12. Auf ab Wege (5)

Auch Fiedler fiel, als der gerade erst fest gewordene Halt des Kabinendachs unter ihm wegbrach - jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Harte Klauen packten ihn von hinten wie ein Greifvogel seine Beute, schlossen sich gnadenlos um und durch seine Kleidung und brachten seinen Sturz über dem rasend tiefer klaffenden Abgrund zu einem abrupten Halt. Gleich der Füllung eines nassen Sacks wurde Fiedlers haltlos fallender Körper von Mantel und Gürtel zurückgerissen. Sein Kopf ruckte nach vorne und die Erschütterung raubte ihm so ziemlich jegliche Sinne und Kontrolle.

"Steinmeier, dieser Sturkopf! - ... und die Seelenkapsel!" Die Worte schmeckten nach Blut und Fiedlers Zunge schmerzte und pochte.

Hilflos über dem Schacht taumelnd musste er mit ansehen, wie eine wichtige Person und ein unschätzbares Gut in Dunkelheit und Tiefe verschwanden. Ein rasch abklingender Schrei drang dünn durch das Rauschen von Fiedlers eigenem Blut in seinen Ohren. Steinmeier. Ihm selbst war auch nach Schreien zumute, doch dafür reichte die Luft in seinen Lungen gerade nicht aus.

Über ihm schimpfte es rauh in Sinas seltsamer Sprache und die Stahlklaue in Fiedlers Rücken zerrte ihn rasch und kraftvoll in rhythmischen Hüben nach oben. Offenbar kletterte sie an einem Kabel oder Seil nach oben, denn auf jeden Hub setzte sogleich eine ausgleichende Pendelbewegung ein. Jede Regung seinerseits würde ihr wohl den Aufstieg erschweren, daher zog es Fiedler vor, dem Ruf seines schmerzenden Körpers zu folgen und zunächst einmal still zu halten. Den Blick zwangsweise nach unten gerichtet, blieb seine Aufmerksamkeit fest auf die rasch kleiner werdende Aufzugskabine konzentriert. Irgendwann musste sie Giorgios Stockwerk passieren - und irgendwo musste der Dreckskerl stecken, der für den Absturz verantwortlich war...

Wie mit einem Schalter angeknipst glomm dreißig Meter unter dem baumelnden Fiedler ein trübes Rechteck in der Schachtwand auf: die offen stehende Türe zu Giorgios Spielhalle. Jetzt blieben nur Sekundenbruchteile, bis sich diejenigen, die den Aufzug "abgeschossen" hatten, sie unmittelbar ins Blickfeld bekommen und ihr begonnenes Werk vollenden konnten.

Sina schien das ähnlich zu sehen, denn das Schwingen des Stahltaus, an dem sie mit Fiedler hing, gewann an Fahrt und beschleunigte zu einer der Wände hin, hinein in die schützende doch nur eine Handbreit tiefe Nische einer geschlossenen Ausgangstüre. Schmieriger feuchtkalter Beton und staubig glatte Metallarmierungen versuchten sich Fiedlers reflexartig zupackenden Händen zu entziehen, bis sich die Finger seiner Rechten mit aller Kraft um einen korrodierten aber sich als fest genug erweisenden Stahlbügel schlossen, der in Hüfthöhe aus der Schachtwand ragte. Körper und Gesicht so eng wie möglich an die säuerlich nach altem Bauwerk riechende Wand gepresst gelang es ihm, seine horizontale und vertikale Position zu fixieren. Neben ihm hatte sah er Sina als wohldefinierten dunklen Umriss im Schatten der unzulänglichen Notfallbeleuchtung, wie sie mit zirkusreifer Eleganz und Mühelosigkeit ausgestreckt entlang des schmalen Grats unter der Türe lehnte, seitlich gestützt auf ihre Füße und ausgestreckten Arme, scheinbar in perfekter Balance ohne sich festzuhalten. Vom Abgrund vor sich völlig unberührt registrierte sie nebensächlich mit knappem Nicken den Erfolg von Fiedlers Bemühungen, während sie mit leicht nach vorne geneigtem Kopf nach unten in die Dunkelheit spähte.

Ein dumpf metallisch krachendes Geräusch drang zu Fiedler empor, dann eine leichte Druckwelle, die den Schacht hinaufwallte - dann Ruhe. Der Aufzug war unten aufgeschlagen.

12. Auf ab Wege (4)

Dann hatte Fiedler das staubbedeckte blecherne in der schabenden Abwärtsbewegung der Kabine zitternde Dach des Fahrstuhls erreicht und er machte sich daran, seine neue Umgebung zu verstehen. Über ihm wuchs der rechteckige Aufzugsschacht, fahl erleuchtet von den in unregelmäßigen Abständen an einer Seite kränklich grün glimmenden Notfallbeleuchtungen der Aufzugstüren und endete in undurchdringlichem Schatten. Bis in diesen hinauf ragte von der Kabine ein schwankendes Bündel unterarmdicker straff gespannter Kabel oder Seile, dessen Gegenstück an der türabgewandten Seite des Schachtes in zuckender Ausgleichsbewegung von unten her am Aufzug vorbeiglitt. Fiedlers taktischer Verstand schaltete sich ein: Wenn die Kabine weiter nach unten sackte, könnte das aufsteigende Kabelbündel eine “Mitfahrgelegenheit” für eine Flucht nach oben darstellen!

Derzeit kauerte Sina, tatsächlich von Kopf bis Fuß in eine Art enganliegender schwarzer Lederrüstung gekleidet, aber neben ihm auf dem Aufzug und versuchte, durch die Lukenöffnung, den ungewohnt ruhigen Steinmeier zur Kooperation zu bewegen: "Sie wollen doch nicht mit diesem Ding in den Abgrund stürzen, Finn. Kommen Sie her, dann hole ich Sie da raus!" Der stets gegenwärtige schnurrende Unterton in Sinas Stimme war auf ein ungewöhnlich sachliches Minimum abgefallen.

"Beruhigen Sie sich, meine Teure. Ich hab' mich mal für 'ne Rolle in so 'nem Aufzug-Klaustrophobie-Streifen vorbereitet. Wahrscheinlich gibt es das alles nicht, da wo Sie herkommen - hey, ich weiß nicht mal, ob Sie da überhaupt sowas wie 'nen Lift brauchen - aber ein Aufzug aus dem zwanzigsten Jahrhundert kann eigentlich gar nicht abstürzen. Da gibt es Otisbremsen, Geschwindigkeitsbremsen, hydraulische Fangvorrichtungen und allerhand narrensicheres Zeug. Glauben Sie mir, es ist eigentlich schon ein kleines Wunder, dass so ein Teil überhaupt noch abwärts fahren kann!" Steinmeiers Worte klangen souverän und selbstsicher, wenn auch ein wenig einstudiert.

"Finn, das ist keine eurer Maschinen, die mal wieder versagt! Das war ein Hexenfluch oder so etwas Ähnliches!" Auf Sinas Miene spielte fast so etwas wie Sorge und … Angst?

Steinmeier zögerte.

Etwas klackte, einen Moment lang schabte Stahl auf Stahl, dann beendete ein dumpfer Schlag das Abgleiten der Aufzugskabine. Fiedler unterdrückte einen Schmerzenslaut, als er mit den Handgelenk auf das Metalldach des Aufzugs schlug. Mit verkniffenem Gesicht zog er sich am zitternden doch nun stillstehenden Strang der Fahrstuhlkabel wieder hoch.

