Bunkereinsturz dabeigewesen waren, ein großes Arcanum von eben dem gesuchten Kartendeck - und zeigten davon abgesehen gewisse Entsprechungen zu den darauf dargestellten Motiven. Andererseits liefen verdammt viele Fäden bei einer gewissen Person zusammen, die offenbar damals bei dem Unglück ums Leben gekommen war," an dieser Stelle schnaubte Finn Steinmeier verächtlich, was Fiedler aber geflissentlich ignorierte, "nämlich der Lehrerin".

Einen Umstand habe ich bislang allerdings verschwiegen, ohne den es gar keinen Sinn machen würde, die gesamte Story hier noch einmal aufzuwärmen: Genau wie ich war auch Frau Kirchner mit von der Partie und zwar als Begleitung und wenn ich es richtig verstanden hatte, als potentielle Gespielin unseres Herrn Steinmeier hier." Fiedler pausierte kunstvoll und für einen Lidschlag hatte Finn das Gefühl, von Sinas plötzlich auf ihn fokussierten Augen durchleuchtet zu werden.

Genüsslich genehmigte sich Fiedler einen weiteren Schluck seines Getränkes und weidete sich an Finns verzweifelten Bemühungen, den ziemlich großen Bissen seines Burgers in seinem Mund für eine schlagfertige Entgegnung aus dem Weg zu räumen. Mit wohlüberlegtem Timing und sicherer Stimme fuhr er dann fort, bevor sein Gegenüber mehr als unartikuliertes Maulen von sich geben konnte:

"Wie wahrscheinlich allen Anwesenden hier bekannt ist, war Astrid Kirchner ein recht begabtes und zudem ziemlich tüchtiges Medium. In Grenzgängerkreisen zumindest galt sie als eine der besten Adressen, wenn man denn Kontakt mit verstorbenen Geschäftspartnern, Erbtanten, Geheimnisträgern oder einfach nur lieben Menschen aufnehmen wollte. Welche Pläne Frau Kirchner selbst verfolgte, als sie auf dieses Treffen ging, kann ich Ihnen nicht sagen - und es ist auch nicht anzunehmen, dass sie unseren Herrn Steinmeier in die Tiefen ihres Vorhaben eingeweiht hat. Im Grunde genommen könnte sie dort einfach zu ihrem Vergnügen gewesen sein - oder weil sie sich in der Tat zu Finn hingezogen fühlte.

Auf alle Fälle machte sich auch Astrid Kirchner - aus welchen Beweggründen auch immer -  daran, hinter die Kulissen des Mordes und der Kartenangelegenheit zu schauen. Dabei lag es natürlich nahe, ihre Gabe zu nutzen und Kontakt zu einer der verstorbenen Personen aufzunehmen. Bei meinen Recherchen im 'Nachspiel' der Geschehnisse stellte es sich heraus, dass Frau Kirchner offenbar immer einen gewissen Zeitraum zwischen Tod und Befragung eines Menschen verstreichen ließ, das Mordopfer stand also für ein metaphysisches Verhör anscheinend nicht zur Auswahl.

Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die bei dem Bunkerunglück vor zehn Jahren im wahrsten Sinne des Wortes verschütt' gegangene Lehrkraft. Sie berief eine Seance aus vier Zeugen des Unglücks ein - es waren vor Ort ja mehr als genug vorhanden - und baute nach allem, was ich gehört habe, ganz klassisch eine Verbindung zum Geist der Lehrerin auf. Irgendetwas muss dabei aber schief gelaufen sein, denn keine zehn Minuten nach Beginn der Sache wurde ich von einem beteiligten Grenzgänger dazugerufen: die gute Frau Kirchner hatte sich ihrer eigenen Klientel angeschlossen und hing tot in ihrem Stuhl mit blutigen Rinnsalen aus Augen, Ohren und Nase."

Erneut pausierte Fiedler kurz, diesmal anscheinend tatsächlich, um Steinmeier eine Gelegenheit zu ein paar Worten zu geben. Dieser starrte jedoch mit etwas glasigem Blick vor sich hin und schien in keiner Weise geneigt, mehr Details der damaligen Ereignisse aus seinen Erinnerungen hervor zu locken. Indes huschte Fiedlers Blick einmal mehr quer durch den Raum und sichtete die Lage.

Auf der von Tischen, Stühlen und Gästen befreiten Bühne standen mittlerweile einige Sätze etwas archaisch/afrikanisch anmutender Schlaginstrumente und die Leute, die sich um den Aufbau gekümmert hatten, waren wieder zu anderen Tätigkeiten übergegangen. Bis zum Live-Act in einer Stunde würde kein Normalo die Bühne beachten, das wusste Fiedler - und er wusste auch warum. Die Frau im Schatten drückte ihren Glimmstängel aus, stand auf und begab sich mit lockeren aber grazilen Bewegungen auf den Weg zur Damentoilette. Es blieb nicht mehr viel Zeit für den Rest der Geschichte.

Fiedlers Kopf ruckte herum, als seine Redepause jäh von der abwesend und etwas rauher als gewohnt klingenden Stimme Steinmeiers unterbrochen wurde. "Esoterischer Quatsch - aber was tut man nicht alles für eine Frau, die einem ... gefällt. So etwas Ähnliches hab' ich mir damals wohl gedacht, als mich Astrid und die anderen zu der Séance überredet haben. Ich meine - das ist doch wie aus einem schlechten Teenie-Schocker: Auf einem Klassentreffen ist ein etwas okkult angehauchtes Mädel, die auf den Gedanken kommt, eine verstorbene Lehrerin zu beschwören ... oder wie man das nennt.

'Egal!' habe ich mir gedacht. 'Das ist ja kein Film! Wahrscheinlich wärmen wir ein paar alte Gedanken und Erinnerungen auf und kommen dann zum Schluss, dass Frau Schierlo eigentlich noch mitten unter uns ist ... oder irgend so ein watteweicher Schwachfug.' Kann ja keiner ahnen, dass Astrid verdammt noch mal ein echtes Medium ist und dass diese beschissene Grenzwelt existiert!

7. Fragestunde (2)


"Einen Moment, Herr Fiedler!" Zu beider Überraschung eilte Sina dem hastig schluckenden und würgenden Finn zu Hilfe. "Vielleicht könnten Sie dem guten Herrn Steinmeier in aller Ruhe zu Ende essen lassen und die dafür notwendige Zeit damit füllen, dass Sie die Begleitumstände von Frau Kirchners Tod für mich noch einmal erläutern. Selbstverständlich habe ich zwar ein paar Informationen über diese Sache mit der Séance auf dem Theatergruppentreffen bekommen, aber Details dazu habe ich von meinem Auftraggeber nicht erhalten. Wären Sie bitte so freundlich, Ihre bestimmt durch die Lektüre von Detektivromanen geschulten Erzählerfähigkeiten nutzbringend anzuwenden und die damaligen Ereignisse so knapp wie möglich und so detailliert wie nötig zu umreißen? Ja? Würden Sie das für mich und Herrn Steinmeiers leeren Magen tun?"

"So so - ich hätte gedacht, dass Ihr Herr und Meister seine Schoßtiere über die nötigen Details informieren würde. Erstaunlich!" Fiedlers Stimme troff vor Sarkasmus und nur in Gedanken fügte er hinzu "... und dabei haben Sie sich doch bislang so viel Mühe gegeben, keine Schwächen zu zeigen."

Mit rationalem Ton fuhr er fort: "Aber wenn Sie das wünschen, werde ich natürlich noch einmal die Details zusammenfassen, von denen ich denke, dass sie wichtig sein könnten. Ein wenig Zeit haben wir ja noch. Sollten Sie mich irgendwo korrigieren wollen, Herr Steinmeier, fallen Sie mir einfach ins Wort - gerne auch mit vollem Mund..."

"Ein wenig Zeit? Warten wir auf etwas?" Sina wirkte skeptisch interessiert.

"Ja, auf einen alten ... Bekannten. Er dürfte für unsere Belange eine ziemlich nützliche Informationsquelle sein." In Fiedlers Gesicht stand ein nicht deutbares Grinsen.

"Und er wird hier auftauchen?"

"Ja. In gewisser Weise ist er schon hier - aber richtig anwesend ist er erst später am Abend." Fiedler grinste noch etwas schiefer und warf einen verstohlenen Blick zu einem schlecht beleuchteten Ecktisch, an dem vage eine dunkelhäutige Frau zu erkennen war, die dort alleine am pulsierend aufglimmenden Lichtpunkt einer Zigarette sog. "Aber ich schweife ab." Er nippte seinem Getränk und fing an, mit merkwürdig markanter Stimme zu erzählen.

"Es begann damit, dass mir ein alter Freund einen Auftrag zukommen ließ - und bei solchen Dingen sagt man nun mal nicht nein. Die Sache klang unklar und schwierig, aber wenn es anders gewesen wäre, hätte er mich ja nicht gebraucht.

In seinem Besitz befand sich eine Tarotkarte, Crowley Symbolik, an sich ganz gewöhnliche Massenware, die es aber anscheinend im wahrsten Sinne des Wortes in sich hatte. Auf irgendeine Art und Weise schien die Karte ein Fragment eines ziemlich mächtigen und einigermaßen angepissten Wesens aus einer Anderwelt zu enthalten. Die Karte hatte dadurch ein paar recht interessante Eigenschaften gewonnen, die hier nichts weiter zur Sache tun. Was vielleicht erwähnt werden sollte ist, dass das Vieh in der Karte so nebenher mal den Geist einer Seherin gefressen hatte, die ihre metaphysische Nase offenbar zu weit in die Sache gesteckt hatte.

Jedenfalls ging mein Auftraggeber davon aus, dass es auch noch andere Karten vom selben Deck geben müsste, von denen zumindest die großen Arcana ebenfalls einen Brocken des übellaunigen Anderweltlers enthalten dürften. Mein Job war es nun, diese restlichen Fragmente zu finden und wenn möglich an mich zu bringen oder unschädlich zu machen."

Ein weiterer Schluck des bernsteinfarbenen Getränks befeuchtete Fiedlers Kehle. Draußen vor dem Separee hatten ein paar Leute angefangen, zwei Tische samt Stühle abzutransportieren, die auf einer kleinen erhöhten Bühne gestanden hatten.

"Die meisten Fälle, für die ich angeheuert werde, drehen sich um irgendwelchen Schweinkram zwischen Grenzland und Normalwelt - und dieser war keine Ausnahme. Bei meinen Nachforschungen stellte es sich heraus, dass die Karte, bevor sie ihren Weg an die Grenze fand, einer Normalo gehört hatte. Die Lady war schnell gefunden und erzählte mir nach ein wenig gutem Zureden, die Karte wäre ihr bei einem Unglück in einem alten Bunker vor zehn Jahren mehr oder weniger zugelaufen. Offensichtlich war die Dame ziemlich unbeleckt von der Grenze und das, obwohl sie selbst die Karte über Jahre hinweg in ihrem Besitz gehabt hatte. Eine direkte Wirkung schienen die Karten also nicht zu haben.

Viel interessanter war aber, dass nur ein paar Tage später so eine Art Klassentreffen auf dem Land stattfinden sollte, bei dem sich zufälligerweise alle die Leute versammeln würden, die damals bei dem Unglück anwesend waren und denen sich daher wohl am wahrscheinlichsten die Gelegenheit geboten hatte, ebenfalls eine oder zwei Karten in die Hände zu bekommen. Es bedurfte nur ein wenig meines berüchtigten Charmes" - Fiedler grinste breit - "und schon war ich als Begleiter der Dame auf die Gästeliste gerutscht.

7. Fragestunde (1)


Pulsierende Reggea-Rhythmen erfüllten die unangemessen saubere und rauchfreie Luft in den von grünem und gelbem Licht durchfluteten Räumen der "Jungle Lounge". Umgeben von einer dichten Wand aus (nahezu echtem) Gebüsch saßen Sina und Finn Steinmeier auf halbwegs bequemen Plastikschalenstühlen. Zwischen ihnen stand ein runder Tisch mit khakifarbener Decke, Aschenbecher und einem merkwürdig geformten schwarz-gusseisernen Kerzenhalter im Tribal-Stil. Durch den etwa zwei Meter breiten von Kunststoffpalmen umrankten Eingang zum Separee war die Silhouette von Fiedler zu erkennen, der an der runden Theke inmitten des im mäßig authentischen Urwaldstil gestalteten Raumes stand und wartete.

"Sie waren also dabei, als Astrid Kirchner starb?" Offenbar hatte Sina genug vom schweigenden Starren ihres Gegenübers. "Kannten Sie sie? Hat Sie der Verlust schwer getroffen?" Irgendwie gelang es ihr nicht, echte Betroffenheit oder Mitgefühl in ihre Stimme zu legen.

Finn Steinmeiers Gesichtszüge arbeiteten kurz, dann entgegnete er gefasst: "Ja, vielleicht und irgendwie ja. Ich war einer der vier Teilnehmer an dieser seltsamen Séance auf diesem vermaledeiten Theatergruppentreffen. Eigentlich kannte ich sie zuvor nur so als kurze Partybekanntschaft und hatte sie idiotischerweise an dem Wochenende mitgeschleppt - aber irgendwie hat sie mir schon etwas bedeutet..."