Aus dem Klang von Steinmeiers Stimme durch die Dachluke war zu hören, dass sein charakteristisches schief triumphierendes Grinsen zurückgekehrt war: "Na bitte! Sieht so aus, als müsste sich Ihre schöne magische Welt immer noch ein bisschen an die Gesetze der Realität halten!"


"Sagen Sie, Fiedler, brauchen wir diesen Trottel wirklich?" Sichtlich gereizt sah Sina zu Fiedler hoch. Von Besorgnis war in ihrer Stimme nichts mehr zu hören.

"Er ist wichtig. Außerdem haben wir ihn mitgenommen - jetzt passen wir auf ihn auf." Fiedler klang eindringlich und laut, während er sich das beim Sturz geprellte Handgelenk hielt. "Holen Sie ihn da raus, bevor denen was Neues einfällt!"

"OK, ich komm' feiwillig raus!" Womöglich hatte Steinmeier Fiedlers letzten Satz gehört und wollte nicht abwarten, mit welchen Maßnahmen Sina zu Werke gehen würde. Wie auch immer - durch die immer noch halb offen stehende Dachluke war zu erkennen, wie sich Finn feixend in Bewegung setzte. Da traf ein zweiter Schlag den Lift wie die Faust eines Riesen.

Ein Schrei gellte - es war Sinas Stimme - erneut brach etwas Stählernes im Aufzugsschacht und plötzlich befand sich die Kabine im freien Fall.

12. Auf ab Wege (3)

Fiedlers Reflexe funktionierten routiniert. Er hatte Übung darin, in Dunkelheit und Tumult auf's Maul zu fallen. Stattdessen beanspruchte eine viel drängendere Frage seine Aufmerksamkeit: Was geschah gerade, warum geschah es und darüber hinaus - wie war die Situation zu bewältigen? Fiedler machte Kontakt mit dem kunststoffbelegten Boden, rollte sich über die Schulter ab und versuchte, die anderen in der Dunkelheit auszumachen.

Ein paar Meter weiter schlug Steinmeier schimpfend am anderen Ende des Aufzugs auf. Von oben kam ein schrill kratzendes, dann schlagendes Geräusch; offenbar machte sich Sina in irgendeiner Weise am Lift zu schaffen. Konnte sie für die aktuelle Lage verantwortlich sein? Rasch besann er sich seines Auftrags, verdrängte den aufkeimenden Gedanken und konzentrierte sich statt dessen darauf, die im Dunklen noch ein wenig unsympathischere Präsenz der mechanischen Schabe zu lokalisieren.

Wie zur Antwort gab ihm ein dumpfer Schlag, gefolgt von vielbeinigem Klackern grob 30 cm neben seinem Gesicht, die Antwort auf diese Frage. Verdammt, er war viel näher an der Wand gelandet als abgeschätzt. Instinktiv prallte er vor dem vermuteten Metallinsekt zurück und verfluchte seine unbeholfene Position. Dann rappelte er sich mit unterdrücktem Ächzen in die Hocke auf. Sie mussten so schnell wie möglich den Aufzug verlassen. Aber - bei allem gelben Schnee auf den Thules Gletschern - ohne Giorgios vermaledeite Seelenkapsel hatte er keinen blassen Schimmer, wie er Astrid Kirchner aus der Ödnis abtransportieren sollte.

"Steinmeier! Haben Sie die Kapsel!?"

Die Antwort klang gepresst eine halbe Bedenksekunde später aus der Dunkelheit: "Ja, ich hab' das Teil. Macht mal jemand Licht oder könnt ihr hier alle im Dunklen sehen?" Steinmeiers Stimme schnappte vor Anspannung fast über.

Draußen im Aufzugschacht krachte etwas Mechanisches, gab nach und die Fahrstuhlkabine begann kreischend, schnarrend und scheinbar widerstrebend Zentimeter um Zentimeter nach unten abzusacken.

"Bei Odins eisigen Eiern - das fehlt gerade noch!" Die Anstrengung das Gleichgewicht zu behalten und aufzustehen ließ Fiedlers Stimme tonlos keuchen. "Steinmeier, raus hier! Sina, helfen Sie uns hoch!"

Von der Position der Beschworenen an der Decke ertönte ein heftig dröhnender Schlag, gefolgt von metallischem Scheppern, als mit brachialer Gewalt eine klemmende Gitterluke aus ihrer Verankerung geschlagen wurde. Ein schmaler, fließender, nur ansatzweise menschlich wirkender Schatten wischte durch die nun klaffende rechteckige Lücke in der Decke, durch die kraftloses Dämmerlicht in die völlige Dunkelheit in der Kabine sickerte. Sekunden verdunkelte draußen Sinas durchaus (wieder?) menschlich wirkende Silhouette die Öffnung und ein schlanker, vollständig in rauhes schwarzes Leder gekleideter Arm reckte sich in die Kabine.


Ohne langes Fackeln griff Fiedler beherzt nach der angebotenen Hilfestellung und setzte gerade zu einem angestrengten Klimmzug an, als ihn der feste Griff der behandschuhten Damenhand kraftvoll und scheinbar mühelos zur Luke hochzog, wo er begann, sich durch die enge Öffnung nach draußen zu zwängen.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass ihm Steinmeier aus dem Dreivierteldunkel herablassend belustigt bei seinen Bemühungen zusah. Offenbar hatte er beim ersten Schlag Halt an einer Wand gefunden und daher aktuell weniger Probleme damit, seine aufrechte Position zu behalten. "Aber aber, keine Panik die Damen und Herren." Von der ursprünglichen Angst war fast nichts mehr in Finns Stimme zu hören.

12. Auf ab Wege (2)

Finn zögerte und setzte zu einer Bewegung an, aber nur einen Sekundenbruchteil später hatte sich sein Gesichtsausdruck zu einem schiefen leicht selbstironischen Feixen stabilisiert und er zog in Erwartung kommenden Ekels die Schultern hoch. "War ja klar. Das Ding krabbelt hinter mir an der Wand und will, dass ich ihm irgend so ein Kapseldingsda abnehme, was? Ich wette, es wedelt dabei noch aufgeregt mit seinen langen spirrigen Fühlern!"

"Nicht schlecht geraten, Herr Steinmeier." Fiedlers Stimme war angespannt - irgendein Instinkt versuchte ihm gerade wieder mit Nachdruck klarzumachen, dass etwas nicht stimmte. "Aber eigentlich fährt es gerade seine Flügel aus! Drehen Sie sich doch bitte um und nehmen sie ihm die Büchse ab, bevor hier 'ne armlange Blechschabe durch den Lift brummt."

Ein weiteres Mal rang der ehemalige Schauspieler fast unbemerkbar mit sich und seinen widerstrebenden Impulsen. Dann zuckte er lakonisch lässig mit den Achseln und wandte sich gefasst mit einem demonstrativ geseufzten "Na wenn das so ist ..." dem hinter sich vermuteten mechanischen Insekt zu.

In der Tat kauerte dort oben, knapp unter der Decke des Aufzugs, wo die teppichbezogene Wand auf die matt korrodierte Aluminiumabdeckung traf, fühlerwedelnd eine metallisch angelaufene mechanische Chimäre bestehend aus Schabe, Käfer und Schrottsammlung. Die fleckigen Flügeldecken waren leicht gespreizt, die fingerlangen Mandibeln unter denn rötlich irisierenden handtellergroßen Facettenaugen öffneten und schlossen sich ruhelos und unentschlossen, begleitet von leisen Scharr- und Klickgeräuschen. Währenddessen hielten die vorderen beiden Beinpaare ein ovales schwarzes Objekt eng an den ölig glänzenden Brustpanzer der Kreatur gepresst.

Fiedler wich einen unauffälligen Schritt zurück. Offenbar hatte Giorgio seiner "Cucharacha" unzureichende Instruktionen für die Übergabe gegeben und das ... Ding ... wusste nun nicht, wie es sich zu verhalten hatte. Wunderbar. Als wären ein manischer Selbstdarsteller und eine nervöse Beschworene nicht schon unberechenbar genug. Seine Augen hasteten einmal mehr zur Stockwerksanzeige, an der gerade ein vergilbt weißliches Licht hinter der linken Hälfte der Zahl "9" aufgeglommen war. Noch drei Stockwerke - und nicht einmal dann würden sich die Türen öffnen. Außerdem galt es, das Kästchen der Kakerlake möglichst ohne Beschädigung von Inhalt (und Schabe) an sich zu bringen. Seit dem Schwätzchen mit Ghede war die ganze Angelegenheit leicht außer Kontrolle geraten. Das ungute Gefühl in Fiedlers Bauch ballte sich zusammen. Etwas lief gerade gewaltig schief!

Dann geschah alles ganz schnell.

Sina stieß einen unverständlichen Fluch aus und sprang unvermittelt aus dem Stand an die Decke der Aufzugskabine, wo sie sich in Missachtung von Schwerkraft, Naturgesetzen und gesundem Menschenverstand flach an das Metallgitter gepresst festkrallte. Bevor Fiedler reagieren, geschweige denn Steinmeier seine insektenekelinduzierte Starre abschütteln konnte, erschütterte nervenzermürbend mahlendes Kreischen und Knirschen die Fahrstuhlkabine. Das ruckartige Anhalten der Fahrstuhlbewegung holte die beiden Männer von den Füßen. Gleichzeitig erlosch das Licht.

12. Auf ab Wege (1)

Das mechanisch scharrende Geräusch, mit dem sich hinter ihm die schäbigen Aufzugschiebetüren ruckelnd schlossen und damit das Klang- und Lichtgewitter aus Giorgios Automatenhölle aussperrten, jagte Fiedler einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Seit dem Betreten der Kneipe war in ihm ein unangenehmes Gefühl aufgestiegen wie eine düster drohende Wolke am Abendhimmel. Sinas offensichtliche Besorgnis und Eile, verbunden mit ihrer zunehmenden Wortkargheit und Anspannung, machten die Sache nicht besser. Eine kommandogewohnte Fregatte, die nervös und unsicher wird? Für gewöhnlich reizte ihn so etwas sonst eher zum Schmunzeln, Sarkasmus und Spielchen. Wenn die betreffende Dame allerdings relativ unsterblich und zudem nicht aus Fleisch und Blut gemacht war, dann bedeutete eine erwartete "Gesellschaft", vor der sie Respekt oder sogar Angst hatte, einfach nur 'ne Menge potentiellen Ärger.

Zumindest von Fiedlers aktueller Umgebung schien erst einmal keine unmittelbare Bedrohung auszugehen: ein geschätzt drei mal vier Meter messender Aufzug, in gelblich trübes Licht getaucht, mit dunkelbraun meliertem Teppich an den Wänden, altersklebrigem vergilbtem PVC-Fußboden sowie angelaufener Metallgitterdecke. Die erleichternd alltägliche Erscheinung zerstreute seine ursprünglichen Befürchtungen bezüglich eines von Giorgio "getunten" Liftes mit sirrenden Räderwerken, Hebeln und pneumatisch zuckenden Maschinen. Als dann noch der spröde Plastikknopf für den 12. Stock auf seinen beherzten Fingerdruck hin bereitwillig aufgeleuchtet war und sich Türen und Aufzugskabine in Bewegung gesetzt hatten, ließ Fiedlers Anspannung auf ein erträgliches Maß nach.

Keine akute Gefahr - und höchste Zeit, ein paar Dinge zu klären. Den nervös um die Gelegenheit zu einer Frage heischenden Steinmeier ignorierend, wandte er sich zu Sina: "Lady, wir müssen reden."

Sinas Miene war bestenfalls als widerwillig zu bezeichnen. "Dann reden Sie doch am besten mit Steinmeier und erklären Sie ihm, was Sie mit diesem neuen Kapsel-Spielzeug vor haben! Ich glaube kaum, dass er aufmerksam genug ist, wenn er gleich in Metropolis vor den Ratten davonrennt."

"Hey, lasst mich aus euren Hund-und-Katz-Spielchen raus!" Steinmeier war gereizt und verwirrt. "Außerdem haben wir diese superwichtige Kapsel doch gar nicht bekommen - und eigentlich will ich der steroidgedopten Roboterwanze auch lieber nicht nochmal begegnen."

Sinas Gesicht verlor etwas Unmut und nahm einmal mehr raubkatzenartige Züge an. "Ach mein lieber Finn. Wenn Ihre Naivität nicht gespielt sein sollte, um irgendwie niedlich zu wirken, dann haben Sie offensichtlich keinerlei Ahnung davon, wie es hier an der Grenze läuft!" Ohne eine rational erklärbare Ursache begannen auf einmal ihre Haare dramatisch wirksam in einem nicht existierenden Luftstrom zu wehen, als sie sich dem Schauspieler mit schicksalssprechender Geste zuwandte.

"Was die beiden Herren dort unten in ihrer männlich lässigen Art mit Schweiß, Spucke und was weiß ich welchen Schmiermitteln besiegelt haben, ist ein Handel - oder besser gesagt ein Pakt. Ein Pakt gilt und ich schätze diesen Giorgio so ein, dass er unter seiner rauen aber etwas beschränkt wirkenden Schale eigentlich durchaus weiß, was er tut. Er wird sich also tunlichst darum kümmern, dass sein Teil des Handels wie vereinbart erfüllt wird, damit ihn keine Konsequenzen treffen ... und natürlich auch, damit unser Herr Fiedler seinen Teil einhalten muss."

Mit amüsiert überheblich gehobenen Augenbrauen fügte sie hinzu: "Falls Sie jedoch ein Wiedersehen mit dem animierten mechanischen Replikat einer Schabe um den Schlaf bringen wird, dann sollten Sie am besten über einen ziemlich guten Verdrängungsmechanismus verfügen. Alternativ dazu könnten Sie Herrn Fiedler sicher darum bitten, sie möglichst schmerzlos bewusstlos zu schlagen..." Während sie das Ende des Satzes verheißungsvoll lose im Raum hängen ließ, fokussierten sich ihre Augen irgendwo hinter Steinmeier auf einen Punkt, der mittlerweile auch Fiedlers Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

11. Automatismen (3)

Giorgio zögerte, balancierte die Flipperkugel für ein paar Sekunden auf einer abgerundeten Spitze zwischen zwei Bumpern und musterte einen zeitlos ewigen Augenblick lang Fiedler und seine Begleitung aus wässrig graugrünen Augen. Fast zwanghaft folgte Steinmeiers Blick der Spielkugel, wie sie sich wie in Zeitlupe langsam nach links neigte und zu rollen begann. Just in dem Moment, als die Stahlkugel Kontakt mit dem Gummiwulst des mechanisch klackenden Bumpers machte, kehrte Giorgios Aufmerksamkeit ruckartig zum Spiel zurück.