Verwirrt hielt Finn inne - auch weil sich Sinas Blick von ihm gelöst hatte und nun durch die Bar huschte, begleitet von einem abwesend verspielten Gesichtsausdruck. Sein abruptes Schweigen realisierend, fokussierte sich ihre Aufmerksamkeit sofort wieder auf ihn. "Aber Sie waren damals noch kein Grenzgänger, nicht wahr?"

"Nein. Das war ja das Krasse! Sie war es eigentlich, die auf mich zugekommen ist - sonst hätte ich sie wegen des Schleiers wahrscheinlich gar nicht erst wahrgenommen. Zuerst dachte ich mir, sie wäre nur ein weiteres Groupie - wissen Sie, wenn man erst einmal ein paar Stunden auf dem Fernsehschirm war, dann laufen einem die Mädchen geradezu hinterher." Sinas erneut aufgenommene Suche durch den Saal hielt für einen Augenblick inne und sie sah Steinmeier ungläubig grinsend an, der jedoch ungestört fortfuhr. "Allerdings merkte ich ziemlich bald, dass Astrid anders war, dass sie die Dinge anders sah, einen ganz anderen Horizont hatte... und dann war ich dabei, als sie starb - und dann hatte ich sie komplett vergessen! Einfach so! Sie hing neben mir tot auf dem Stuhl und ich hatte sie vom einen auf den nächsten Moment vergessen! Das ist doch ..."

"Ha!" Weit abseits jedes Kontexts strahlte Sina plötzlich zufrieden und zeigte mit der Hand quer durch den Raum auf ein von einer Servicekraft getragenes Tablett - oder besser gesagt auf einen kompliziert aussehenden Cocktail darauf, dessen Farbe in seinem geschwungenen Kristallpokal von Tiefrot zu einem satten Gelb changierte, gekrönt von kompliziert ineinandergesteckten Ananas- und Orangenscheiben und einer kleinen glitzernden Plastikpalme. "Das da!" Ohne Vorwarnung materialisierte ein exakt gleiches Getränk in einem exakt gleichen Glas zwischen ihr und dem völlig perplexen Finn auf dem Tisch - natürlich mit einer exakt gleichen Glitzer-Deko-Palme.

Als Fiedler ein paar Augenblicke später zu den beiden stieß, glotzte Finn Steinmeier immer noch leicht konsterniert auf die geistesabwesend aber glücklich mit der kleinen Plastikpalme spielende Sina. Mit einem nur minimal skeptischen Seitenblick auf Sinas rot-golden schillerndes Getränk stellte er das voll beladene Tablett auf den Tisch. "Ich sehe, Sie haben sich selbst schon etwas zu trinken organisiert. Fein. Dann bleibt eben mehr für die Geborenen."

"Geborene?" Finn erwachte gleichsam aus seiner Verwirrung. "Was soll das schon wieder heißen?"

"Ganz einfach, wir beide sind Menschen und als solche irgendwann einmal gezeugt und geboren worden. Sina hingegen ... na ja, ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie sie wann einmal entstanden ist - so etwas fragt man eine Dame natürlich auch nicht." Er warf einen huschenden Blick zu ihr hinüber und stellte fest, dass sie seinen Erläuterungen freundlich interessiert folgte.

"Wesen wie sie bezeichnet man als 'Beschworene'. Allerdings sollte man sie nicht unbedingt alle über einen Kamm scheren: unter dem Begriff werden Naturgeister, Menschengeister, Elementare, Manifeste, Belebte, Golems, Konstrukte, Untote und so weiter zusammengefasst. Eine extrem durchmischter Haufen. Sie verstehen? Sina ist ein Geist in Menschengestalt - wenn auch in einer durchaus ansprechenden." Während Fiedlers Beschreibung waren Steinmeiers Augen erst rund vor Erstaunen geworden, dann leuchtete Begreifen darin auf.

Sina räusperte sich vorwurfsvoll, worauf Fiedler kurz stutzte, grinste und dann hinzufügte: "Bevor ich mir jetzt aber Unhöflichkeit vorwerfen lassen muss: Die werte Sina gehört meiner Einschätzung nach zu den Menschengeistern - und kann, wie Sie schon bezeugen konnten, allenfalls im gereizten Zustand als 'böser Geist' bezeichnet werden." Erwartungsgemäß kehrte das Lächeln in Sinas Gesicht zurück und sie widmete sich wieder ihrer Glitzerpalme.

Mit zwei flinken Schritten eilte Fiedler um den Tisch und nahm zwischen Sina und Steinmeier Platz, so dass er nun genau wie Sina das Lokal vor dem Separee im Blick hatte. Währenddessen hatte Finn den Teller mit dem riesigen dampfenden, aromaverbreitenden Hamburger und einem Haufen Pommes Frites zu sich heran gezogen und musterte den Nahrungsberg mit erwartungsfrohem Ausdruck. "Danke, Fiedler! Erzählen Sie mal was von dem Geschäft." Rasch sah er noch einmal unsicheren zu Sina hinüber, dann fiel er hungrig über seinen Teller her.

"Also, lassen Sie mich die Sache kurz fassen, während Sie essen. Mein Auftraggeber - vertreten durch diese Dame hier"- (eine kurze Geste zu Sina) "möchte gerne Astrid Kirchner wieder unter den Lebenden haben. Das ist vermutlich nicht so schwer, wie es aufs Erste klingen mag, weil sie wahrscheinlich nicht wirklich vollständig tot ist. Zunächst müssen wir aber herausfinden, wo wir sie finden könnten - und dafür brauchen wir Sie." Fiedler blickte den über beide Backen kauenden Finn Steinmeier auffordernd an, dessen Mund deutlich zu voll für jede Antwort war.

6. Andererseits (4)


"In der Neuen Schlosserbrücke?" Brack legte all seine Verwunderung in das erste Wort seiner Frage und seine Augen verengten sich zu ungläubigen Schlitzen. "Wie soll ich das verstehen? Meinen Sie vielleicht unter der Überdachung?"

"Eben nicht, Herr Brack, in der Brücke selbst - also genau kann ich das nicht erklären, das Signal war relativ unkorreliert und inkohärent aber deutlich mit einer klassischen neohermetischen Singularisierungstransformation als Überlagerung von materiellen mit asonant nekromantischen Komponenten darstellbar." Erneut schwang ein gerütteltes Maß an Begeisterung über diese Feststellung in Irene Hasmanns Stimme mit.

Ihr Gesprächspartner hingegen runzelte die Stirn. "Was immer Sie sagen. So begeistert Sie von Ihrer Feststellung sein mögen - ich werde sie dem Chef nicht ohne Überprüfung mitteilen. Können Sie Kontakt aufnehmen?"

Vehement schüttelte Frau Hasmann den Kopf: "Nein, nein! Ich sagte doch, dass ich allenfalls asonantes und kein resonantes Feedback erhalte. Natürlich bin ich keine ausgebildete Beschwörerin, aber wenn ich meinen Analytikkenntnissen trauen darf, dann ist die arkane Matrix des Geschöpfes durch den Verlust ihrer stofflich symbolisch bindenden Hülle fast vollständig degeneriert und hat irreversibel ihre Kohärenz verloren."

Brack verdrehte die Augen. "Das heißt, sie ist zerstört?"

"Ja. Äh ... nein ... also, sie ist wahrscheinlich nur noch die Magie, aus der sie bestand, ohne Struktur."

Ein verständnisvolles Nicken von Brack: "Ah. Wie wenn von einem Menschen nur noch ein Haufen Hackfleisch übrig ist, richtig?"

Obwohl ihr dieses Bild deutlich wenig behagte, musste Irene Hasmann zustimmen. "Ja, so in etwa."

"Was schätzen Sie, wie lange müssten Sie vor Ort sein, um Genaueres festzustellen?"

"Auf der Neuen Schlosserbrücke? Da gibt es einen Troll!"

"Richtig. Je kürzer Sie brauchen, desto besser." Über Bracks furchiges Gesicht zog sich ein freundlich-fieses Grinsen. "Also?"

"Ich ... äh ... wenn ich alles vorbereite, könnte ich das wahrscheinlich auch vom Ufer aus machen ... ohne die Brücke zu betreten - das ... ahm ... würde etwa fünfzehn bis dreißig Minuten dauern." Irene Hasmanns Miene schwankte zwischen Besorgnis und geistiger Entrückung.

Für einen Moment wog Brack die Anordnungen Unbehauns gegen den Informationsgewinn durch eine Untersuchung ab. "Sehr gut. Dann treffen wir uns dort in einer halben Stunde. Reicht Ihnen das?" Ein eifriges Nicken beantwortete die Frage und mit dem gleichen Elan den sie bei ihrem Auftritt an den Tag gelegt hatte, verschwand Irene Hasmann wieder den Korridor entlang.

Mit nachdenklich gerunzelter Stirn sah ihr Brack hinterher abwägend, ob er Unbehaun von dieser neuen Entwicklung gleich unterrichten sollte oder lieber erst später. Dann entsann er sich des triefenden abgetrennten Kopfes, den er noch immer in den Händen trug, wunderte sich einmal mehr über die Seltsamkeit der Magier - Frau Hasmann hatte den Kopf zwar zur Kenntnis genommen aber sonst keines Blickes gewürdigt - und machte sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum, wo er den lallenden, sabbernden Beschwörer zurückgelassen hatte.

6. Andererseits (3)


Immer wieder war er erleichtert, nicht zu den Magiern in Unbehauns Organisation zu gehören. Zwar musste er sich immer wieder eingestehen, auf die vielseitigen Mächte und Möglichkeiten doch ein wenig neidisch zu sein, die seinem Chef und dessen Kollegen zur Verfügung standen, doch wenn er sich die damit verbundenen Tätigkeiten und Risiken ansah ... Nein, er war mit seiner Position als "Leitender Scherge", wie er sich selbst gelegentlich betitelte, ganz zufrieden. Wenn etwas erledigt werden musste, konnte er selbst einschreiten oder ein paar seiner Untergebenen ("Schergen") schicken und in Grenzen hatte sein Wort sogar für Frau Hasmann, Unbehauns Lehrling, eine bindende Bedeutung.

Dank der berüchtigten Wutausbrüche von Unbehaun konnte er sich seiner Position sogar völlig sicher sein - niemand in der Truppe würde sie ihm so gerne streitig machen. Schließlich hatte nicht jeder seine Gabe - und eine zügige Wundheilung, gute Resistenz gegen Blutverlust und nachwachsende Gliedmaßen waren definitiv von Vorteil, wenn man sich mit schlechten Nachrichten meldete. Gelegentlich war sich Brack allerdings nicht so sicher, ob sein Chef sich Unarten wie die Sache mit den Messern auch angewöhnt hätte, wenn sein oberster Handlanger keine regenerativen Eigenschaften gehabt hätte. Egal. Mit den Schmerzen konnte er leben und sein Leben war relativ sicher. Es kam ja nicht jeden Tag vor, dass eine kostbare und mächtige Schaufensterpuppe (der Beschwörer hatte etwas von einer "idiotisch konstruierten Quasimumie" gefaselt) im Rahmen eines wichtigen Auftrags zu einem Trümmerhaufen zerfiel.

Hätten die Trümmer der Puppe keine deutlichen Kampfspuren getragen, wäre Bracks Meinung nach eher Pfusch seitens des Beschwörers die Ursache des Problem gewesen. Dem Kerl (der sich selbst tatsächlich nur "der Beschwörer" nannte) brachte er schon immer eher wenig Sympathie entgegen und auch dessen Ableben oder Ende im Wahn rangen ihm nur wenig Mitleid ab. Wer sich ständig mit einer Aura von Tod, Verderben und "Ich-Bin-So-Böse" umgibt, der wollte es doch im Grunde genommen nicht anders, oder? Magier spielten mit den Kräften, die die Welt ausmachten - und brauchten sich doch nicht zu wundern, wenn sie an eben diesen scheiterten und zerschellten.

Seine Überlegungen wurden spontan beendet, als eine etwas plump und kompakt gebaute Frau Mitte zwanzig mit hochgesteckten braunen Haaren, einer ausgewogenen Mischung aus Sommersprossen und Hautunreinheiten und strahlend grünen Augen aus dem Gang auf ihn zuschoss. Irene Hasmann strahlte über das ganze pausbäckige Gesicht. "Brack, ich hab' sie wiedergefunden! Also jedenfalls ein Stück von ihr. Ihre metaphysische Substanz meine ich. Erst war sie weg, dann plötzlich war sie wieder da und ich dachte, sie wäre in die Elm gefallen. Als ich aber eine assoziative Kognition zum Fremdende der Interresonanz herstellen könnte, bekam ich lediglich periphäre Signale des Elementes Wasser also ..."

Brack unterbrach ihren Redeschwall. "Sehr gut, Frau Hasmann. Bitte noch einmal im Klartext für mich."

Ein Hauch von Ernüchterung trübte die Miene der Frau. "Sie ist auf ... ähm ... in der Neuen Schlosserbrücke."

6. Andererseits (2)


Mit leisem Sirren und dem Singen von Metall zuckten die Klingen zurück und wirbelten durch den Raum, um schließlich in einem dekorativen Halter an der Wand zur Ruhe zu kommen. Die blutbefleckten Spitzen verbargen sich keusch und dezent in edlen schwarzen Ebenholzschnitzereien afrikanischer Kunst. Keuchend sank Brack in sich zusammen, bemüht Haltung und Fassung zu wahren oder wiederzuerringen.