"Nach links zur Bonusarea," konstatierte er laut.  "Der Automat vertraut dir, Fiedler, und ich bin bis jetzt gut damit gefahren, das auch zu tun. Du kannst dir das Teil unter deinen Bedingungen ausleihen. Meine Spielzeuge und ich haben in letzter Zeit so viel Ärger mit Uhrwerk, dass uns etwas weniger Stress ganz recht kommt - und ich wüsste schon einen weiteren Gefallen, den du mir tun könntest. Allerdings verspreche ich dir, dass du dafür ordentlich bluten müsstest! Du hilfst dir also selbst, wenn du mir die Falle in einem Stück zurück bringst!" Das raue Lachen klang diesmal etwas gedämpfter.

Fiedler nickte unbegeistert und streckte die Hand aus. "Ist gut. Wir haben einen Deal?"

Ohne seine Augen vom Spiel abzuwenden ließ Giorgio den rechten Flipperknopf los, verpasste dem Gerät einen herzhaften Stoß mit der Hüfte, der die Kugel auf eine weite Trajektorie über die Spielfläche schickte und schlug lässig ein. "Deal."

Eilig zuckte die Hand wieder zurück zum Automaten. "Mildred, bring doch mal den Gästen die Seelenkapsel!"

Aus dem Schatten unter dem Spielautomaten drang erst ein filigranes Klappern, dann mechanisches Scharren, als eine etwa unterarmlange gedrungene flach insektenartig anmutende Kreatur durch die Schatten der Maschinen rasch davon huschte. Fiedler, der Girogios mechanische Helferkreaturen bereits hinreichend kannte,  wandte sich einmal mehr neugierig zu seinen beiden Begleitern um. Wie vermutet zeigte Finn Steinmeiers Gesicht eine ausgewogene Mischung aus Überraschung, Ekel und einem gut verhohlenen Hauch von Angst. Schmunzelnd blickte der Detektiv weiter zu Sina - und wurde überrascht: Anstatt der erwarteten verächtlichen Mine mit hochgezogenen Augenbrauen fixierte ihn ein nüchterner ernster Blick.

"Das sollte hier besser schnell gehen, Fiedler. Wir bekommen Gesellschaft. Keine Zeit für Spielchen. Leider."

Also doch. Ohne nennenswertes Zögern nickte Fiedler, sah sich in der halbdunkler Spielhalle um und drehte sich dann wieder zu Giorgio, der ebenfalls Sina eines kurzen überraschten Blickes gewürdigt hatte.

"Hast du 'ne Hintertür, die uns hier raus bringt?"

Giorgios Stimme verriet, dass ihm die Aussage unbequem war. "Im Prinzip ja - kommt allerdings darauf an, wo du rauskommen willst."

"Komm schon, red' nicht rum!"

"Du wirst's nicht mögen, aber aus der Halle gibt's nur einen Ausgang in die Bar und einen in die große Stadt."

Sina sog scharf Luft ein. "DIE große Stadt?"

Giorgio nickte und versetzte gleichzeitig dem Flipper einen weiteren Hüftstoß. "Yupp. Metropolis."

Laute Stimmen drangen aus Richtung des Schankraumes, nur um gleich wieder abzuebben. Zähneknirschend rang Fiedler einen Moment lang mit sich, bis er schließlich gehetzt und resigniert mit den Schultern zuckte. "Nur Ärger mit der Sache! Wo geht's hin?"

Ohne sich von seinem Spiel abzuwenden, zeigte Giorgio in die dunkelste Ecke hinter den sichtbaren Reihen von Spielautomaten. "Da hinten gibt's einen alten Aufzug. Keine Ahnung wohin er eigentlich führen sollte - die Türen gehen nicht auf. Fahrt zum zwölften Stock und klettert durch die Dachluke nach draußen, eine Leiter steht in der Kabine. Vom Dach aus steigt ihr dann im Schacht durch die Türe im dreizehnten Stock aus. Euer Ankunftsort ist immer irgendwo in einem industrialisierten Viertel - leider kann ich euch nicht sagen, wo genau."

Den protestierenden Finn Steinmeier am Arm packend knurrte Fiedler ein kurzes "na besten Dank!", eilte los, gefolgt von einer ungewohnt unruhigen und wachsamen Sina und ließ einen kopfschüttelnden flipperspielenden Giorgio hinter sich. "Wenn die mir Ärger machen, setze ich dir das auf die Rechnung, Fiedler, verstanden?"

11. Automatismen (2)

Entsprechend Fiedlers Erwartungen fror Sinas Gesichtsausdruck kurzzeitig ein, allerdings nur um sich postwendend mit einem Anflug von Genusserwartung in ein nahezu damenhaftes Lächeln zu verwandeln. "Ah. Ich höre schon, der Mann hat Manieren. Genauer gesagt, die Manieren eines betrunkenen Kameltreibers. Nun kommen Sie schon seiner freundlichen Aufforderung nach, stellen uns notgedrungen vor, gefährden seine ... ‘Score’ ... und sehen dabei zu, dass Sie Ihre Geschäfte flott abwickeln. Schließlich habe ich nicht vor, die ganze Nacht mit einer von Ihnen geführte Tour durch das mechanische oder magische Kuriositätenkabinett Durnburgs zu vertrödeln!"

"Was immer Sie wünschen, meine Dame." Fiedler zuckte gleichgültig mit den Schultern "Wenn Sie sich in der Nähe von anderen Kuriositäten nicht wohl fühlen..." Er ließ den Satz unvollendet und schlenderte stattdessen in die Richtung von Giorgios Stimme, aus der nun ein kehlig heiseres Lachen drang, untermalt vom Klingeln, Piepen und Schlagen eines professionell bespielten Flipperautomaten. Hinter der nüchtern sarkastischen Fassade arbeitete es aber in seinem Kopf: Merkwürdig... War das ein Anflug von Eile, der gerade in Sinas Worten aufgekommen war? Was mochte die Ursache sein? Fühlte sie sich etwa in der Gegenwart der Automaten unwohl? - Unwahrscheinlich. Gab es einen Zeitplan, von dem er nichts wusste? - Denkbar. Warum hatte sie sich nicht früher etwas anmerken lassen? War etwas geschehen?
Hing das mit ihrem seltsam verspielten Interesse an Steinmeiers Gabe zusammen?

Seine Überlegungen wurden beendet, als sich ein paar Schritte vor ihm Giorgios im Rhythmus der Flipperklänge zuckende Silhouette durch das flimmernde Halbdunkel abzeichnete, immer wieder erhellt durch von schrillen Tönen begleitete Lichtsignale des Spielgerätes vor ihm. Ohne sich umzudrehen oder auch nur die lässig an den Automaten gelehnte Haltung aufzugeben nickte die drahtige Gestalt und schaffte es dabei irgendwie, würdevoll und gönnerhaft zu wirken. "Was gibt's Fiedler? Geschäft? 'N Spielchen? Zickenprobleme?" Rauhes trockenes Lachen brandete auf und verklang sofort wieder.