"Ich hatte noch nie ein Faible für die gute Tradition des Tötens der Überbringer schlechter Nachrichten. Schließlich ist es kein einfaches Unterfangen, adäquates Personal wie Sie zu finden." Wenn der Satz Humor enthalten haben sollte, dann war es der Stimme nicht anzumerken. "Belassen Sie mich doch einfach tunlichst in dem Glauben, Sie wären derlei adäquates Personal, dann können Sie sich auch Ihres Lebens sicher sein." Brack nickte und schluckte schmerzhaft, während der Mann am Fenster fortfuhr. "Verfügen Sie über Informationen betreffs Tätigkeit und Verbleib unseres geschätzten Herrn Fiedler?"

Für einen Moment rang Brack nach möglichst 'adäquaten' Worten. "Unsere Leute waren schnellstmöglich bei seinem Büro und haben sich nach ihm erkundigt. Er selbst war nicht anwesend und seine Sekretärin wusste, dass er am frühen Nachmittag Besuch von einer Dame hatte. Nach allem, was ich Erfahrung bringen konnte, ist die Sekretärin eine Normalo - sie bekam keine vernünftige Beschreibung der Besucherin mehr zusammen. Jedenfalls meinte sie, die Fremde hätte Fiedler wohl einen Auftrag gegeben und ihn dann begleitet. Das klang nach unserer Kreatur, war mir aber nicht eindeutig genug." Er hielt kurz inne, sprach dann aber in Ermangelung einer Reaktion seines Gegenübers weiter.

"Ich selbst war bei Griselda von Radewitz, von der Sie vermutet hatten, dass Fiedler sie aufsuchen würde. Leider stellte sich Frau von Radewitz als sehr beschäftigt und ziemlich unkooperativ heraus und ich hielt es für ziemlich unklug, etwas aus ihr herausquetschen zu wollen. Alles was sie rausrückte war, dass das von Ihnen angekündigte Geschäft abgewickelt worden war - und zwar ohne nennenswerte Auffälligkeiten."

Der Mann im Drehstuhl am Fenster hatte mittlerweile seine Ellenbogen auf die Armlehnen des Stuhls gelegt und sein Kinn in nachdenklicher Konzentration auf die gefalteten Hände gestützt. Immer noch wandte er Brack den Rücken zu - was diesem eigentlich gerade ganz angenehm war.

"Irgendwo muss aber etwas schief gegangen sein - sonst hätten wir nicht die Trümmer ihrer Hülle gefunden. Ach ja ... Irene Hasmann, die ich hinzugezogen hatte, weil der Beschwörer ja ausfällt, hat sich die Reste noch einmal angesehen und dabei ein paar Spuren von ziemlich starker Metamagie gefunden - aber keinerlei Überbleibsel der Substanz der Kreatur selbst. Nichts. Sie war ziemlich erstaunt, denn eigentlich, sagte sie, hätte das Wesen wenigstens etwas Restabstrahlung - sie sagte 'Remanenz' - in seinen Gefäßen hinterlassen müssen, selbst wenn es vernichtet wurde."

Die Betonung der letzten Sätze hatte klargemacht, dass Brack sich ihrer Bedeutung so überhaupt nicht sicher war. Nun aber kehrte etwas Selbstsicherheit in ihn zurück: "Ich habe sie dann angewiesen, über die Materialien des Beschwörers eine Verbindung mit dem Wesen aufzubauen - sobald sie es geschafft hat, wird sie sich bei mir melden. Ein ritueller Kontakt zu Fiedler ist ja ausgeschlossen..." Brack biss sich auf die Zunge und der Zusatz "und auf Ihren Befehl haben wir ja den Brief von allen Verbindungen säubern lassen." blieb unausgesprochen.

Erneut füllte ein Moment des Schweigens den Raum. "Adäquat, Brack. Mitnichten gut, aber adäquat." Der Tonfall des Mannes am Fenster war vollkommen widerspruchsresistent. "Offensichtlich tut es Not zu betonen, von welcher Wichtigkeit der Erfolg dieser Unternehmung ist. Bevor Sie also länger Zeit und Talent von Frau Hasmann auf die Angelegenheit verschwenden, senden Sie lieber nach Marina Vanderduhn und entlohnen Sie diese für die Anwendung ihres seherischen Talentes. All zu hoch sollte ihre Forderung nicht ausfallen - wir hatten bereits miteinander zu tun und sie hegt sicherlich nur geringes Bedürfnis, meinen Unmut auf sich zu ziehen. Händigen Sie ihr den Kopf aus, am besten ohne weitergehende Erläuterungen und berichten Sie den Befund. Ach ja - und sehen Sie zu, dass Frau Hasmann sich wieder ihren Studien widmet. Mit dem offenkundigen Wegfall des Beschwörers muss der Zirkel beizeiten an die Beschaffung oder Ausbildung von Ersatz denken."

Brack nickte knapp. "Verstanden. Wird gemacht!" Eilenden Schrittes schickte er sich an, den Raum zu verlassen. Die Wunden an seinem Hals waren bereits nicht mehr zu sehen.

"Brack! Wo haben Sie denn nur Ihren Kopf?" Die Stimme des Mannes am Fenster hatte einen angespannt entnervten Unterton. "Nehmen Sie doch ersatzweise wenigstens den der Puppe mit! Frau Vanderduhn könnte ihn benötigen und außerdem hinterlässt er eine Sauerei auf meinem Parkett."

"Ähm - natürlich!" Peinlich berührt wirbelte Brack herum und hastete mit hochroten Ohren zu dem immer noch mitten im Raum liegenden Schaufensterpuppenteil. Vorsichtig und leicht angeekelt fasste er mit beiden Händen um den zäh triefenden Hals, drückte den Kunststoff leicht zusammen und hob den Kopf an. Aus dem Inneren des Plastikteils drang ein leise mahlendes, feuchtes Geräusch und Brack musste sich unwillkürlich ausmalen, wie die zersplitterten Wände des Keramikgefäßes darin die geleeartige Masse des konservierten Gehirns zerquetschten und aufrieben, zu dessen Schutz sie eigentlich gemacht worden waren. Eine Welle von Übelkeit stieg in ihm hoch, die er sich aber tunlichst nicht anmerken ließ, während er seine zuwidere Fracht aus dem Raum trug.

6. Andererseits (1)


"Ich bitte Sie, tun Sie nichts Unüberlegtes!" Ein Schweißtropfen rann über Lukas Bracks Kinn und vermischte sich zögerlich mit dem dünnen Rinnsal von Blut, das aus einem frischen Kratzer an seiner Kehle quoll. Keinen Millimeter darüber harrte drohend die rasiermesserscharfe Spitze eines schlichten matt-stählernen Dolches, der von unsichtbarer Hand gehalten als eine von sieben identischen Klingen einen bedrohlich kreisenden Kragen um Bracks Hals bildete.

Sein Gegenüber richtete sich in seinem modernen Drehstuhl auf, eine Geste, die nicht nur entfernt an das Drohen einer Kobra erinnerte. Statt eines Zischens ertönte aber eine ruhige, nüchterne und wohlklingende Tenorstimme, die überhaupt nicht zu der wütend pulsierenden Halsschlagader des großen, schlanken Mannes mit dem rationalen blonden Bürstenschnitt passte. "Mitnichten, Brack. Selbstverständlich bin ich geneigt, auch Ihnen eine zweite Chance zu gewähren. Erläutern Sie doch bitte noch einmal, was der von mir entsandten Kreatur geschehen ist? Mir war, als hätte ich Sie missverstanden, als hätten Sie gesagt, sie wäre 'vernichtet' worden... Nur zu! Seien Sie sich meiner vollständigen Aufmerksamkeit versichert!"

Bei den letzten Worten zog sich der Kranz aus Dolchen um ein paar Millimeter zusammen und glitt ein Stück nach oben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht war Brack nun gezwungen, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit die Klingen nicht mehr taten, als seine Haut zu ritzen.

Keuchend stieß er hervor, was seiner Ansicht nach wohl sein Todesurteil sein könnte: "Vor einer Stunde ist der Beschwörer zu mir gebracht worden, der die Kreatur kontrolliert und überwacht hatte. Er war fast tot und kaum noch bei Sinnen, weil ihm irgendetwas das Hirn zerquetscht hatte. Aus ihm konnten wir nicht mehr herausbekommen, als dass er 'sie' verloren hätte - und er stöhnte etwas von einer Frau aus Nacht und Flammen. Sofort habe ich dann ein paar Leute losgeschickt und mehr als das da konnten sie nicht wiederfinden."

Bracks Hand wies etwas ungelenk auf den ziemlich mitgenommen wirkenden abgetrennten Kopf einer Schaufensterpuppe mit poppig violettem Haar, tiefen Kratzspuren durch die perfekten künstlichen Züge und nur noch einem Auge. Aus der aufgefetzten Augenhöhle und dem offensichtlich mit roher Gewalt vom Rumpf getrennten Hals des Plastikhaupts sickerte eine tiefrote zähe Flüssigkeit, die mittlerweile eine klebrige Lache auf dem gepflegten Parkettboden des Raumes gebildet hatte.

"Es ist nicht mein Fehler! Ich musste nur die schlechte Nachricht überbringen!" In einem Anflug von Verzweiflung überschlug sich Bracks Stimme und er verstummte mit nervös zuckendem Adamsapfel. Für einen Moment herrschte Stille, nur gebrochen durch das Rauschen des Verkehrs tief unten vor dem Gebäude und das Prasseln des Regens an den großen Klarglasscheiben, während hinter den wasserblauen Augen des Mannes im Chefsessel die Entscheidung über das Leben seines Handlangers getroffen wurde.

"Da mögen Sie Recht haben." Der Mann im Bürostuhl schwang langsam herum und wandte sich dem Fenster zu. Unablässig kreisten die Messer um Bracks Hals und zogen ihre Muster aus blutigen Linien über seine Haut. Immer wieder entrang sich ein unterdrücktes Stöhnen der misshandelten Kehle des Mannes. Ein paar weitere endlose Herzschläge vergingen, dann hob sich eine schmale Hand mit drei schlichten Ringen als Silhouette vor das Fenster, krümmte Daumen, Ring- und kleinen Finger und machte dann eine kleine, schnelle aber komplexe Geste.

5. Brückenschläge (5)


Das schlug ein. Beinahe wäre Finn rückwärts in die Elm gestolpert, als sich in seinem Kopf die Bedeutung von Fiedlers Worten zusammensetzte. "Astrid? Zurückholen? ... so mit Wiederauferstehung und so?"

"So ähnlich. Wahrscheinlich nicht so spektakulär, und wir wollten keine Religion daraus machen - schließlich ist sie auf einem Stuhl gestorben und der macht als Symbol weniger her, als ein Kreuz. Na ja, wahrscheinlich hinkt der Vergleich auch noch auf ein paar mehr Ebenen, aber der Grundgedanke ist richtig. Frau Kirchner ist ziemlich tot und wir wollen das ändern. Was ist? Besprechen wir die Sache an einem Ort mit intaktem Dach, einer Heizung und Bewirtung?"

"Abgemacht." Finn klang zwar skeptisch, kletterte jedoch von der Statue herab und ließ sich auf die Brücke hinunter, wobei er aber tunlichst unauffällig darauf achtete, Sina nicht zu nahe zu kommen. "Sie zahlen."

Von Sina kam ein leicht verharmlostes Raubtiergrinsen "Oh, Heizung klingt gut - aber gegessen habe ich schon..."

"Nach Ihnen." Mit lässiger Geste wies Fiedler seinen Begleitern den Weg zum Burgufer und trottete mit verzogenem Gesicht neben dem klatschnassen Ex-Star her während die Beschworene etwas zurückblieb. In seinem Kopf drehten sich Überlegungen ungeordnet umeinander: Irgendetwas an Sina passte nicht ins Bild. Was sie da gerade eben mit dem Troll abgezogen hatte, war keine einfache Prügelei zwischen einem Geist und einer Fee gewesen. Sie hatte direkt die Substanz des Trolls angegriffen und das, ohne die Zuhilfenahme irgendwelcher Symbolik oder rituellen Komponenten. So etwas war auch für einen Beschworenen eine beachtliche Fähigkeit, oder aber die Dame hatte etwas ganz anderes getan, als sie mit ihrer Anspielung vorgab. Sie hatte Stil, das hatte sie schon bewiesen - und  welches Wesen mit Stil fraß schon Trolle?

Misstrauisch blickte er über die Schulter zurück und konnte gerade noch beobachten, wie Sina eine auffordernde Bewegung mit den Händen machte, worauf sich die Millionen von Plexiglasscherben auf den Weg zurück nach oben machten und sich wieder zu klaren Deckenplatten zusammensetzten. Von den Rissen im Brückenbeton war schon gar nichts mehr zu sehen. Erneut stiegen grüblerische Gedanken in ihm auf. Offenbar achtete auch Sina auf ihr Paradox, und selbst, wenn sie oft ziemlich impulsiv und unbeherrscht wirkte - neutral betrachtet hatte sie noch nichts Unüberlegtes getan.

Unüberlegt. In diesem Kontext war es auch nicht einfach nur erfreulich, dass sie ihn einfach so mir-nichts-dir-nichts mit einem Beinahewortbruch davonkommen ließ. Er mochte zwar gegen Magie immun sein, die Gesetze der Symbole und gegebenen Worte galten aber auch für ihn - und ein Wesen ihres Kalibers hätte ihm darüber zumindest einen kleinen Denkzettel verpassen müssen ... warum hatte sie nichts dergleichen getan? War das ein Impuls nach dem metaphysischen Zusammenschlagen des Trolls oder doch Kalkül?