Fiedler's Stimme und Gesicht war die Professionalität in Person. "Die Lady ist nicht das Problem, Giorgio, und das Spielchen müssen wir auf wann anders verschieben." Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Sina trotz aller Anspielungen und Reize aufgehört hatte, Giorgio und seine düstere Spielhalle neugierig und spöttisch zu mustern. Statt dessen wandte sie sich immer wieder in Richtung des Eingangs und ließ diesen nicht mehr aus den Augen. Erwartete sie Verfolger? Unterstützung? Einerlei, vorerst wurde sein Plan weiterverfolgt. "Geschäft, Giorgio. Wir brauchen eine Seelenkapsel - und ich weiß aus sicherer Quelle, dass du so ein Ding besitzt."

Für einen Moment wurde der Takt unruhig, den der drahtige Mann vor Fiedler auf dem Flipper schlug und stieß. Dann, mit kurzer Verzögerung nickte Giorgio erneut. "Ja, so etwas kann ich besorgen. Aber das wird teuer!"

"Ich will nicht, dass du das Ding besorgst, ich hätte gerne deines." Bevor sein Gegenüber etwas erwidern konnte, setzte Fiedler nach: "Als Bezahlung lege ich ein Wort bei Uhrwerk für dich ein und sorge dafür, dass sie dich in Ruhe lassen, jedenfalls so lange das jetzige Zentrum im Amt ist. Außerdem hast du 'nen weiteren Gefallen bei mir gut, sollte ich dir das Teil nicht wohlbehalten innerhalb eines Jahres zurückbringen." Fiedler blickte ernst. Sehr ernst.

11. Automatismen (1)

Satt schmatzend war die dreckige Schwingtür der Kneipe ins Schloss gefallen. Abgestandener Rauch und Schweiß lagen in der Luft und bissen in den Augen der Neuankömmlinge, die sich gerade im schummrigen Lampenlicht des Lokals zu orientieren versuchten. Draußen in der dunklen, vom säuerlichen Geruch nach feuchtem alten Mauerwerk durchdrungenen Seitengasse verhallte gedämpft von der Entfernung das röhrende Brüllen einer großen gequälten Kreatur.

Drinnen rang Steinmeier mit der thematischen Einordnung seiner Rolle und Situation: "Ich soll Ihnen also als roter Faden dienen, so quasi als Leitstrahl, der Sie zu Astrid führt? So eine Art Navigationssystem für diese ... Anderwelt? Abgefahren!" Er verstellte seine Stimme und formulierte monoton und abgehackt: "Am nächsten verfallenen Altar einer mordlüsternen Gottheit wenden Sie bitte und ..." Resigniert seufzend verstummte er, wohl realisierend, dass ihm niemand die angemessene Beachtung schenkte.

Fiedler sah sich aufmerksam in dem mit Menschen, Rauch und Sitzgelegenheiten erfüllten Raum um und versuchte, möglichst rasch die Gegebenheiten - insbesondere die Ein- und Ausgänge  - einzuordnen. Es war nicht immer eindeutig, wo sich Giorgos 'Höhle' in ein Lokal einfügen würde, aber wofür hatte ein Detektiv denn bitte seinen Instinkt? War dort in der Ecke durch den Qualm ein Durchgang zu einem dunkleren Teil des Gebäudes zu erkennen? Fiedler setzte zunächst vorsichtig, dann entschlossener Kurs durch das ungeordnete Durcheinander von Tischen und Gästen, das sich in Richtung der immer deutlicher erkennbaren Passage stetig ausdünnte. Beiläufig registrierte er dabei, dass Sina in einem unbeobachteten Moment ihre Bomberjacke dematerialisiert hatte. Finn wiederum war offenbar mit seinem kleinen Vortrag fertig und folgte ihm schulterzuckend.

Das Durchschreiten des Durchgangs glich dem Schritt durch einen Vorhang. Über wenige Meter wich das raunende Geräusch der Gespräche unter den Gästen. Das trübe verrauchte Licht der Kneipe wurde verdrängt von diffusem bunten Blinken, gelegentlich unterbrochen sowohl von nahezu völliger Dunkelheit als auch von grellen Blitzen, begleitet von Surren, Rattern, Klacken und dem elektronischen Gedudel von Automaten. Genau der Ort, den er gesucht hatte.


Vor Fiedler öffnete sich ein überraschend großer Raum, dessen Halbdunkel erfüllt wurde von Reihe um Reihe durch Geräusch- und Lichtsignale nach Aufmerksamkeit heischender Spielautomaten unterschiedlichster Bauart. Neben den kastenförmigen Silhouetten von "einarmigen Banditen" drängten sich Videospielgeräte verschiedenen Alters mit flirrenden Bildschirmen und seltsamen Eingabemöglichkeiten.

"’Ne Spielhölle. Sowas habt ihr bei euch an der Grenze? Na ja, viel ist hier ja nicht los..." Steinmeier hatte zu Fiedler und Sina aufgeschlossen und versuchte mit zusammengekniffenen Augen die offenbar von Menschen unbehelligte Maschinenlegion vor ihm zu überschauen.

Auch Sina wirkte zumindest ansatzweise beeindruckt, was sich in einem leichten Anstieg ihrer linken Augenbraue äußerte. "In der Tat eine charmante Lokalität. Sagen Sie, geschätzter Fiedler, verfügen alle Ihre Bekannten über orthomantische Spielereien wie die Kapelle in der Besenkammer oder diesen nomadischen Raum hier?"

Mit einer lässigen Bewegung winkte Fiedler ab. "Mit Orthomantie hat das hier eher wenig zu tun. Die passendste Erklärung ist wohl, dass dieser Ort dem guten Giorgio mehr oder weniger ... zugelaufen ist. Der Raum wandert nach irgendeinem obskuren Muster durch die Stadt - ich glaube auch mit einem oder zwei Stopps in Metropolis. Giorgio hat ihn für sich entdeckt und dann besetzt. Wenn man den Gerüchten glauben kann, war ein Teil der Automaten vorher schon hier und Giorgio hat nur ein paar seiner 'Sammlerstücke' dazugestellt."


"Dieser ‘Giorgio’ klingt wie ein Mann von Uhrwerk." Sina zog mit unverhohlener Abscheu auch noch die andere Augenbraue hoch, aber Fiedler winkte mit trockenem Lachen ab.

"Behalten Sie das mal besser für sich, Verehrteste. Das Vorurteil hat er mittlerweile schon so oft an den Kopf geworfen bekommen, dass er manchmal ziemlich gereizt darauf reagiert" - er  zwinkerte Sina verschwörerisch zu - "wobei er für Sie ja vielleicht eine Ausnahme macht." Bevor sich die Beschworene ereifern konnte, fuhr er unter hastig unterdrücktem Lachen seitens Finn Steinmeiers fort: "Aber mal im Ernst: Giorgio hat mit Uhrwerk in etwa so viel am Hut, wie Sie mit dem guten Samedi. Das sollte als Information genügen und viel mehr weiß ich über die Sache auch nicht." In Gedanken fügte er noch hinzu: "... und selbst wenn, würde ich Sie darüber sicherlich nicht in Kenntnis setzen."

Sina lächelte mit offensichtlich gespieltem Mitgefühl: "Sie brauchen sich für Ihren Mangel an Wissen nicht zu schämen, dieses Problem plagt viele Menschen mit ihren Limitierungen und ihrer Lebensspanne. Besinnen Sie sich doch lieber auf Ihre paar Stärken und stellen Sie uns ein weiteres obskures Mitglied der Durnburger Unterstadt vor, ja?"