Unüberlegt. Das galt auch ein anderem Zusammenhang. Es musste ziemlich schwierig, riskant und aufwändig sein, ein dermaßen mächtiges Wesen zu beherrschen und in seine Dienste zu zwingen - weshalb hatte sich Unbehaun genau für diesen Geist als seine Vertreterin entschieden? War es wichtig, eine Wesenheit zu senden, die sich gegen andere magische Geschöpfe durchsetzen konnte? Wenn ja - warum? Was verschwieg man ihm? Eines wusste er jedenfalls genau: Ebenezer Unbehaun tat nie etwas Unüberlegtes ...

5. Brückenschläge (4)


Sina verdrehte die Augen und ein tonloses "Du kommst mir recht!" zischte über ihre Lippen.

Die Bewegung war zu schnell, als dass ein menschliches Auge ihr hätte folgen können. Ein stinkender Luftschwall fuhr an Finn und Fiedler vorbei und mit einem dumpfem Krachen, schmetterte der massige Troll Gesicht voran auf den harten Stahlbetonboden der Brücke. In seinem Genick hockte die vergleichsweise zerbrechlich wirkende Sina, die Hände in die verfilzte Mähne des unter ihr liegenden Monsters gekrallt, einen Stöckelschuh auf dem Boden und den anderen Absatz voraus im Stiernacken des Trolls.

Ihre Stimme klang gleichzeitig kalt wie Eis, aggressiv wie das Fauchen einer Wildkatze und schneidend wie eine über die Haut gezogene Rasierklinge.

"Hör zu, Fee!" Mit einem seltsamen Rucken und Beben schien der Troll ein Stück zu schrumpfen, als würde eine unsichtbare Kraft, seinen Körper und seine Gliedmaßen zusammenpressen.

"Ich hasse es, gestört zu werden!" Erneut wurde die zuckende Monstergestalt des Trolls ein Stückchen kleiner und rings um ihn breiteten sich Risse auf den Betonplatten aus.

"Vor allem von einer dummen kleinen Fee wie dir!" Sina spie die Worte förmlich aus. Ein weiterer Ruck und der Körper des Trolls wurde zusammengestaucht, bis er kleiner war als Sina selbst. Zwei Panele des Plexiglasdachs der Brücke zerbarsten in einer glitzernden Wolke aus Plastiksplittern, und der Regen prasselte nun ungehindert auf die Szene darunter.

"Ich hätte Lust, dir aufgeblasenem Stück arcadischen Abfalls die ganze heiße Luft abzulassen! Allerdings ist mir das ein bisschen zu viel unnötiger Aufwand - aber nur ein bisschen." Diesmal reduzierte die unsichtbare Gewalt die Gestalt des Trolls auf die Größe eines Kindes. Ein Beben ging durch die Brücke. Finns Griff auf die Statue, an der er sich festgeklammert hatte, wurde etwas fester, und Fiedler, der in Deckung gehechtet und gerade wieder auf die Beine gekommen war, taumelte ein wenig.

"Also raff dein bisschen Verstand zusammen, verkriech dich unter deinen Brückenpfeiler und lass uns ein für alle Mal in Ruhe! Hast du das verstanden?" Bei dem Crescendo am Ende ihrer Worte schien die Luft um Sina vor Hitze zu flirren, und ein Schwarm von Regentropfen ging in kleinen Dampfwolken auf.

Mit einer abfällig wegwerfenden Geste ließ sie ihren Griff auf den nunmehr grotesk winzigen Troll los, stand aus der Hocke auf und ging einen Schritt zurück. Hektisch rappelte sich das kleine Monster auf, blickte sich zornig und unsicher um, wich etwas vor Sina zurück, zog den Kopf ein und rannte in panischer Angst davon in Richtung Stadtufer.

"Feenvolk! Ich hasse diese eingebildeten Blender!" Angewidert schüttelte sich Sina und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den beiden Männern zu. Allerdings wich nach diesem letzten Grollen jedes Anzeichen von Zorn aus ihrem Gesicht und sogar ein zufriedenes Schmunzeln spielte um ihre Mundwinkel.

"Tja, dafür haben Sie Glück, meine Herren - ich habe schon jemand anderen zum Abreagieren gefunden. Nachdem das geklärt ist ... wobei habe ich Sie unterbrochen?"

Fiedler war tatsächlich ein wenig aus dem Konzept gekommen. "Ahm ... ich war gerade dabei ... Herrn Steinmeier ein Geschäft vorzuschlagen und ihn für unsere Sache anzuheuern." Zeit und Gelegenheit, den Köder für Steinmeier auszuwerfen: "Er war damals Zeuge beim Tod von Astrid Kirchner - und könnte uns damit sicher dabei behilflich sein, sie wieder zu den Lebenden zurückzuholen."

5. Brückenschläge (3)


"Tja, einen Versuch war's wert." Man musste Fiedler zugestehen, dass er trotz der etwas ungewöhnlichen Entwicklung der Ereignisse die Fassung behalten hatte. Die wütende aber noch wortlose Sina ignorierend, wandte er sich an Finn: "Herr Steinmeier, dass ist meine Geschäftspartnerin Sina..." Er machte eine vorstellende Geste. "... und Sina, das ist Finn Steinmeier, ein Bekannter von mir, der uns bei der anstehenden Sache sehr nützlich sein könnte - wenn wir ihn zur Mitarbeit überreden können."

"So schnell kommen Sie mir nicht davon, Fiedler!" Sina schäumte vor Wut. "So eine Sache wie mit dem Bücherladen kommt nicht wieder vor, haben Sie das verstanden?" Fiedler schaute ihr gelassen ins Gesicht, was sie offenbar noch weiter in Rage brachte, während Finn sie einfach nur mit offenem Mund anstarrte.

"Was glauben Sie eigentlich, was hier los ist? Sie haben mir ihr Wort gegeben - und es dann bis zur Unkenntlichkeit verbogen und verdreht!" Fiedlers Augenbrauen wölbten sich leicht, während Finns Blick leicht unruhig wurde. Außer ihnen Dreien war kein Mensch mehr auf der Brücke.

"Ist Ihr kleines matschiges Geborenengehirn so weichgeklopft oder -gesoffen, dass Sie sich nicht mehr an einen Vertrag erinnern oder halten können? Behandelt man so seinen Auftraggeber?" Der Gesichtsausdruck von Fiedler war jetzt irgendetwas zwischen Interesse und Skepsis, und er wich ein wenig zurück. Finn setzte dazu an etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus. Irgendwie schienen die beiden Ufer der Elm weiter auseinander gerückt zu sein, das Wasser unter der Brücke wilder und reißender zu werden, und ohne Rücksicht auf die Gesetze von Raum und Zeit zu nehmen, machte das Plexiglasdach mehr und mehr Platz.

"Wenn Sie so eine Nummer noch ein mal abziehen, Fiedler, dann Sorge ich dafür, dass Sie ohne mich keinen Schritt mehr tun können - und zwar mit aller gebotener Gewalt!" Fiedler machte einen weiteren Schritt zurück und blickte irgendwo nach links oben an Sinas Gesicht vorbei. Jetzt konnte auch Finn genug Willenskraft zusammenraffen, um seiner offenkundlichen Panik die Gestalt eines Wortes zu geben:

"Troll!"


Troll. Der Begriff beschrieb das Wesen, das nunmehr bloß einen Schritt hinter Sina stand nur unzureichend. Von seinen riesigen, mit klauenartigen Zehennägeln und zahlreichen Warzen bewehrten Füßen ragte es als etwa dreieinhalb Meter hohes Ungetüm in die Höhe, wobei sein von struppig-räudigem Fell und ölig braun-schwarzer Haut bedeckter ungeschlachter Körper, sowohl an Schultern als auch am feisten Wanst eine Breite von etwa zwei Metern aufwies. Der klobige Kopf über dieser knotigen massigen Gestalt aus Muskeln, Fett und verknöcherten Auswüchsen wies ein zerklüftetes, lederhäutiges Gesicht mit kleinen wässrig schwarzen Augen, einer pustelübersäten Knollennase und einem überproportionierten Mund auf, durch dessen Unterlippe zahlreiche gelbe, schartige Reißzähne aus leicht eiternden, entzündeten Öffnungen stießen.

Für einen kurzen Augenblick herrschte völlige Stille auf der Brückenplattform - sogar Sina hielt inne. Dann öffnete sich das klaffende Maul des Trolls und begleitet von weißlichen Speichelfäden und übelkeitserregendem fauligen Gestank grollte schlecht artikuliert die nach Brutalität, Gier und stumpfem Geist klingende Grabesstimme des Wesens: "Ich fress' mit Haut, Haar und Genuss ..." eine gewaltige Pranke mit dolchartigen Klauen streckte sich nach Sina aus "... wer auf die Brücke setzt den ..."

5. Brückenschläge (2)


Hoch oben über den Dächern Durnburgs zog ein Falke seine Kreise am technicolorgrauen Himmel. Von den herabregnenden Tropfen ungestört und unberührt war alle Konzentration des Wesens auf das Ziel seiner Jagd gerichtet: Alexander Fiedler.

Ein wenig hatte sie ihn unterschätzt (oder vielmehr nicht ihn selbst, sondern diesen Uhlenbrock) doch es wäre doch gelacht, wenn sie seiner nicht bald wieder habhaft werden könnte. Jedenfalls hatte sie so herausgefunden, was von ihm zu halten war. Sicher, sein gegebenes Wort würde er irgendwie retten können und sich geschickt herausreden - den Spielraum hatte sie ihm schließlich gelassen. Aber offenbar waren das Vertrauen und die Sympathie, die Fiedler Unbehaun entgegen brachte, noch eine Spur geringer, als sie es vermutet hatte. Oder aber, er hasste es einfach, bespitzelt zu werden.

Nichts desto trotz war er ihr entwischt und hatte sogar den Trick mit der Mehrfachpräsenz umgangen. Als ihr klar geworden war, dass er sie gelinkt haben musste, hatte sie sofort alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel genutzt, ihn wieder aufzuspüren. Doch wie findet man mit Hilfe von Magie einen Mann, der von Magie nicht betroffen wird? Allerdings wurde man auch als Beschworene nicht so alt wie Sina es war, ohne ein paar Dinge zu lernen...

Irgendwo unter dem grauen Mantel der verregneten Stadt wurde ein Name ausgesprochen: "Alexander Fiedler". Die Worte trieben und taumelten durch die Luft und der Wind wehte ihre Bedeutung vor sich her, hinauf, bis dorthin, wo Sina in Falkengestalt ihre Bahnen zog und mit ihren magischen Sinnen auf eben diese Worte lauerte.

Zwei kräftige Flügelschläge gegen den Sturm, ein Schrei des Triumphs verhallte, dann stieß der Raubvogel vom Himmel, hinab auf einen schmalen glänzenden Streif, der sich über die grüngrauen Fluten der Elm zog - hinab auf sein Ziel.

"Schön, dass Sie sich noch an mich erinnern, Herr Steinmeier!" Fiedler bemühte sich, möglichst freundlich und verbindlich zu klingen.

"Vergessen werde ich Sie wohl kaum, schließlich haben Sie mich ja durch einschneidende Momente meines Lebens begleitet - oder sollte ich sagen: sich maßgeblich daran beteiligt, dass ich auf diesem verdammten Abstellgleis der Realität gelandet bin?" Der Regen rann in dünnen verzweigten Strömen aus Finns völlig durchnässter Haarmähne über sein Gesicht, als er sich trotzig aufrichtete. "Weshalb tauchen Sie hier denn jetzt auf? Wollen Sie noch etwas von mir? Meine Seele? Oder muss ich Sie dadurch enttäuschen, dass ich eigentlich nicht wirklich vorhatte von der Brücke zu springen?"

Im Laufe seines Lebens war Fiedler schon viel zu oft angefeindet worden, um sich von Finns Worten auch nur ansatzweise berühren zu lassen. "Erstens, mein werter Herr Steinmeier, war es Ihre eigene Entscheidung, zur Welt der Grenze überzutreten und nicht in der Normalität zu verbleiben - diese Wahlfreiheit haben nicht viele. Zweitens habe ich Ihnen Verbindungen verschafft, mit deren Hilfe Sie durchaus in der Lage hätten sein müssen, zumindest ein einigermaßen geregeltes Leben als Grenzgänger zu führen, wozu ich mitnichten verpflichtet war und drittens ..." Fiedler legte eine kleine Kunstpause ein "... drittens möchte ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen, bei dem für Sie vielleicht mehr als nur ein materieller Gewinn herausspringt."

"Verbindungen? Meinen Sie etwa diese schäbige Wohnung, in die Sie mich einquartiert haben und wo mich ständig diese Typen mit ihren komischen Fragen heimgesucht haben? Die Typen, die mich gelöchert haben, um herauszufinden, was meine beschissene Gabe ist, damit sie mich für ihre eigenen Zwecke einspannen können? Ich sage Ihnen mal was, Herr Fiedler: Ich bin keine Ressource, die Ihre Freunde für irgendetwas einsetzen können. Ich bin Finn Steinmeier. Ich bin Künstler, ich bin Schauspieler - und bis ich in Ihre komischen Geschäfte verwickelt wurde, war ich ein Star!"

Es war Finn vollkommen egal, wie vernünftig oder fair seine Vorwürfe und Anschuldigungen sein mochten. Er musste einfach irgendjemanden anschreien und für seine Misere verantwortlich machen - und Fiedler war gerade da. Außerdem gab es sicherlich Menschen in der Stadt, die unschuldiger an dem ganzen Dreck waren.

Gerade holte er zu einer weiteren Schimpftirade aus, um einer Antwort von Fiedler zuvor zu kommen, der offenbar ebenfalls etwas sagen wollte, da glitt plötzlich aus dem Dämmergrau des Himmels die schnittig schmale Silhouette eines Raubvogels zwischen zwei Brückenpfeilern hindurch und landete neben Fiedler auf dem glattpolierten Edelstahlgeländer. Beide Männer drehten überrascht und verblüfft ihre Köpfe zu dem nun dort sitzenden schwarzglänzenden Falken, als dessen kleine Gestalt ohne jeglichen Übergang ersetzt wurde durch die einer schlanken dunkelhaarigen Frau mit engen Jeans, Bomberjacke und Blicken, die Fiedler eigentlich dazu veranlasst haben müssten, freiwillig in Staub zu zerfallen.

5. Brückenschläge (1)


Als sich die Türen der U-Bahn hinter ihm geschlossen hatten, fiel ein wenig Anspannung von Fiedler ab. Sina loszuwerden war in etwa so schwierig gewesen wie er erwartet hatte - obwohl er ihren Trick, vor beiden Ausgängen der Buchhandlung zu stehen, als ziemlich stilvoll empfand. Wahrscheinlich eine Illusion in irgendeiner Form - für so mächtig hielt er sie nicht - aber eben stilvoll. Fast schon schade, dass er sie abhängen musste. Routiniert blickte er auf die Streckenanzeige des Wagens. Laupertshafen. Noch zwei Stationen.

Die Informationen, die er von Uhlenbrock erhalten hatte, legten für ihn seine nächsten Schritte fest. Von den vier Männern, die bei Astrid Kirchners Tod dabei gewesen waren - also Haubold, Fechtner, Leymann und Steinmeier - war die Auswahl an potentiellen Mitstreitern nicht besonders groß. Gut, Haubold wäre nicht nur eine Person mit "Verbindung" zu Kirchners Tod gewesen, sondern auch noch ein alter Kampfgefährte, dessen Hilfe sicherlich gelegen gekommen wäre - aber er war nun mal nicht schnell auffindbar, und zudem musste er auch nicht zu viel über Fiedlers Verpflichtungen erfahren. Was Fechtner anging - nun ja, sein Vertrag mit der von Radewitz war offenbar eindeutig, was Verknüpfungen und rituelle Verbindungen anging. Natürlich könnte er Leymann aus dem Knast holen, aber das wäre einerseits aufwändig und andererseits ein Verstoß gegen die Regeln der Normalität gewesen: An einem Ort wie einem Gefängnis fiel die Abwesenheit eines Gefangenen in der Regel recht schnell auf. Also musste der Gute wohl dort bleiben. Damit blieb noch Steinmeier. Im Grunde genommen war er sowieso die beste Wahl: Noch relativ neu an der Grenze, ohne besondere Verbindungen oder Verpflichtungen, offenbar nicht besonders beschäftigt und (wenn Fiedler seiner Erinnerung und Menschenkenntnis trauen durfte) damals leicht in die Kirchner verknallt. Der ideale Kandidat für die Rolle als Helfer, Scherge und Bauernopfer. Hey, wenn er das überlebte, könnte es ihm sogar etwas bringen!

"Schlosserbrücken, Einkaufsgebiet Westufer" Der säuselnde Klang der synthetischen Frauenstimme aus dem U-Bahnlautsprecher riss Fiedler aus seinen Überlegungen und er machte sich hastig daran, zur Türe zu kommen, um aussteigen zu können.

Draußen auf dem Bahnsteig umfing ihn kühle Luft mit einer Mischung aus Nicht-Stickigkeit und Gestank von Hydraulikflüssigkeit, Ozon und Menschen, wie man sie nur in U-Bahnhöfen findet. Zielstrebig steuerte Fiedler die Reihe von Snack- und Getränkeautomaten in der Mitte der Station an, kramte eine fünfzig Cent Münze aus seiner Jackentasche und versenkte sie im verkratzten Münzschlitz eines kampferprobt wirkenden Automaten. Mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck studierte er dann das Angebot, betätigte eine Auswahltaste und entnahm den von der Maschine pflichtgemäß wenn auch zögerlich ausgeworfenen Schokoriegel. Nach einem sichernden Blick über die Schulter riss er die dünne Plastikfolie der Verpackung auf, inspizierte den Inhalt gründlich, bevor er schließlich mit leisem, ungeduldigen Fluchen Riegel und Verpackung in den Hut eines neben den Automaten schlafenden Penners beförderte. Nie ging es schnell, wenn es mal schnell gehen musste.

Immer noch leicht gereizt bahnte sich Fiedler seinen Weg zu den Rolltreppen, ignorierte das dort angebrachte "außer Betrieb"-Schild und eilte die stillgelegten Metallstufen hinauf zum trüben Licht der Oberwelt. Unbehindert von den Menschenmengen, die sich die Treppe hinauf- und hinunterdrängten, war der obere Treppenabsatz schnell erreicht und nach einem weiteren schnellen Schulterblick nach eventuellen Verfolgern folgte Fiedler dem von hier aus bis zur Neuen Schlosserbrücke führenden Fußweg mit dem relative Trockenheit versprechenden Plexiglasdach.

Für einen Grenzgänger war das Leben in Durnburg recht entspannt - jedenfalls verglichen mit dem in anderen Städten. Ein Vertrag (der "Durnburger Kontrakt") hielt die größeren Gruppierungen und Organisationen der Grenze davon ab, sich unmittelbar gegenseitig zu zerfleischen, und wenn man außerhalb ein paar gefährlicher Gebiete blieb, war auch die lokale Monstrositätenfauna einigermaßen harmlos. (Einmal abgesehen von den gelegentlich zuwandernden Freaks wie Werwesen oder Schattenfressern, die aber meist recht flott von der wohlorganisierten lokalen Bevölkerung unschädlich und/oder nützlich gemacht wurden.)

Zu den Orten, die man als Bewohner der Durnburger Grenze vorzugsweise mied, gehörte die Neue Schlosserbrücke. Bereits während ihres Baus hatte sich dort ein besonders hartnäckiger und gleichermaßen mächtiger wie sturer (und damit magieresistenter) Troll eingenistet, der sich bislang allen Neutralisierungsversuchen widersetzen konnte. Das Problem dabei einen Brückentroll loszuwerden war, dass sich diese grobschlächtigen Repräsentanten des Feenvolks die Brücke zu ihrer Domäne machten und dort damit nahezu uneingeschränkte Einflussmöglichkeiten hatten, die eigentlich nur durch die (glücklicherweise eng begrenzte) Fantasie des Trolls limitiert waren.

Fazit: Um einen Brückentroll endgültig loszuwerden, musste typischerweise die komplette Brücke abgerissen werden.


Fiedler stand nun also am Fuß einer solchen trollverseuchten Brücke, zögerte kurz, machte dann aber einen entschlossenen Schritt hinüber auf den Beton des Brückenkörpers. Wie erwartet spürte er für einen Moment die vage Präsenz von etwas Großem, Schnüffelnden, Übelriechenden - dann war das Gefühl vorbei, ohne dass sich ein Troll irgendwo gezeigt hätte. Er feixte. Tja, Trolle verwendeten eben auch nur Magie - und die konnte ihn nun mal nicht finden. Vergnügt machte er sich auf den Weg zum Höhepunkt des schmalen Brückenbogens über die Elm. Dort ragte vorne auf einer Aussichtsplattform der schwarze Eisenleib der Statue aus der Betonkonstruktion hinaus auf deren Schoß wiederum als kleiner heller Fleck Finn Steinmeier saß, in irgendwelchen Regentagträumen versunken.

Wie tief diese Versenkung tatsächlich war, stellte Fiedler fest, als er schließlich den Scheitelpunkt der Brücke erreicht hatte: Mit leerem mürrischem Blick starrte Steinmeier ihm entgegen und durch ihn hindurch. Na ja, so viel Zeit würde sein müssen. Sarkastisch grinsend, aber mit gelegentlichen Blicken nach links und rechts nach eventuellen Verfolgern (oder Trollen), lehnte er sich vor Finn an die Brüstung der Brücke.

Nach geschlagenen zwei Minuten war es dann so weit: Mit einer Mischung aus Erkennen, Erstaunen und bösen Vorahnungen weiteten sich Steinmeiers Augen und man konnte sehen, wie sein Gehirn im Trüben der Erinnerung nach einem Namen fischte, denn seine Lippen schließlich aussprachen: "Alexander Fiedler."

4. Verschlungene Wege (7)


"Das ist Ihre Begleiterin?" Uhlenbrocks Tonfall zeugte von Überraschung. "Na dass diese Dame an zwei Orten gleichzeitig sein kann, das verwundert mich nur wenig! Wissen Sie, was Sie sich da eingehandelt haben, Alexander?"
Offenbar konnte sich auch der alte Uhlenbrock an Fiedlers nicht-ganz-menschliche Eskorte erinnern. „Hmmm. Die Dame erwähnte bereits, dass Sie sich kennen. Irgendwie erklärt das einiges. Wären Sie so freundlich, mir ein paar Einsichten zu vermitteln, Balthasar? So ganz unverbindlich versteht sich..."

"Wir hatten geschäftlich miteinander zu tun. Lief alles klaglos und ohne Probleme. Natürlich konnte ich nicht umhin, die spezielle Natur der Dame zu bemerken. Wenn ich meinen Augen und meinem Spiegel trauen darf, handelt es sich bei ihr um einen Geist aus der Domäne des Menschen. Mittleres Kaliber für eine Beschworene, wenn man so etwas überhaupt richtig einschätzen kann, mit einer Aura, die nach einer ziemlich seltenen oder alten Form von kollektiver Magie aussieht. Irgendetwas Schamanistisches oder Animistisches, so genau kann ich das nicht sagen. Der Grund dafür, dass ich mich noch so deutlich an sie erinnere, ist aber die faszinierende Form von konsentueller Blutmagie, aus der ihre Grundessenz besteht. Die Dame ist magisch gesehen aus ganz schön hartem Holz und wahrscheinlich wesentlich älter, als sie aussieht - ich würde auf vierstellig tippen." Uhlenbrock grinste verschmitzt. "Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon, Alexander. Ich zweifle jedoch daran, ob ihr", er deutete auf Sina, "klar ist, dass ich sie kein zweites Mal vor meinem Spiegel brauche, um so viel über sie herauszufinden."

"Tja, ich hatte schon vermutet, dass sie nicht auf den Anblick ihres Spiegelbildes erpicht wäre, aber in diesem Fall..." Fiedlers anfängliches Erstaunen war einem professionell amüsierten Ton gewichen. "Sie hat nämlich ernste Vorbehalte dagegen, Ihre Räumlichkeiten zu betreten."

"Das finde ich ja fast schon betrüblich. Mir war nicht klar, dass ich eine solche Wirkung auf meine Geschäftspartner habe!" Über das zerfurchte Gesicht des alten Mannes zog sich gespieltes Bedauern gemischt mit schelmischem Grinsen. "Ich nehme an, Sie würden das Gebäude gerne verlassen, ohne Ihre liebreizende Begleiterin darüber in Kenntnis zu setzen?“

"Da liegen Sie einmal mehr vollkommen richtig."

"Dann lassen Sie uns doch einmal sicherheitshalber einen Blick in die U-Bahn Station werfen..." Erneut schloss Uhlenbrock die Augen und das Spiegelbild wallte kurz auf. Diesmal verfestigte es sich als eine leuchtstoffröhrenfahle Ansicht der Haltestelle 'Brechtstraße' der Durnburger U-Bahn. Einige Pendler standen auf dem Beton des Bahnsteigs, ein Mädchen kämpfte mit dem altersschwachen Getränkeautomaten und auf einer der vier Bänke schlief ein verwahrlost wirkender Mann. Kein Zeichen für Sinas Anwesenheit.

"Die Luft wirkt rein." konstatierte Fiedler leicht angespannt.

"Dann will ich Ihnen mal die Türe zu meinem – wie sagten Sie – Schleichweg öffnen. Zu schade, dass ich Sie mit Ihrer Magieimmunität nicht gleich an Ihrem Ziel absetzen kann."

"Ich sehe das positiv. Alles hat auch seine guten Seiten und so halte ich mich wenigstens an die Paradigmen der Normalität. Ihnen scheint Ihr Paradox ja offensichtlich nicht so wichtig zu sein, Balthasar."

Uhlenbrock blickte Fiedler ernst und irgendwie triumphierend an. "Für Sie mag es ja sein, dass die Normalität mit ihren Verträgen, Gesetzen und ihrer Verwaltung eine notwendige Unannehmlichkeit darstellt, aber ich habe mich lange genug mit Steuern und Lizenzen herumgeschlagen. Wissen Sie, Alexander, seit mein Sohn den Laden übernommen hat, gebe ich zwar Acht, dass ich Teil seines Lebens - und damit in der Normalität verankert - bleibe, ansonsten kann mich die Normale Welt am", er stockte, "... ersparen Sie mir das Goethe Zitat, ja?" Der alte Spiegelmagier hatte sich ein bisschen in Rage geredet und fing sich wieder, während Fiedler gleichzeitig etwas perplex und belustigt wirkte. "Also was ist nun? Wollen wir?"