Anstatt das Geplänkel mit einer passenden Erwiderung fortzusetzen, bedachte Fiedler seine Gegenüber mit einem etwas abschätzigen, irgendwie siegesbewussten Lächeln und schien für einen Moment auf etwas zu warten. Keine Sekunde später durchdrang eine whiskey- und zigarettenraue Männerstimme das klimpernde und surrende Klanggewitter: "Hey Fiedler! Bring doch mal das beschworene Schätzchen hier rüber, damit sich der obskure Durnburger mal ein Bild von dieser Quadratzicke machen kann, ohne gleich seine Score zu verbocken!"

10. Andere Saiten (8)


Offenbar hatte Irene Hasmann tatsächlich die Kontrolle über den Teil des Trollmonsters an sich gerissen, der die Puppe war und anscheinend war der Rest des Trolls schwach genug, als dass die Puppe ihn komplett übernehmen konnte. Wie konnte es geschehen, dass etwas so Künstliches und Totes wie diese ... Puppenmumie auf ein Feenwesen wie diesen Troll aufgepfropft wurde? Brack erschauerte vor Ekel bei dem Gedanken, dann besann er sich auf sein ursprüngliches Vorhaben. Es wurde Zeit Fragen zu stellen. Er rappelte sich auf, stellte mit Befriedigung fest, dass seine Beine zwar noch schmerzten aber nicht mehr gebrochen waren und wandte sich seinem bizarren Gegenüber zu.

Unten, am Fuß der Brücke erahnte Irene Hasmann sein Vorhaben: "Steh ihm Rede und Antwort, Kreatur, als wäre er dein Herr!" Ein angestrengtes Keuchen hatte sich in ihre Stimme geschlichen.

Nach einem vorsichtigen Räuspern - Lunge und Stimme schienen hinreichend intakt - hob Brack die Stimme in Richtung das Puppenkopfes.
"Hörst du mich, Kreatur?"
Langsam und gleichgültig wandte sich das stumpf aus seinen Augenhöhlen glotzende Puppengesicht zu Brack und eine kratzend knarrende Stimme, deren Klang an das Kratzen von Fingernägeln über Plastik erinnerte, begleitete die dazu völlig asynchronen klappenden Bewegungen des Kunststoffkiefers.
"Ja."
"Kannst du mir von den Geschehnissen seit deiner Beschwörung erzählen?"
"Ja."

Brack fluchte leise aber herzhaft. Verdammt, wann würde er endlich lernen, diesen Beschworenen klare Handlungsanweisungen zu geben. Viel Zeit hatte er nicht. Sein Gehirn raste. Er formulierte neu: "Berichte kurz, was geschehen ist, seit du zuletzt beschworen wurdest!" Für einen Moment war ihm, als würde die Puppenfratze einen Anflug von Grinsen zeigen, dann fing sie in an in monotonem Stakkatorhythmus zu sprechen.

"Ich kam in diese Welt. Ich wurde an diese Form gebunden. Ich musste mich dem Bann meines Beschwörers fügen. Ich erhielt meinen Auftrag und Befehl." Ein Anflug von Widerwillen hatte sich über das Kunststoffgesicht des Puppenkopfes gelegt.

"Ich musste erst einen Brief zu dem Menschen Alexander Fiedler bringen, dessen Ort auf einer Karte verzeichnet war. Ich sollte ihm folgen. Ich sollte dafür sorgen, dass er zumindest den Geist der Menschin Astrid Kirchner aus dem Tod zurückholt aber nichts über meine Herren oder mich in Erfahrung bringt. Ich sollte in jedem Fall die Unversehrtheit meiner Herren und deren Interessen wahren." Nach diesem Satz kehrte die Puppenfratze in ihre ausdruckslose Maskenhaltung zurück, der Sprachrhythmus wurde aber weicher.

"Gemäß dem Wortlaut meiner Befehle machte ich mich auf den direkten Weg zu dem Ort, an dem ich den Brief übergeben sollte, konnte diesen aber nicht erreichen. Ein Menschengeist, viel älter und mächtiger als ich, manifestierte über mir in Gestalt eines Greifvogels, stieß herab, nahm die Form einer Raubkatze an und attackierte meine Substanz. Da meine Zerstörung die Ausführung des Auftrags und damit die Interessen meiner Auftraggeber gefährdet hätte, wehrte ich mich, konnte aber dem überlegenen Gegner nichts entgegensetzen." Tief in den Augenhöhlen des Puppenkopfes glomm ein grünlich blauer Funke auf. War es Zorn über die Niederlage oder fühlte das Wesen etwas anderes? Brack vermochte es nicht einzuschätzen und ohne Unterbrechung fuhr der Geist mit seinem Bericht fort.

"Nachdem der Menschengeist meinen physischen Körper zerfetzt hatte, verschlang er meine eigentliche Substanz, schloss mich in sich ein und isolierte mich, ohne mein Sein zu beschädigen. Über mehrere Stunden eures Zeitlaufes weiß ich darauf nichts zu berichten. Meine nächste Wahrnehmung war, dass mich der Geist ausschied und meine Substanz gewaltsam in die Struktur dieser Brücke und dieses Trolles trieb.

Während ich mit dem Troll um die Kontrolle über Domäne und Substanz rang, starb mein Beschwörer. Ich wurde frei, aber auch schwächer, und der Troll machte mich zu einem Teil seines manifestierten Bildes. Etwas Zeit verging wohl so, dann betratest du die Brücke und als die Frau und du mein Herr wurdet, war ich stark genug, den Troll zu unterwerfen, verlor dafür aber meine Freiheit. Das ist mein Bericht." Die Puppe verstummte.

Missmutig und frustriert verzog Brack die Lippen und nickte leicht mit dem immer noch etwas dröhnenden Kopf.

Unergiebig. Höchst unergiebig.

Dann verformten sich die Augenhöhlen der Plastikfratze zu einem gehässigen Ausdruck und die zuvor starren Lippen warfen sich spöttisch auf: "Meine Herrin kann mich nicht mehr lange halten. Sie wird mich auflösen und du wirst niemals erfahren, was ich dir hätte sagen können!" Höhnisches Gelächter brandete aus der Kehle des Puppenkopfes herauf.

Am Fuß der Brücke sank die schweiß- und regenüberströmte Irene Hasmann langsam und vor Anstrengung zitternd auf die Knie und begann konzentriert aber keuchend die Worte des Auflösungsritus zu rezitieren, den sie aus den Aufzeichnungen des Beschwörers kopiert hatte.

10. Andere Saiten (7)


Weit reichten Bracks Kraft und Reflexe nicht mehr, aber er schaffte es noch, mit einer schlaffen Bewegung die glitzernde, überraschenderweise immer noch intakte Phiole, hochzuheben und sie matt in Richtung der freien Trollhand zu werfen. Dann ergab er sich seinem Schicksal und hoffte auf Frau Hasmanns Fähigkeiten, sein Verständnis von Magie - und dass der Lieblingstrick einer ihm bekannten Fee auch bei diesem Troll funktionierte.