"Sehr gerne!" Fiedler stand auf. "Es war mir ein Vergnügen, Herr Uhlenbrock - und besten Dank!"

Ein mahlendes und knirschendes Geräusch drang gedämpft von irgendwo hinter dem massiven Spiegel, dann löste sich dieser von einem Moment auf den anderen von der Wand und schwebte gewichtslos und wie an einer unsichtbaren Schnur geführt in Stück in den Raum und zur Seite. Hinter ihm offenbarte sich eine Öffnung in der gut einen Meter dicken Mauer, an deren schlecht erleuchtetem Ende eine graue, nicht mehr ganz modern wirkende Feuerschutztür zu sehen war, über der in verwaschenem Grün ein Notausgangssymbol glomm.

Eine knappe aber ehrliche Verbeugung in Uhlenbrocks Richtung und Fiedler verließ das Studierzimmer und die Buchhandlung durch den nun offenen und sorgsam vor Wahrnehmungsmagie abgeschirmten Ausgang. Einige Augenblicke sah Uhlenbrock im Spiegel zu, wie der Detektiv ein fahlgelb erleuchtetes Betontreppenhaus hinuntereilte, um dann aus einer nichtssagenden Seitentüre auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station zu treten. Schließlich schnalzte der alte Mann kurz mit der Zunge schüttelte leicht den Kopf und wandte sich erneut dem metallenen Baum mit den daran baumelnden Glasplättchen zu. "Reisende soll man nicht aufhalten ... lassen."

4. Verschlungene Wege (6)


Für einen kurzen Moment starrte der Detektiv seinem eigenen Spiegelbild entgegen und nahm am Rande wahr, dass sein Aussehen nach diesem Regentag eher dem eines begossenen Terriers ähnelte als dem scharfsinnigen Privatschnüffler, als den er sich begriff. Bevor er sich jedoch an dieser Tatsache stören, geschweige denn etwas an ihr ändern konnte, wurde das zuvor klare Glas des Spiegels milchig trüb, als hätte ein unsichtbarer Riese dagegen gehaucht. Jedoch währte auch dieser Zustand nicht lange und in Wellenringen von innen nach außen, wie ein Tropfen, der in einen stillen Bergsee fällt, breitete sich glänzende Schwärze über die Fläche aus.

Als der gesamte Spiegel von schimmerndem Schwarz ausgefüllt war, erklang Uhlenbrocks Stimme ruhig und sachlich von hinter dem Schreibtisch: "Ihre erste Frage muss ich mit einem uneindeutigen Nein beantworten: Till Haubold hält sich entweder nicht in der Stadt auf oder er hat Vorkehrungen getroffen, um nicht über magische Mittel aufspürbar zu sein."

Fiedler brummte eine unwillige Bestätigung. Ein alter Hase unter den Grenzgängern, wie Haubold einer war, hatte sowohl Gründe als auch Möglichkeiten, sich vor einfacher Wahrnehmungsmagie, wie sie Uhlenbrock gerade einsetzte zu verstecken. Für seine Belange war es aber gleichgültig, ob Haubold abwesend oder beschäftigt war - in beiden Fällen konnte er nicht auf ihn zurückgreifen. Andererseits wäre Haubold wahrscheinlich auch zu vorsichtig gewesen, um bei der Sache mitzumachen...

Mittlerweile hatte eine erneute Wellenfront ihre Kreise über den Spiegel gezogen und das Bild zeigte nun das Bild eines gepflegt wirkenden Mannes Anfang 30, der auf einem einfachen Bett in einen recht kahlen Raum lag und in einem Buch las. Fiedler verdrehte die Augen. "Vergessen Sie es, Balthasar, natürlich sitzt Leymann noch seine Haftstrafe ab. ich habe verdrängt, dass er eingebuchtet wurde - und im Gefängnis ist er mir sowas von unnütz."

"Gut, dann wechsle ich zu Steinmeier. Wie war gleich der Vorname?"

"Finn."

"Ah ja. Gut. Das ist eindeutig in dieser Stadt."

Ein weiterer Wellenschlag, ein weiterer Bildwechsel und im Spiegel zeigte sich das Abbild eines hageren Mannes Mitte zwanzig mit unbändigen langen krausen Haaren, der in einer zerschlissenen und völlig durchnässten Jeansjacke auf dem Schoß einer gußeisernen Frauenstatue saß und mit Steinen nach ein paar Vögeln warf. Unter ihm zogen die grün-grauen Fluten der Elm ihren Weg in Richtung Meer und vor ihm spannte sich in schmalem eleganten Bogen die moderne überdachte Plastik-, Glas- und Betonkonstruktion der Neuen Schlosserbrücke durch das Bild.

"Na bitte. Wenigstens einer, der wirkt, als hätte er nichts besseres zu tun!" Fiedlers Stimme schwankte zwischen Sarkasmus und Zufriedenheit. Dann runzelte er die Stirn. "Ahm ... Sie sind doch immer bestens informiert, Balthasar. Hat die Neue Schlosserbrücke denn noch den Troll?"

"Ja, soweit ich unterrichtet bin schon. Soll ich ihn ins Bild holen?"

"Nein, nicht nötig. Mit dem kriege ich keine Probleme." ...und Finn offenbar auch nicht, fügte er unausgesprochen hinzu.

"Eine Kleinigkeit vielleicht noch: Könnten Sie mir einen kurzen Ausblick von den Ausgängen der Buchhandlung geben? Ich möchte wissen, wo sich meine Begleiterin und Aufpasserin gerade aufhält."

Uhlenbrock lachte trocken. "Ich würde Sie auch gleich auf die Brücke bringen, wenn das bei Ihnen möglich wäre. Damit wären Sie eine Verfolgerin sicherlich los."

"Danke, aber da bin ich eben schwierig.“ Fiedler feixte routiniert „Vielleicht komme ich aber auf ihr Angebot zurück, Balthasar, und bitte Sie darum, mir einen Ihrer legendären Schleichwege hier heraus zu öffnen."

Der Spiegel trübte sich erneut und zeigte nun zwei Bilder nebeneinander, deren Grenze in einem unscharfen Streifen verlief. Auf beiden Hälften sah man ein unterschiedliches Stück Straße - jeweils vor und hinter dem Buchgeschäft. Bei genauerer Betrachtung wäre einem Normalmenschen allerdings der Umstand merkwürdig vorgekommen, dass auf beiden Bildern die selbe schwarzhaarige orientalisch anmutende Frau mit schwarzer Bomberjacke, Kopfhörern und gelangweilter Körpersprache zu sehen war, die einmal an einem Laternenpfahl und einmal an einer Hauswand lehnte. Sina.

4. Verschlungene Wege (5)


Uhlenbrock erhob sich höflich von seinem Stuhl, winkte Fiedler heran und wies auf einen üppig gepolsterten Stuhl vor den Schreibtisch "Das wird auch noch ein paar Tage so weitergehen, wenn ich meinen Augen trauen darf - aber Sie sind sicher nicht wegen des Wetterberichtes gekommen."

"Nein Balthasar, mit Sicherheit nicht." Nach einem kurzen aber herzlichen Händeschütteln ließ sich Fiedler mäßig elegant in den angebotenen Gästestuhl plumpsen. "Ich habe mal wieder einen Auftrag für eine Suche, bei der Sie mir mal wieder unschätzbar hilfreich sein könnten."

"Worum geht's?" Balthasar Uhlenbrocks Antwort klang offen, freundlich und hilfsbereit, doch Fiedlers Aufmerksamkeit wurde ein wenig abgelenkt von einer Konstruktion aus Schmiedeeisen auf Uhlenbrocks Schreibtisch. Sie stellte offensichtlich einen stilisierten Baum dar, an dessen Ästen elf kleine in Metall gefasste Spiegel hingen. In einigen der silbrigen Oberflächen bewegten sich schemenhaft die Umrisse von Gesichtern, während andere davon einfach nur spiegelten.

Über Uhlenbrocks verwitterte Miene huschte ein kurzes Aufleuchten, als er Fiedlers Blick bemerkte. "Es ist noch nicht ganz fertig. Sie erinnern sich an die paar Kleinigkeiten, die Sie mir neulich organisieren sollten? Die sind da mit drin."

"Die Kundin, deren Enkel Normalos sind und die Andenken von ihnen haben wollte?" Fiedler lachte leise. "Wenn sie sie auf diese Art und Weise im Auge behalten will, dürfte sie einige der Spiegel wahrscheinlich in einem oder zwei Jahren abhängen wollen - ein paar der Bälger halten deutlich auf die Pubertät zu. Da tun die erfahrungsgemäß Dinge, bei denen Oma nicht zuschauen sollte oder möchte. Aber Respekt - die Arbeit ist brilliant!"

Auch Uhlenbrock grinste verschmitzt. "Tja, das kostet auch ein kleines Vermögen. Sie haben jedoch Recht - ich will sicherlich nicht so genau wissen, was meine Enkel die ganze Zeit tun, selbst wenn ich die Mittel habe, das zu überprüfen. Aber wenn sich die gute Frau am Verhalten ihrer Enkel stören sollte, ist, kann ich ihr ja als Zusatzausstattung noch einen kleinen Schutzgeist einbinden, der das Bild bei Bedarf ausblendet. Jetzt aber wirklich, Alexander, was kann ich für Sie tun?"

"Nun, nichts Großes - ein paar Einblicke innerhalb Durnburgs. Keine Indiskretionen. Ach ja - vielleicht noch eine Kleinigkeit dazu, aber das hängt von dem ab, was wir sehen."

"Darf ich das mit den Enkel-Andenken verrechnen?"

"Dürfen Sie gerne." Fiedler und Uhlenbrock verband eine ausgeprochen lange Liste von gegenseitig erwiesenen und geschuldeten Diensten - zu Fiedlers Glück, denn Uhlenbrock wusste nur zu gut, was seine Fähigkeiten wert waren und gegen manche seiner Preise waren die Dienstleistungen von Griselda von Radewitz geradezu Schnäppchen.

Zufrieden und interessiert lehnte sich Uhlenbrock mit den Ellenbogen auf seinen Schreibtisch. "Dann legen Sie los, alter Freund, was wollen Sie sehen?"

"Ich hätte gerne die Information, ob sich Till Haubold derzeit in Durnburg befindet. Dabei will ich nicht wissen wo, nur ob – keine Indiskretion, wie gesagt. Außerdem wüsste ich gerne die aktuellen Aufenthaltsorte zweier namentlich bekannter Personen: Björn Leymann und Finn Steinmeier."

"Dann wollen wir mal sehen." Uhlenbrock lehnte sich zurück und schloss die Augen, während sich Fiedler zu dem großen Spiegel umwandte.

4. Verschlungene Wege (4)


Jetzt war es an Fiedler, verblüfft zu sein. "Sie kennen Uhlenbrock?"

"Flüchtig. Ich hatte schon einmal das Vergnügen und bin damals glücklicherweise nicht in seinem Spiegel geendet. Allerdings verzichte ich gerne auf das Erlebnis. Sie haben Ihr Wort gegeben, überflüssiges Misstrauen ist meiner Ansicht nach nicht angebracht. Ich warte hier draußen."

Das war ja einfach. Mehr war nicht nötig, um seine Verfolgerin loszuwerden? "Na dann hole ich Sie nachher hier wieder ab - die Straße rauf ist 'n Mac und gegenüber noch ein Café. Wenn Sie hier nicht sind, suche ich Sie da und wenn Sie da nicht sind, mache ich alleine am Auftrag weiter."

Sina nickte mürrisch, lehnte sich an eine der auf alt gemachten Straßenlaternen im Schmiedeeisen-Look, verschränkte die Arme und materialisierte einen Kopfhörer auf ihren Ohren. Kopfschüttelnd und beschwingten Schrittes ließ Fiedler sie zurück.

Das Innere der Buchhandlung Uhlenspiegel war alles andere als übersichtlich. Hier gab es keine Tische mit ausgelegten Bestsellern und daran angelehnten aber weniger erfolgreichen Trittbrettfahrern, statt dessen stand alles voll mit hohen Regalen, vom Boden bis zur Decke gefüllt mit Büchern gebunden in Karton, Papier, Tuch oder Leder. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt war ein kleiner Kassentisch, hinter dem eine junge Frau mit kurzen aschblonden Haaren und mäßig geschmackvoller Kleidung Fiedler freundlich zunickte, bevor sie sich wieder einem Bücherstapel zuwandte und Preisschilder aufklebte.

Zielstrebig suchte Fiedler seinen Weg durch das Labyrinth der verschiedenen mit Literatur unterschiedlicher Art und Thematik vollgestopften Räume. Er stapfte die schmalen ausgetretenen Stufen eine alten gewendelten Holztreppe hinauf in den ersten Stock und hielt dann inne um sich umzusehen. Während im Erdgeschoß doch einige Kunden (vornehmlich Studenten und andere nach Fachliteratur Suchende) in den engen Regalschluchten gestanden hatten, war der erste Stock für gewöhnlich fast menschenleer. Eigentlich entsprach das Konzept der Buchhandlung Uhlenspiegel voll und ganz Fiedlers Geschmack: Seit die beiden "jungen" Uhlenbrocks das Geschäft übernommen hatten, richtete sich ein guter Teil des Buchangebotes in Form von Fachliteratur verschiedenster Gebiete vornehmlich an Normalos und gewährleistete damit sowohl ein gewisses normalweltliches Einkommen als auch die Präsenz des Hauses in der normalen Welt. Im ersten Stock standen dagegen eher antiquarische Bücher standen, für die sich nur wenige Normalbürger interessierten. Hinter diesen verborgen waren zwei Dinge: mehrere Räume mit Grenzgängerliteratur (Encyclopädien, Magiebücher, Chroniken, ...) und Fiedlers eigentliches Ziel, das Studierzimmer von Balthasar Uhlenbrock.

Nach kurzem Umsehen und Orientieren setzte sich Fiedler wieder in Bewegung und ging zwischen den Regalen entlang, einem unsichtbaren Pfad folgend mal links abbiegend, mal ein Regal umrundend und dann wieder innehaltend, um ein Buch in die Hand zu nehmen und wieder zurückzustellen. Schließlich endeten seine Schritte vor schweren dunkelbraunen Holztüre, eingerahmt von Regalen mit dicken, ledergebundenen und gleichzeitig abgewetzt und würdevoll anmutenden Wälzern. Er schüttelte kurz den Kopf: in den letzten Jahren war es deutlich komplizierter geworden, die Türe des alten Uhlenbrock zu erreichen - offenbar setzte sich dieser immer weiter von der Normalität ab. Wenn Balthasar nicht etwas Vorsicht walten ließ, dann lief er Gefahr, zusammen mit seinem Büro irgendwann "aus der Welt" zu fallen und überhaupt nicht mehr Teil davon zu sein. Andererseits wusste Uhlenbrock immer selbst am besten, was er tat ...

Achselzuckend wischte Fiedler alle Bedenken hinweg und klopfte an. Ein paar Atemzüge vergingen, dann drang durch das dämpfende Holz der Türe die tiefe rauhe Stimme eines alten Mannes. "Kommen Sie rein, Herr Fiedler!"

Die Atmosphäre in Uhlenbrocks Büro war geprägt von dicken Teppichen, vollgestopften Regalen vor denen sich weitere Bücher stapelten und dem leichten aber allgegenwärtigen Aroma von Pfeifenrauch. Durch das einzelne kleine Fenster drang ein trüber Strahl Abendlicht, in dessen Licht der gesamte Raum irgendwie trist wirkte. Balthasar Uhlenbrock, ein mittelgroßer mittelschlanker Mann mit grauem Haarkranz, ordentlich gestutztem Bart, dicken Brillengläsern und tief von Sorgen, Leben und Lachen zerfurchtem Gesicht saß hinter einem riesigen, alten, schwarzen Schreibtisch, dessen mächtig aufragende Front wie eine Festungsmauer mitten im Raum stand. Ihm gegenüber dominierte ein übermenschengroßer (bestimmt anderthalb auf zwei Meter messender) Spiegel in einem silbernen mit Zeichen übersähten Rahmen einen nennenswerten Teil der Wand und hatte dort die sonst allgegenwärtigen Bücherregale verdrängt.

"Guten Abend Herr Uhlenbrock. Grässliches Wetter, was?" Fiedler schloss die Türe hinter sich.

4. Verschlungene Wege (3)


Es gab Tage, da war sich Fiedler sicher, jeden Pflasterstein in der Altstadt mit Vornamen zu kennen. Derzeit musste er sich aber mürrisch eingestehen, dass er etwas suchte und irgendwie nicht fand - dieser verdammte Regen spülte ihm offenbar den Verstand aus dem Kopf. Es kostete ihn glatte zehn Minuten Fußmarsch durch die regennassen Gassen bis es endlich fand, was er gesucht hatte. Das Ziel endlich vor Augen, hielt er schnurstracks auf den Zigarettenautomaten unter dem leckenden Vordach der verlassenen Bushaltestelle zu.

Unter Sinas leicht erstaunten und mehr als nur leicht skeptischen Blicken zog er den papierumwickelten Hosenknopf aus der Jackentasche, überprüfte noch einmal, dass die beschriftete Serviettenbanderole richtig saß und beförderte dann den Knopf in den Einwurf des Automaten. Aus dem Gerät drang leises mechanisches Klackern, dann rollte der Knopf samt Banderole wieder heraus. Ohne eine Miene zu verziehen nahm ihn Fiedler wieder auf und warf ihn noch einmal ein. Beim dritten Versuch schließlich verblieb der Knopf in den Eingeweiden der Maschine und Fiedler wandte sich zufrieden zu seiner ein wenig zweifelnd dreinblickenden Begleiterin um.

"So. Auf zu Uhlenbrock! Die haben nur bis 18:00 geöffnet - und ich will den guten Balthasar nicht aus seinem wohlverdienten Feierabend klingeln."

"Was auch immer Sie sagen - und Glückwunsch zu Ihrer Entscheidung lieber nicht rauchen zu wollen, das ist viel gesünder. Dabei hätte ich gedacht, dass der Trick mit dem Knopf schon seit fünfzig Jahren nicht mehr funktioniert..." Sina klang gespielt gelangweilt und fast schon maulig.

"Wissen Sie, anders als Sie bin ich sowohl in dieser Stadt als auch in diesem Jahrhundert zuhause. Vertrauen Sie mir - ich weiß schon, was ich tue. Kümmern Sie sich lieber weiter darum, ihre mühsam manifestierte Haut nicht nass werden zu lassen!"

Wortlos und zügig gingen die beiden Grenzbewohner durch die frühabendliche Durnburger Altstadt bis Sina schließlich das Schweigen brach. "Wer ist dieser früh zu Bett gehende Uhlenbrock?"

Fiedler grinste in sich hinein. Sieben Minuten und zwölf Sekunden war seine Begleiterin beleidigt gewesen bis die Neugier gesiegt hatte. Bei aller Stichelei - ihre Menschlichkeit und ihre Reaktionen machten es ihm leicht, sich mit dem Gedanken ihrer Anwesenheit anzufreunden. Im Laufe seiner Karriere als Detektiv und noch viel mehr in seinem Leben zuvor als Söldner hatte schon viele weitaus schlimmere Beschworene erlebt - und die meisten davon hatten einen auf "guter Geist" gemacht. Dieses Exemplar hier war offenbar einfach so, wie sie war - unverhohlen Beschworene und unverhohlen Mensch. Natürlich spielte sie nicht mit offenen Karten (wer tat das schon?), aber wenigstens machte sie keinen Hehl draus. Trotzdem musste er sie für einige Zeit loswerden um alleine mit Uhlenbrock zu sprechen und wenn es ging auch um Giorgios Nachrichtensystem nicht gänzlich preiszugeben.

"Uhlenbrock? Ach ein alter Bücherfritze. Ihm gehört die Buchhandlung da drüben!" Mit der linken Hand gestikulierte er in Richtung eines ehrwürdig wirkenden Altstadthauses, das sich zwischen zwei pastellfarben renovierten Häusern mit dem mangelndem Charme der 60er Jahre einzwängte. In den relativ kleinen und altmodisch wirkenden Schaufenstern zur Straße hin lagen Reihen um Reihen von Büchern und über dem Eingang des Gebäudes prangte eine metallene Eule, die in ihren Klauen einen Handspiegel hielt. Darüber prangte von Wetter und Zeit mattierte Schriftzug "Uhlenspiegel - Buchhandlung und Antiquariat" in grausilbernen Lettern.

Als der erwartete spitzfindige Kommentar zu lange ausgeblieben war, drehte sich Fiedler zu Sina um und war überrascht festzustellen, dass sie das Gebäude mit großen Augen ansah.

"Balthasar Uhlenbrock - der Spiegelmagier im Hinterzimmer, nicht wahr? Danke, Herr Fiedler, zu dem Herren gehen Sie alleine."

4. Verschlungene Wege (2)


Scheinbar in Gedanken versunken riss er einen schmalen Streifen Papier von einer der dünnen mit blassen Werbeaufdrucken versehenen Servietten ab und strich ihn auf dem dunkelbraun lackierten Holz des Cafétischs glatt. Dann griff er mit blinder Sicherheit in die rechte Innentasche seiner Lederjacke und zückte seinen weißen abgegriffenen Kugelschreiber, mit dem er seinen Namen und das Wort "Heute" auf den dünnen Papierstreifen. Ein aufmerksamer Beobachter hätte dabei feststellen können, dass Fiedlers Hand dabei um ein mattschwarzes Objekt herumgreifen musste, das eine Pistole hätte sein können.

Nichts trübte die naive Unschuld in Sinas Gesicht, doch in ihrer Stimme perlte Ironie. "Führen Sie Tagebuch?" Mit einer Mischung aus Coolness und Neugier neigte sich Sina etwas näher zum Tisch und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit nicht mehr nur auf die Tasse in ihrer Hand.

"Ja, ich notiere mir, wie ich heute heiße. Wenn Sie sich vielleicht bei der Gelegenheit auch ein wenig nützlich machen wollen, dann könnten Sie beispielsweise einen Knopf auftreiben."

"Einen Knopf?"

"Einen Knopf. Wie in 'Hosenknopf'. Nicht zu groß - etwa so wie die Dinger an Ihrem Oberteil. Ob Plastik, Metall, Holz oder Horn ist mir egal ... ich hoffe, Sie haben die Erfindung des Plastiks nicht verpasst – oder gar die des Knopfes."

Mit unverhohlenem Amüsement lehnte sich Sina wieder in ihren Stuhl zurück. "Einen Knopf. Wenn das alles ist, was Sie brauchen, um glücklich zu sein. Ich hoffe, Sie leben daran jetzt keine seltsamen oder gar langweiligen Fantasien aus ..." Lässig und beiläufig beugte sie sich seitlich nach links zum Boden hinunter.

Just in diesem Moment erlagen ein paar Polyesterfasern an der Hose des Kellners der mit jedem Waschgang stärker an ihnen zehrenden Materialermüdung. Der Faden, den sie ausmachten riss und gab den von ihm gehaltenen schwarzen schlichten Knopf den Kräften der Spannung und der Gravitation zum Spiel frei. Lautlos rutschte der Knopf das von Nadelstreifen gezierte Hosenbein hinunter, glitt über den Umschlag, prallte mit leisem Klicken auf den Boden, sprang einmal, zweimal, dreimal auf und rollte und kullerte dann zwischen und unter den Tischen des Cafés hindurch über eine Strecke von etwa zwei Metern und dreiunddreißig Zentimetern.

In einer fließenden Bewegung fasste Sina den einher kullernden Knopf, hob ihn auf und hielt ihn Fiedler hin. "Da. Sonst noch etwas?"

"Danke. Nein." Fiedler nahm den Knopf entgegen, wog ihn in der Hand und schätzte ihn mit prüfendem Blick. Dann befand er ihn für tauglich und umwickelte ihn erstaunlich flink mit dem Serviettenstreifen. Mit den Worten "Das sollte gehen – und wir auch." stand er auf, sah noch einmal kurz auf seine Armbanduhr und legte einen Geldschein auf den Tisch.

Sina, die sich ebenfalls erhoben hatte, stutzte. "Sie zahlen wirklich in einem Normalo-Café?" Dann, nach einem kurzen Moment schien in ihrem Gesicht zum ersten Mal seit Fiedler sie gesehen hatte so etwas wie ein Funke von Sympathie. "Respekt."

"Selbstverständlich prelle ich meine Zeche nicht!" In Fiedlers Stimme lag beinahe Entrüstung. "Und natürlich ist es hart, das Paradox unten zu halten - aber hey," er kniff ein Auge halb zu und grinste schief "Professionalität verlangt eben Opfer."

Mit diesen Worten drehte er Sina den Rücken zu (worauf die ihm eine genervte Grimasse schnitt) und machte sich auf den Weg zur Tür nach draußen, wo langsam der Regen abflaute. In ihrer fließenden Art ging ihm Sina hinterher, nickte höflich, als er ihr die Türe aufhielt und wartete scheinbar gelangweilt ins große Panoramafenster des Cafés starrend, während Fiedler wieder einmal den Kragen seiner Lederjacke hochkrempelte. Drinnen hatte der junge Kellner offenbar die Abrechnung an seiner Stehkasse erledigt und bemerkte wohl gerade, dass die Gäste am Ecktisch gegangen waren, ohne dass er kassiert hätte. Gerade als er eilig in die Richtung los laufen wollte, verloren seine Beinkleider mangels Knopf den Halt und rutschten ein Stück nach unten - was seinem Bewegungsablauf zu einem slapstickartigen Stocken verhalf.

Diebisch grinsend zog Sina die Stirn kraus und knurrte etwas wie "na da haben wir auch schon besseres gesehen", wandte sich vom Fenster ab, hinter dem der peinlich berührte Kellner gerade hastig in der Küche verschwand und folgte der im Grau des trüben Spätnachmittages verschwindenden Gestalt des Detektivs.

4. Verschlungene Wege (1)


"Guten Tag, der Herr, was darf ich Ihnen bringen?" Mit professionell-freundlichem Lächeln fixierte der junge adrett gekleidete Kellner vom "Café Hinterhof" den lässig auf der gepolsterten Eckbank fläzenden Alexander Fiedler.

"Zwei doppelte Espresso bitte."

Ein kurzes Nicken, eine Notiz, dann waren Sina und Fiedler wieder alleine am Tisch in dem halbwegs gut besuchten Café.