Losgelassen von Bracks nunmehr leblos herabfallenden Armen beschrieb das filigrane gläserne, blutig und ölig verschmierte Gefäß eine flache Parabelflugbahn, die unweigerlich damit enden musste, dass sie über den Rand der Brücke hinaus in die Elm fallen musste. Bevor das aber geschehen konnte, nahm Brack - mit dem seltsamen Gefühl ein unbeteiligter Beobachter zu sein - zu seiner höchsten Zufriedenheit wahr, dass einmal mehr die feeische Neugier des Trolls über dessen Zorn siegte und dass dessen Hand das merkwürdige Wurfgeschoss fing anstatt ihn, sein nun wehrloses Opfer, zu zermalmen. Die Wirkung dieses scheinbar nebensächlichen Ereignisses war immens.

Abrupt endete jede Bewegung des Trolls. Dann lief ein Zittern durch die unförmigen Gliedmaßen, während sich auf dem schartigen verpustelten Gesicht des Trollkopfes ein irgendwie unpassend wirkender Ausdruck des entsetzten Erstaunens ausbreitete. Auch auf dem daneben aus dem Rumpf des Monsters ragende Puppenkopf begannen sich die Züge zu verändern, doch obwohl die Augen der Trollfratze immer hektischer hin und her zuckten, verschwand aus dem zuvor absurd verzerrten Kunstgesicht mehr und mehr die Emotion. Stattdesen hielt das nichtssagende fade Lächeln aller Schaufensterpuppen darauf Einzug. Allein die Augen blieben schartige unnatürlich schwarz klaffende Höhlen, in denen graue Schatten zu flackern schienen.

Unten am Fuß der Brücke stand die gedrungene Gestalt von Irene Hasmann triefend und bis auf die Haut durchnässt, doch völlig unbeirrt von dem auf sie herabprasselnden Regen. Ihre Körperhaltung entbehrte nun jeder Unterwürfigkeit und Unsicherheit. Ein Fuß sicher auf dem Brückensockel ruhend, den anderen mit drohend verhaltener Gewalt auf den am Boden liegenden Puppenkopf aufgesetzt hatte sie die Arme in weiter Geste ausbreitet und den Kopf mit halbgeschlossenen Augen leicht in den Nacken gelegt.

Schon seit ein paar Sekunden verharrte sie in dieser Pose ungeachtet der skeptischen Blicken von Beil und Mohrek. Dann plötzlich - just in dem Moment, als das Troll-Puppen-Monstrum die Phiole fing - hatten sich ihre zuvor gespreizten Finger zu Fäusten geballt und mit untypischer Bestimmtheit, Entschlossenheit und Vehemenz war ein "GEHORCHE MIR! Halt inne!" zwischen ihren Lippen hervorgefaucht. Einige sowohl knappe als auch präzise Anweisungen später war Bracks lebloser Körper hinreichend sanft auf dem Brückenboden abgesetzt - unter ohrenbetäubend lautem Protest- und Wutgebrüll des Trollkopfes, das aber dann durch die nunmehr freie zweite Pranke des Trolls eine deutliche Dämpfung erfuhr.

Stöhnend erwachte Brack, öffnete die Augen, kniff sie schmerzhaft wieder zusammen, orientierte sich so schnell es seine langsam wiederkehrenden Sinne zuließen und ging seine aktuelle Situation durch.

Er war noch am Leben.
Gut.
Er war noch auf der Brücke.
Gut.
Der Troll stand noch vor ihm.
Schmerzhafte Erinnerung.
Der Puppenkopf starrte ausdrucks- und bewegungslos ins Nichts.
Gut.
Der Troll hielt sich mit einer seiner haarigen troll- und menschenblutverschmierten Pranken das brüllende Maul zu.
Absurd aber beruhigend.

10. Andere Saiten (6)


Erst wenn du dich vergisst, hast du verloren!

Riesig und bedrohlich hob sich die monströse Silhouette des Trollwesens aus dem verwehenden Nebel. Nun hatte es sich mit seiner brachialen Front umgewandt und das schartige Trollmaul geiferte, als das Monstrum linkisch hinkend auf sein Opfer zuwankte:

"Ich fress' mit Haut, Haar und Genuss, ..." ein bebender schwarzes Blut triefender Fuß stampfte auf die Betonplatten der Neuen Schlosserbrücke. "Wer auf die Brücke setzt den ..."

Der Rest des klobigen Reimes ging in überraschtem Röcheln unter, als sich ein stählerner Bolzen von vorne in die Kehle des Trollkopfes bohrte und mit klackend ausfahrenden Widerhaken dort stecken blieb. Während der Troll noch stutzte und schier ungläubig mit seiner borstigen Pranke nach dem Dorn in seiner Kehle fasste, senkte Brack seinen linken Unterarm, an dessen Handgelenk noch die Wurfarme der Bolzenschleuder unter dem zerfetzten Mantelsaum zu sehen waren, stützte sich auf, spuckte einen Mundvoll Blut auf den Boden und begann, mühsam auf allen Vieren zu krabbeln. Stück für Stück in Richtung von Irene Hasmanns silberner Phiole, die beim Hieb aus seiner Tasche geschleudert, ein paar Meter weiter in einer trüben bräunlich schwarzen Pfütze am Boden lag.

Immer das Ziel im Auge behalten!

Gequält setzte er eine Hand vor die andere und hoffte inständig, dass ihm die Kontrolle über seine Knie nicht entglitt. Um ihn herum war die Luft erfüllt mit dem monoton prasselnden Geräusch des Regens und dem feinen Nebel, der kalt und klamm vom Plexiglasdach der Brücke herunterwehte. Wie unendlich weit doch die paar Schritte bis zu dem Paket erscheinen konnten! Im Geiste zählte er verzweifelt die regennassen Metallstreben des Brückengeländers zu seiner Linken, doch seine Konzentration reichte nicht aus, um sich diese Zahl tatsächlich zu merken. Leise knackend fügte sich ein gebrochener Rippenbogen wieder zusammen.

Vergiss nie, wer hinter dir steht!

Diese Aufforderung an sich selbst war im Grunde genommen überflüssig. Jeder Teil von Bracks Geist, dem er gerade nicht seinen zielgerichteten Willen aufzwängen konnte, war damit beschäftigt, die Handlungen des Trolls abzuschätzen. Ein Bolzen durch den Hals - selbst wenn es kalter Stahl war - reichte nicht aus, um einen Brückentroll, der sich eine Stahlbetonbrücke zu eigen gemacht hatte, auszuschalten. Doch wie lange würde der Stachel in seiner Kehle ihn hinhalten? Was würde der Troll danach tun? Seinem Zorn freien Lauf lassen, so viel war klar - aber wie? Die lästige sterbliche Laus zerquetschen oder lieber erst wüten und schreien, wie es das stumpf prahlerische Trollgesindel so gerne tat? Unnütze Gedanken! Er würde es früh genug erfahren - und tun konnte er dagegen sowieso nichts. Keine Zeit, keine Kraft für einen Blick über die Schulter, für eine Ablenkung vom letztmöglichen Ausweg. Noch vielleicht einen Meter! Einen schier ewig dauernden Meter!

Wenn du es nicht versuchst, kannst du es nicht schaffen!

Nicht nachlassen! Ohrenbetäubendes Brüllen ließ die gesamte Brücke von Grund auf erzittern. Der Troll hatte sich anscheinend endlich gerade den Bolzen aus dem Fleisch gerissen und röhrte nun seinen neu aufgeflammten Schmerz und seine wütende Blutgier in die Nacht. Die Brücke erbebte unter dem ohrenbetäubenden Geschrei, Brack jedoch ließ sich nicht beirren. Dann war es soweit: Das silbern durchwirkte milchig schimmernde Glasgefäß lag nach einem letzen mühsamen Nachziehen der immer noch etwas tauben Beine in seiner Reichweite.