"Respekt, Fiedler, ich habe schon lange keinen Grenzgänger mehr erlebt, der von einem Kellner ohne weiteres angesprochen wurde - müssen Sie am Schluss auch noch bezahlen?" Sina sah sich um. "Mal im Ernst - wieso bleiben Sie so nahe an der Normalität? Das muss doch verflixt schwierig sein?"

"Wissen Sie, mein Spezialgebiet sind Fälle, in die beide Seiten des Schleiers verwickelt sind - Grenzweltler und Normalos – und da ist es ziemlich praktisch, wenn man von allen Beteiligten wahrgenommen wird. Allerdings reicht es nicht, wenn man ab und zu mal gesehen wird, sondern man muss halbwegs Teil des Systems sein. Ein Normalo will von einem Privatdetektiv wie mir auch mal 'ne Lizenz und 'nen Ausweis sehen und so Dinger sind auch tierisch nützlich, wenn man mit den Bullen auf der anderen Seite zusammenarbeiten möchte oder muss. Also ist es für mich quasi geschäftlich wichtig, so wenig Paradox aufzusammeln wie möglich. Sie verstehen?"

Fiedler setzte sich ein wenig auf und lehnte sich dann mit einem Ellbogen auf den Tisch zwischen ihnen.

"Wenn wir aber schon bei persönlichen Fragen sind, meine Liebe, lassen Sie mich doch ein bisschen in Ihrer Privatsphäre herumschnüffeln." Sinas Ausdruck blieb gelassen, doch ihre Augen stellten sichtlich auf Fiedlers Gesicht scharf - messerscharf. "Ich bin kein Experte, was Beschworene angeht, aber ich habe schon ein paar von Ihresgleichen erlebt. Wenn ich überlege, wie Sie sich darstellen, sich geben, auf Menschen und Menscheleien reagieren, - verdammt, Sie trinken Kaffee - würde ich sagen, dass Sie wahrscheinlich keine Anderweltlerin und kein Konstrukt sind, sondern ein Geist dieser Welt. Für eine ruhelose oder verfluchte Seele sind Sie zu gelassen und positiv, für einen einfachen hilfreichen Geist haben Sie zu viel Biss. Außerdem scheinen Sie nicht besonders positiv Ihrem Beschwörer gegenüber eingestellt zu sein - eine generelle Abneigung gegen das Beschworenwerden oder eine persönliche Sache zwischen Ihnen und Herrn Unbehaun?"

Die Frage blieb im Raum stehen und beide warteten ab, bis der Kellner herangekommen war, zwei modern wirkende Kaffeetassen zwischen sie gestellt hatte und wieder verschwunden war.

"Sie sagen, Sie kennen sich mit unsereins aus, Fiedler? Dann erwarten Sie jetzt sicher keine Antwort. Was zwischen Herrn Unbehaun und mir ist, geht Sie nichts an. Lassen Sie uns doch über sinnvollere Dinge sprechen. Wie wollen Sie an die Sache heran gehen?"

Während Sinas Antwort hatte sich Fiedler eine der beiden Tassen geschnappt, mehrere Löffel Zucker hinein rieseln lassen und sich mit dem schwarzen dampfenden Gebräu wieder zurück an die Wand gelehnt.

"Nun ja ..." ein gedankenverlorenes Schlürfen am Kaffee "... bei allem, was ich über ihn weiß, gehe ich nicht davon aus, dass Herr Unbehaun mich ohne nähere Überlegung engagiert hat. Es ist anzunehmen, dass er die klassischen Wege, Frau Kirchner über Medien, Geisterbeschwörer und ähnliche Leichenschänder aufzuspüren schon so weitestgehend durchprobiert hat. Aber selbst wenn dem so sein sollte - wieso heuert er mich an? Weil ich ihm einen Gefallen schulde? Unwahrscheinlich, meinen Sie nicht? Vor allem, bei dem beachtlichen Aufwand, den dazu noch getrieben hat - das Siegel, Frau von Radewitz, Sie ..."

Fiedler ließ das Satzende offen und nippte abermals an seinem Kaffee. Auch Sina hatte sich inzwischen die Tasse genommen, noch mehr Zucker als Fiedler hinein gefüllt, umgerührt, genussvoll daran gerochen, genippt und sich dann mit unschuldig erwartungsvollem Gesicht auf ihren Gegenüber konzentriert.

"Nein, Verehrteste, wie ich bereits zuvor schon sagte - Ihr Herr und Meister hat gerade mich für den Job ausgesucht, weil ich dabei war ... oder zumindest beinahe." Ein weiterer kleiner Schluck schwarzen süßen Espressos verschwand zwischen Fiedlers Lippen. "Wahrscheinlich wissen Sie das besser als ich: Dinge finden sich viel einfacher, wenn man ein Ende eines Fadens in der Hand hat, an dem sie hängen. Offenbar glaubt Unbehaun, ich hätte einen solchen Faden, oder würde leicht an einen kommen. Mal sehen, ob er damit richtig liegt."

Fiedlers Gesicht wurde ernst und er blickte auf das silberne Ziffernblatt der abgenutzten Uhr an seinem Arm. Zehn Minuten vor fünf. Noch etwas Zeit. Sein Blick wanderte wieder hinüber zu Sina und ihrer fast schon zärtlich gehaltenen Espressotasse. In der Tat ziemlich menschlich - eine Beschworene, die ein Faible für (zugegebenermaßen guten) Kaffee besaß und diesen zudem noch trank. Offensichtlich hatte sie das Menschsein entweder selbst erfahren oder auf irgendeine Art sehr zu schätzen gelernt. Er fragte sich, wie alt die Dame wohl sein mochte. Jahrzehnte? Jahrhunderte? Jahrtausende? Beschworene waren schwer einzuschätzen.

3. Sonstige Besucher (5)


Wenig später traten Sina und Fiedler wieder aus dem Toilettenhäuschen auf den Rathausplatz hinaus. Regen prasselte vom grauen Himmel, der Platz war menschenleer und auch von den fröhlichen Mädels des Jungesellinnenabschieds war nichts mehr zu sehen.

Unter dem schmalen Vordach klappte Fiedler den Kragen seiner Lederjacke hoch. "Ich denke, es wird Zeit, dass wir ein paar Dinge besprechen. Vielleicht sollte ich vorher aber noch ein paar Erkundigungen einziehen - alleine."

"Vergessen Sie's, Fiedler. Ich soll Sie nicht aus den Augen lassen, vor allem nicht in Durnburg ."

"Es gibt Orte, da bin ich alleine willkommen und in Ihrer Anwesenheit nicht."

"Ich kann verflucht unauffällig sein." Sina grinste.

"Nein, Verehrteste, tut mir leid, da wo ich hin will, ist Ihresgleichen nicht gerne gesehen - in welcher Gestalt auch immer."

"Dann bringe ich Sie eben bis vor die Tür. Und noch etwas, Fiedler, ich will Ihr Wort darauf, dass Sie keine weiteren Ermittlungen über Ihren Auftraggeber anstellen!"

In Fiedlers Stimme lag Unmut. "Ich bin kein Freund von Knebelverträgen - aber eine Wahl hab' ich wohl nicht. Sie haben mein Wort. Auf was für Überraschungen muss ich mich noch einstellen? Lassen Sie mich raten: Ich darf nicht versuchen, etwas über Sie herauszufinden und muss anderen gegenüber den Auftrag verschweigen."

"So in der Art - Sie scheinen sich ja auszukennen. Für alle Regeln gibt es natürlich Ausnahmen, wenn dadurch das Gelingen der Mission gefördert werden kann - die letzte Instanz bin wie immer ich."

Sardonisch verzog Fiedler das Gesicht "Na denn, Euer Ehren. Wie wäre es mit einem Kaffee? Können Sie den Annehmlichkeiten des Geborenendaseins etwas abgewinnen?"

Sina nickte zustimmend "Worauf Sie sich verlassen können. Ich folge Ihnen, mein einheimischer Führer."

Nach einem kurzen missbilligenden Blick zum Himmel machte sich Fiedler mit schnellen Schritten und hochgezogenen Schultern auf den Weg über den Platz, um ein einer der Gassen zwischen den alten protzigen Patrizierhäusern zu verschwinden. Knapp hinter ihm, mit etwas gelangweiltem Blick folgte Sina (und nur wer genau hinschaute, stellte fest, dass kein Regentropfen ihre Bomberjacke oder gar sie selbst berührte).

3. Sonstige Besucher (4)


Auf subtile Art und Weise erinnerten Griselda von Radewitz Augen an die eines Raubvogels, als sie Zeichen um Zeichen, Zeile für Zeile das Schreiben auf dem cremeweißen Büttenpapier des Briefes abrasterten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Fiedler insgeheim, was in ihrem Kopf wohl vorgehen musste, wenn sie das tat, wofür sie bekannt war: den Wahrheitsgehalt von Aussagen (seien sie schriftlich, mündlich oder in Bildform verfasst) zu überprüfen. Konnte man das als eine Art Seherei betrachten oder als Form des indirekten Gedankenlesens? Teilten ihr die Buchstaben mit, ob sie bedeuteten, was sie sagten oder hatte sie über das Geschriebene Zugang zu dem Teil der Realität, der von diesem beschrieben wurde? Eigentlich egal, dann was zählte war, dass sie sich offenbar bislang noch nie geirrt hatte.

Nach dreifacher Lektüre des Briefes wich etwas Anspannung aus ihrem Gesicht, sie senkte das Dokument und blickte Fiedler mit ernstem Blick an. "Nach allem was ich feststellen kann, entspricht das hier geschriebene in allen Aspekten der Wahrheit. Der Verfasser dieser Zeilen heißt Ebenezer Unbehaun und ist tatsächlich die Person, die mit den beschriebenen Ereignissen in Baltungshult in Verbindung steht. Der Auftrag ist Wort für Wort ernst gemeint und gilt bindend als Einlösung des von Ihnen geschuldeten Gefallens. Zu guter Letzt", ihre Augen nahmen nun Sina ins Visier, "ist diese Dame dort die bereits angekündigte und im Brief erwähnte beschworene Botin des Herrn Unbehaun - auch hier ist die Aussage vertrauenswürdig. Allein der Schlußabsatz mit dem besten Wünschen erscheint mir als Floskel und ohne Bedeutung - aber wenn ich Sie richtig enschätze, Herr Fiedler, darauf kommt es Ihnen wahrscheinlich nicht an."

Fiedler wirkte etwas gequält aber entschlossen. "Danke, Frau von Radewitz. Ich kann nicht sagen, dass ich mit dem Ergebnis besonders glücklich bin - aber danke." Er warf einen Blick zu der sehr mit dem Ergebnis und sich selbst zufrieden wirkenden Sina hinüber.

Griselda von Radewitz deutete ein höfliches Nicken an. „Nichts zu Danken, Herr Fiedler. Gibt es vielleicht noch etwas, mit dem ich Ihnen behilflich sein kann?“

Es entstand eine kurze Pause, in der Fiedler erst zu einer ablehnenden Geste anhob, dann zögerte und schließlich mit nachdenklicher Miene zurückfragte: „Nun, eine Sache vielleicht. Haben Sie nicht Quentin Fechtner in Ihre Dienste genommen?“

„Ja, in der Tat, das habe ich.“ Frau von Radewitz wirkte von der Frage überrascht. „Aber ich denke nicht, dass seine Expertise in dieser Angelegenheit weiterführt.“

Erneut schüttelte Fiedler den Kopf. „Mitnichten. Ich gehe nur davon aus, dass zu den Vertragsbedingungen Ihrer Leute wahrscheinlich ein Verzicht auf das Eingehen jeder Art von rituellen Verbindung steht. Irre ich mich?“

Diesmal war es Griselda, die verneinend entgegnete: „Sie irren sich nicht. Selbstverständlich ist das Eingehen einer rituellen Verknüpfung für meine Experten tabu. Das Potential zur Kompromittierung, das eine solche Verbindung mit sich bringt, ist in unserer Branche ein untragbares Risiko für die Integrität.“

Einen Moment lang fragte sich Fiedler, ob die von Radewitz sich wohl auf die Zunge beißen musste, um nicht nachzuhaken oder ob sie sich für den Hintergrund seiner Frage tatsächlich nicht interessierte. Wie dem auch sein mochte, der Brief war echt, der eingeforderte Gefallen damit auch und so war es an der Zeit, den Minotauren bei den Hörnern zu packen.

Die Sache mit Fechtner wäre eine nette Chance gewesen, so einfach wie zu ihm würde er wohl zu keinem anderen Kontakt aufnehmen können, der in den Tod von Astrid Kirchner verwickelt war, aber Vertrag war nun mal Vertrag und Fechtner kam als Anker für eine rituelle Verbindung nicht in Frage. Es musste also ein anderer Ansatzpunkt für eine Verbindung her – und Fiedler hatte schon eine Idee, wer ihm helfen könnte, die geeigneten Kandidaten zu finden.

„Danke, Frau von Radewitz, in diesem Fall gibt es wohl nichts, was Sie für uns und unser Anliegen tun können. Vielen Dank auch, dass Sie sich so ausgiebig Zeit für uns genommen haben – es ist wohl besser, wir gehen jetzt und lassen Sie Ihren sicher zahlreichen weiteren Verpflichtungen nachkommen.“ Höflich lächelnd stand er auf und wandte sich zu Sina: „Verehrte Statthalterin meines Auftraggebers, ich nehme an, es wird nicht nötig sein, Ihnen Ihre Jacke zu reichen?“