Mit nahezu letzter Kraft und etwas Triumph packte Brack die Phiole sicher mit der rechten Hand. Just in diesem Moment packte eine gewaltige Pratze seinen wie einen Zahnstocher brechenden Unterschenkel und riss ihn in einem brachialen Ruck rückwärts nach oben. Einmal mehr brandete eine Welle gleißenden Schmerzes durch den geschundenen Körper des wuchtigen Mannes und drohte, dessen Bewusstsein zu überwältigen, doch erneut schaffte Brack es, sich an der bewussten Welt und an dem mühsam erbeuteten Gefäß festzuklammern.

Wenn ... du ... einen ... Vorteil ... hast, ... gib ... ihn ... nicht ... wieder ... her!

Die wilde Schleuderbewegung endete darin, dass Brack kopfüber vor den beiden albtraumhaften Fratzen des Trolls baumelte, während immer mehr süßlich nach Eisen schmeckende Flüssigkeit in seinem Mund und Rachen zusammenlief, aus seiner Nase tropfte und sich mit dem zähen schwarzen Trollblut auf dem Brückenboden in zischenden Dampfwolken verband. Mühsam liefen seine Denkprozesse wieder an, als die zweite Trollpranke ausholte, um dem lästigen sterblichen Plagegeist endgültig den Gar aus zu machen.

10. Andere Saiten (5)


Schließlich schien die Kreatur ihre absurde Geburt aus der Brücke vollendet zu haben. Die eiterblasenübersäten Trolllippen verzerrten sich zu einem geifernden, gurgelnden Grinsen und ein massiges von zerschlissenem schwarzbraunem Fell bedecktes Bein stieg aus dem Krater im Brückenboden. Jetzt oder nie. Brack hatte zwar noch nie ein Wesen, wie diesen Zwittertroll gesehen, aber er hatte eine verdammt gute Theorie, was es war. Von Theorien hielt er nicht viel - also wurde es Zeit, zur Praxis überzugehen.

Ohne einen Kampfschrei oder sonst eine Ankündigung, dafür mit um so mehr Kraft, schleuderte er den Beutel, den seine Linke umklammert gehalten hatte und traf die Monstrosität mitten auf die Brust. Die dünne Hülle des Säckchens zerbarst und setzte eine Wolke von Stahlspänen und Salzkörnern frei, während gleichzeitig eine Ampulle mit Weihwasser zerschellte und ihren Inhalt über das Ding vergoss. Gleichzeitig duckte sich Brack, machte einen Ausfallschritt nach vorne und die Magie seines Schwertes knisterte vorfreudig, als es in einem wuchtigen Schlag gegen das exponierte Trollbein geführt wurde.

Ein satter Ruck, die Klinge traf auf Fleisch und Knochen (oder was auch immer) des Trolls. Ein kurzes aggressives Zischen magischer Entladung und in das wütende Aufheulen der zweiköpfigen Kreatur nach dem Aufprall des Beutels legte sich mehr Kraft und ein schmerzhafter Unterton. Offenbar hatte Brack sein Ziel nicht nur getroffen, sondern es fühlte den Treffer auch. Aus Bracks Sicht war das einerseits gut, denn schließlich war nicht jedes Wesen durch ein einfache magisches Schwert zu tangieren - andererseits bedeutete es aber auch, dass er sich nun der vollständigen Aufmerksamkeit des Monstrums sicher sein konnte.

Kein stehendes Ziel bieten!

Die Schwungbewegung des ersten Hiebes fortführend versuchte er, weniger elegant als effizient, unter der wild und unkontrolliert rudernden Trollpranke hindurchzutauchen, wobei er aus den Augenwinkeln zu seiner Verwunderung feststellte, dass sein Hieb deutlich weniger Wirkung gezeigt hatte, als erwartet. Zwar schien der Treffer das Ding verletzt zu haben, jedoch war es nicht einmal aus dem Gleichgewicht geraten - worauf er eigentlich gehofft hatte.

Die Angriffsserie fortsetzen!

Bracks routiniert wirkender Bewegungsablauf endete kurz hinter dem breiten von warzenartigen Hornauswüchsen übersäten, räudig schwarz bepelzten Trollrücken, den Körper in leichter Drehung angespannt wie eine Uhrwerksfeder, das Schwert stoßbereit an der Seite. Wenn ein Schlag ins Bein nur schmerzte, war ein Stich in den Rücken sicher nicht verkehrt.

Rasch, bevor der schwerfällige Gegner sich umdrehen kann!

Kraftvoll zuckte der matte, mit schwarz öligem Blut und Haaren verschmierte Stahl der Klinge auf sein Ziel zu. Erst, als er die Bewegung nicht mehr aufhalten konnte, merkte Brack, dass er etwas übersehen hatte. Während der massive Körper des Trolls sich erst jetzt mit Wanken anschickte, dem beweglichen und unerwarteten Peiniger Paroli zu bieten, war der groteske Puppenkopf auf dessen Schulter Bracks Bewegungen offenbar gefolgt und starrte ihn aus unmöglich schwarzen, herausgebrochenen Augenhöhlen an.

Dem Unerwarteten lieber ausweichen als es parieren!

Noch in der Stoßbewegung begriffen, ließ Brack sein linkes Bein einknicken und setzte dazu an, über die Schulter abzurollen. Zu spät. Mit einem hässlichen Knacken klappte der Unterkiefer der Puppe ruckartig herunter und spie eine gelblich braune nach Schwefel und verbranntem Kunststoff stinkende Wolke aus und bevor er sich in Sicherheit bringen konnte, war Brack von den beißenden Schwaden verschlungen.

Wie Feuer brannte der gelbliche Nebel in Bracks Augen und Atemwegen und seine Koordination geriet durcheinander. Mühsam wendete er den drohenden Sturz ab und blieb gerade so auf den Beinen. Gleichzeitig informierte ihn das schmerzhafte Aufglühen des Talismans auf seiner Brust darüber, dass gerade irgend eine Form von schadhafter Magie abgewehrt würde. Das war ja noch mal gut gegangen - aber der Schutzzauber war nun verbraucht.

Greift dich etwas mit Atem oder Blicken an, führt der kürzeste Fluchtweg nach vorne!

Bevor der gute Ratschlag seiner inneren Stimme umgesetzt werden konnte, wallte das giftgelbe Wabern einmal auf und eine riesige Trollpranke fuhr aus dem nirgendwo heran und traf Brack breitseits an der Flanke. Knackend gaben einige Rippen dem gewaltigen Hieb nach, als Brack von den Füßen gerissen und mehrere Meter über die Brücke geschleudert wurde, bevor er mit dumpfem Krachen an einen der Stahlpfosten schmetterte. Jahrelang hatte er versucht, sich anzutrainieren, trotz Schmerzen nicht zu schreien - aber diesmal kam er nicht in Versuchung, denn sein zerschlagener Körper war nicht mehr dazu in der Lage. Langsam sackte Brack am Fuß des Brückengeländers zusammen und ein breites Blutrinnsal sickerte aus seinem Mund, als er verzweifelt versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben.