18. Ins Dunkel (6)

"Lassen Sie das, Steinmeier." Fiedler war verwirrt und genervt. "Sie sind uns heute schon einmal fast gestorben. Meinen Sie nicht, das reicht für einen Tag?"
"Hey, der Tod kam persönlich, um mich zu holen, und ich bin ihm von der Schippe gesprungen. Heute ist für mich kein Tag zum Sterben - und wenn doch, dann können Sie das bestimmt nicht ändern. Wenn ich jetzt da rein gehe und Astrid raushole, habe ich gewonnen und Sie auch. Wenn ich hier draußen bleibe und heute mit sterben dran bin, werde ich sinnlos von einem bescheuerten Höhlenmonster gefressen. Also - geben Sie mir schon das Seelenei und 'ne kurze Intro dazu! Ich bin ihre beste Chance."
Fiedler zögerte skeptisch, was Sina nutzte um sich einzumischen. "Vielleicht hat er da gar nicht so unrecht. Unser Herr Steinmeier hat jetzt schon mehrfach gezeigt, dass er sich vor den Blicken gefährlicher magischer Wesen erfolgreich verschleiern kann. Mit ein bisschen Glück gelingt es ihm völlig unbeschadet den Schwarm aus ... Finstervögeln ... zu durchschreiten, einfach weil der Schwarm nicht auf die Idee kommt, ihn anzugreifen. Ich verstehe, dass Sie den Seelenbehälter nicht aus der Hand geben wollen, insbesondere nach dem Wort, das Sie Giorgio gegeben haben, aber ich denke, Finns Vorschlag ist sehr im Sinne unserer Mission."
Eine subtile Härte klang in den letzten Worten mit, woraufhin sich Fiedlers Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpressten. Es vergingen einige schweigende Sekunden, bevor sich der Grenzdetektiv zu einer Reaktion entschlossen hatte. Entgegen Steinmeiers Erwarten adressierte er aber die immer noch abwartend am Boden vor ihnen ausharrende Ratte: "Gibt es einen Bereich im Inneren und jenseits des Schutzzaubers, in dem man sich als Grenzgänger gefahrlos aufhalten kann?"
Ohne Zögern klopfte der Schwanz drei mal auf den Boden.
"Ist der Brunnen für einen Menschen wie Herrn Steinmeier problemlos und ohne Hilfsmittel zugänglich - abgesehen vom Schutzzauber versteht sich?"
Drei weitere Schwanzschläge. Fiedler fragte weiter.
"Kann dort am Brunnen trotz des Schutzzaubers genug Licht existieren, das hell genug ist, damit ein Mensch wie Herr Steinmeier den Brunnen am Boden und die Hand vor Augen sehen kann?"
Ein Moment des Zögerns, dann dreimaliges Klopfen mit dem Rattenschwanz.
"Fliegen die Vögel der Schutzmagie blindlings gegen die Dinge in ihrer Umgebung? Gegen die Bänke zum Beispiel."
Ein wenig schien es Finn, als schnüffelte die Ratte kurz in die Richtung, in der ihr verletzter vergifteter Artgenosse davongekrochen war, dann klopfte ihr Schwanz auf den Boden und innerhalb eines gespannten Atemzuges folgte dem ersten kein zweiter Schlag. Nein also. Die Fragen waren gut gewesen, das musste er Fiedler lassen. Besonders an die Möglichkeit, dass die kleinen Monster ihn zwar ignorieren aber dennoch zerfleischen würden, hatte er nicht gedacht gehabt. Schlagartig wurde Steinmeier klar, wie viele Unwägbarkeiten sein Plan enthielt. Nur eine weitere bizarre Unmöglichkeit dieser unberechenbaren Welt musste eintreten und schon würde er von hunderten giftiger Klingen, Dornen, Schnäbel und was-nicht-noch-alles aufgeschlitzt werden. Grimmig schob er die Bedenken beiseite. Wenn die Grenze ihn umbringen wollte, würde sie das sowieso schaffen. Sollte sie das doch tun, wenn er etwas tat, das er für richtig hielt, das ihm seinen inneren Frieden wieder bringen würde. Was hatte der Theaterautor dem weisen alten Mann damals in den Mund gelegt, der in irgend einer Aufführung in seinen Armen 'gestorben' war? 'Wenn ich denn scheiden muss, so will ich es mit reinem Gewissen tun. Dann ist es gut.' Er sah Fiedler an. Für einen Moment fanden sich die Augen beider Männer und die Überkreuzung der zweifelnden Blicke war es, die das Zögern beendete. Fiedler griff in die Tasche seiner Lederjacke, in der zuvor die Seelenkapsel verschwunden war, und legte das schlanke ovale Gefäß nachdrücklich aber bedacht in Steinmeiers offen ausgestreckte Hand.

18. Ins Dunkel (5)

Sie machte eine Pause, die Fiedler für eine Antwort nutzte. "Für den Anfang nicht schlecht, Lady! Nehmen Sie es mir aber bitte nicht übel, wenn ich mir Applaus und lobende Worte für die Schlussfolgerung aufhebe, die Ihr hübsch manifestierter Kopf zusammenbringt, ohne nur zu wiederholen, was Herr Steinmeier und unser Führer vom Rattenvolk schon festgestellt haben." Die Stimme des Detektivs troff vor Spott. "Achten Sie doch einmal auf Details und Implikationen. Diese 'Finstervögel', wie Sie sie so treffend benannt haben, haben sich gegen unserer heldenhafte Ratte nicht etwa mit Zauberei zur Wehr gesetzt, sondern sie vielmehr körperlich mit Klingen, Stacheln und Gift attackiert. Meine Resistenz gegen alles Magische wird mir daher wohl beim Überwinden dieses Hindernisses kaum eine Hilfe sein. Andererseits wurde dieser Schutz eingerichtet, nachdem der Brunnen gerade erst von einem ziemlich mächtigen magischen Wesen befreit wurden war. Ich würde also glatt meine Lieblingsschuhe darauf verwetten, dass die Vogelviecher für einen Kampf mit einer Beschworenen wie Ihnen mehr als gut gerüstet sind." In der entstehenden Pause öffnete Sina kurz den Mund, schloss ihn dann aber frustriert wieder, bevor Fiedler weitersprach. "Damit bleibt die Frage offen, wie wir an diesem Schwarm von Wächtern vorbeikommen."
Die Wortgefechte zwischen Sina und Fiedler ignorierend, hatte Steinmeier die ganze Zeit über den Vogelkadaver angestarrt und abgewogen, ob er mehr Mut und Verzweiflung oder doch mehr Angst vor dem Tod hatte. Immer wieder kamen ihm der Anblick seines eigenen zerschlagenen Körpers im Aufzug und die dunkle, schreckliche Gestalt des Voodoo-Gottes in den Sinn. Andererseits hatte Astrid gesagt, sie würde auf ihn waren - und egal was irgendwer behauptete: Dies hier war die perfekte Gelegenheit für ihn, sich von seiner Schuld an Astrids Tod reinzuwaschen! Konnte das der Moment, die Tat und der Zweck sein, für den das Schicksal ihn vorgesehen hatte?
Erschrocken zuckte er vor dem Gedanken zurück - so durften allenfalls Figuren aus seinen Theater- oder Fernsehrollen von sich denken und nicht sein gesundes, realistisches und gefestigtes echtes Selbst. Die Szene vorher am Grund des Aufzugsschachtes kam ihm wieder vor Augen. Was zählte hier denn schon Realismus, wenn er im Nahtod mit Geistern und Göttern redete? Wenn tote Fliegen aus Träumen und Visionen in die stoffliche Welt fallen konnten? Und wie gesund und gefestigt war sein Selbst denn noch? Seit er hier an der Grenze gelandet war, hatte er keinen Halt gefunden, war durch diese irrsinnige Freakshow getaumelt und gestolpert ohne Platz ohne Ziel und ohne etwas bewegen zu können. Im Grunde genommen hatte sich die Grenze bisher einen Dreck um ihn geschert - und um all dem noch die Krone aufzusetzen, hatten sich die Mächte der Grenzwelt noch einen Scherz daraus gemacht, 'Nichtbeachtung' zu seiner Gabe zu machen. Möge ihn doch die ganze Paranormalität am Arsch lecken! Schweren Herzens und Mutes fasste er den Entschluss zu handeln und das Schicksal herauszufordern. Mal sehen, wer ihn aufhalten würde.
Steinmeier stand aus seiner kauernden Haltung auf, wandte sich mit ernster Miene zu Fiedler, und wartete bis dieser mit seiner kleinen Rede fertig war. Als der Detektiv geendet hatte, erhob Finn die Stimme im seinem besten 'Heldenschicksalston': "Wenn einer das tun kann, dann bin ich das, denn ich muss es tun." Die Worte kamen etwas weniger selbstsicher und gelassen heraus, als er sich das vorgestellt hatte, aber zu seiner Zufriedenheit spiegelten sich Finns Zweifel und Angst nicht darin wieder. "Wenn Sie mir also Ihr Seelenfängerding geben und zeigen, wie es funktioniert, dann werde ich tun, was nötig ist."

18. Ins Dunkel (4)

Obwohl er ihre Ausführungen eigentlich interessant fand, konnte Steinmeier ihnen nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit widmen. Der Rest seiner Gedanken befasste sich mit einem Schatten, den er sich nicht erklären konnte. Seit sich Fiedler über ihn gebeugt hatte, fiel das Licht von dessen Lampe fast senkrecht auf ihn und den vor ihm am Boden liegenden Kadaver. Da Fiedlers Funzel die einzige offensichtliche Lichtquelle im Raum darstellte, sollten nach den ihm bekannten Gesetzmäßigkeiten der Natur allenfalls noch kurze Schatten zwischen Lampe und Boden zu sehen sein. Ein Schattenkegel jedoch widersetzte sich dieser Regel und strahlte von dem bizarren Vogelkadaver hinaus in den Lichtkreis, bis er mit der Dunkelheit verschmolz. Allerdings wollte kein Körperteil des Vogeldings so recht als Ursprung des Schattens passen... bis es Finn wie Schuppen von den Augen fiel.
"Sina, können Sie das Ding ein bisschen drehen?" Bittend sah er die Beschworene an.
"Wie bitte?" Offensichtlich war die Angesprochene in keiner Weise auf die Frage vorbereitet.
"Na Sie haben was von Gift und Zähnen und so gesagt und ich habe nun wirklich keinen Bock, das Ding da," Finn zeigte auf den Kadaver "mit meinen sterblichen Fingern anzufassen. Allerdings sollte so ein bisschen Gift einem Wesen aus purer Magie wie Sie es sind doch mitnichten etwas anhaben können, oder?"
Sina stutzte kurz, dann schlich sich das Raubtierlächeln wieder auf ihre Lippen. "Gut geschmeichelt, Sterblicher. Aber Sie haben ein Detail übersehen: Dieses possierliche Tierchen ist aus eben der gleichen 'puren Magie' beschaffen, die auch meine Körperlichkeit ausmacht und damit geradezu dazu prädestiniert, mich anzugreifen. Trotzdem sollen Sie Ihren Wunsch haben. Ich fürchte nicht den Zahn des Löwen, wenn er sich nicht in dessen Maul befindet. Haben Sie eine bestimmte Vorstellung, wie Sie das Beißerchen gedreht haben wollen?"
"Ahm, eigentlich egal. Vielleicht so herum?" Mit einer etwas ungelenken Handbewegung deutete Steinmeier eine Rotation über dem Vogelkadaver an und Sina beugte sich hinunter und setzte vorsichtig die Bewegung um.
"Jetzt sehe ich's auch!" Eine Spur von Erstaunen lag in Fiedlers Stimme. "Da geht so etwas wie ein Schatten von dem Auge diesem kleinen Monstrum aus." Nach einem Moment des Nachdenkens wandte sich der Detektiv an die verbleibende unverletzte Ratte, die einen Handbreit neben der Beute ihres Speziesgenossen Stellung bezogen hatte. "Sind da noch sehr viele von den Viechern in dem Loch in der Mitte des Raumes? Ich sehe dich."
Sofort zuckte der Rattenschwanz drei mal deutlich auf den Boden.
"Geht die Dunkelheit in diesem Raum von den Augen dieser Dinger aus?"
Drei weitere Schwanzschläge. Fiedler verdrehte die Augen und Steinmeier nutzte die Gelegenheit, um selbst eine Frage an die Ratte zu richten.
"Sind diese famos vermaledeiten Finstervögel der fürchterlich verrufene ... Brunnenschutzzauber?"
Einen Moment schien die Ratte verwirrt zu zögern, während Sinas Ellenbogen wenig damenhaft Kontakt mit Steinmeiers Schulter machte, dann schlug der Schwanz weitere drei Mal. Gerade hatte sich Fiedler verärgert zu Finn umwenden wollen, nun brach er aber die Bewegung ab und sah die Ratte verdutzt an. Sina räusperte sich.
"Wenn Sie gestatten, dass ich mir ihrer wundervolle detektivische Logik einen Augeblick ausleihen darf, Herr Fiedler: Was Herr Steinmeier da ins Spiel bringt, ist doch eigentlich eine einfache und vernünftige Erklärung für all das hier." Gekonnt ahmte Sie Fiedlers Haltung und Mimik nach, als sie etwas gestelzt und dozierend fortfuhr. "Betrachten wir doch einmal die vorliegenden Fakten. In diesem Raum befindet sich sowohl ein Schwarm fieser Finstervögel als auch ein sagenumwobener Brunnen, der bekanntermaßen von nicht näher beschriebener Magie geschützt wird." Sie machte eine Pause und sah dem mit überkreuzten Armen und ironisch abwartendem Gesichtsausdruck recht gelassen wirkenden Fiedler in die Augen. "Liegt es dann nicht nahe, dass besagte Schutzmagie und der Finstervogelschwarm ein und die selbe Sache sind - zumal die Vögel bekanntermaßen magischer Natur sind?"

18. Ins Dunkel (3)

Sein stiller Gedankengang wurde unterbrochen, als zu seinen Füßen die kleine dunkle Gestalt einer Ratte aus Richtung der Mitte des Raumes in den von der flackernden Taschenlampe erhellten Bereich kroch. Das kleine Tier bewegte sich mühsam und schleifte etwas hinter sich her. Ohne nachzudenken kauerte sich Finn hilfsbereit hinunter. Ob es sich bei dem Neuankömmling um die zweite “Touristenführerratte” handelte, konnte er so genau nicht sagen, irgendwie sahen die Viecher für ihn immer noch alle aus … wie Ratten. Falls dem jedoch so war, hatte das Tierchen in den letzten paar Minuten recht gelitten: quer über seinen Rücken zog sich ein langer blutiger wenn auch oberflächlicher Schnitt, neben dem sich ein beidseitig etwa ein Zentimeter breiter haarloser Streifen ungesund wirkender Haut befand. Eine ähnlich zugerichtete Stelle war an der rechten Seite der Schnauze zu erkennen und zog sich bis zum rechten Auge hoch, das anders als das linke Auge glanzlos, matt und blind wirkte.
Ein naheliegender Ursprung für die Schnittverletzungen wurde offensichtlich, als Steinmeiers Blick auf den leblosen Kadaver fiel, das die Ratte hinter sich her schleppte: Auf den ersten Blick wirkte das Wesen wie in völlig schwarzer Sperling. Allerdings entsprossen dem gedrungenen Vogelkörper keine zwei, sondern vier Flügel, deren Schwungfedern offenbar harte messerscharfe Kiele besaßen, die mit unangenehmem Geräusch über den Boden kratzten. Dort, wo bei einem normalen Vogel der Schnabel saß, ragten bei der Kreatur zwei glänzende zangenartige Beiß- oder Greifwerkzeuge heraus, die Finn an die bizarren Mundwerkzeuge eines großen Hirschkäfers erinnerten. Anstelle der zu erwartenden zwei Knopfaugen oberhalb des "Schnabels" glotzte bei diesem Ding ein einzelnes übergroßes schwarzes Zyklopenauge aus der Mitte der deformierten Vogelstirn. In der Kehle der Kreatur klaffte eine schmale aber tiefe Wunde - passend zu einem kräftigen Rattenbiss - , aus der eine dünne fahlgraue Flüssigkeit Schmierspuren am Boden verursachte.
"Das sieht mal übel aus!" Steinmeier konnte sich selbst nicht entscheiden, ob er damit den Zustand der Ratte oder deren unnatürliche Beute meinte. Unter seinen gebeugten Knien hindurch war gerade die bei ihnen verbliebene Ratte hinzugehuscht und das heller werdende Licht sowie die tiefer werdenden Schatten deuteten darauf hin, dass  Fiedler mit der Taschenlampe näherkam. Während die dazugekommene Ratte ihrem verletzten und erschöpften Speziesgenossen das Schleppen des Kadavers abnahm, war es Sina, deren schlanke Silhouette sich als erste mit der gewohnten Eleganz neben Finn kauerte.
"Übel ist in diesem Fall ein beschönigender Ausdruck." Eine gewisse Besorgnis lag in der Stimme der Beschworenen, als sie die Szene am Boden konzentriert musterte. "Das Vogelding da ist mehr als unsympathisch."
"Ein Höhlenbewohner, ein entlaufenes Haustier -  oder hängt das Ding mit dem bekannten Schutzzauber um den Brunnen zusammen? Was sagt uns der Kennerblick?" Zusammen mit der Taschenlampe erschien Fiedlers Kopf über und zwischen Steinmeier und Sina.
"Letzteres, nehme ich an." Sinas rauchige Stimme klang immer noch nach Bedenken. "Dieses vogelartige Wesen gehört zur manifestierten Substanz eines viel größeren Beschworenen. Um in für die Grenzunerfahreneren unter uns etwas verdaulicheren Bildern zu sprechen: Dieses Ding da dürfte in etwa vergleichbar sein mit einem Stachel eines Stachelschweins oder einem Zahn eines Haifisches. Eine Wegwerfwaffe mit geringem Wert für ihren Besitzer. Allerdings hat das Vögelchen ziemlich viel Gemeinheit unter seinen Federn: So ziemlich alles an diesem Ding ist scharf oder giftig oder beides." Sie warf einen Seitenblick auf die langsam davonkrabbelnde verletze Ratte. "Ich hoffe, die Sippenmutter hat ein paar fähige Heilerinnen für diesen da, denn sonst wird er den kommenden Sonnenaufgang nicht mehr erleben."

18. Ins Dunkel (2)

Den Wahrheitsgehalt ihrer Worte abwägend und um Selbstbeherrschung bemüht blickte sich Finn Steinmeier um. Gerade entließ Fiedler die Ratte auf seiner Hand wieder auf den Boden. Dabei machte er ein Gesicht, als habe ihm jemand saure Milch in den Kaffee gekippt. Von dem anderen Nager war nichts zu sehen. Konnten die Viecher tatsächlich beleidigt sein? Irgendwie ein krasser Gedanke!
Unzufrieden richtete sich Fiedler wieder auf und sah missmutig zu ihnen herüber. "Hier endet wohl unser Rundum-Sorglos Vertrag. Immerhin war der Weg hierher für uns effektiv gefahrlos, soweit will ich mich nicht beschweren. Allerdings hätte ich mir deutlich mehr Hilfestellung erwartet, wenn es um die Schutzmagie um den Brunnen geht. Viel mehr als eine Bestätigung für deren Existenz und ein vages ‘warten Sie hier’ habe ich nicht bekommen. Mal sehen, was ein bisschen Geduld bringt.” Fiedler sah sich um in Richtung des unscheinbaren Türspalts, durch den sie gekommen waren. “Allerdings schätze ich, dass wir unsere Verfolger nicht vollständig abhängen konnnten. Brack ist ein zäher Brocken mit vielen Kontakten und es würde mich wundern, wenn er nicht irgendeinen Faden zieht, an dessen Ende er uns doch noch aufspürt.”
Steinmeier nickte zustimmend. “Die haben uns schon einmal einfach so gefunden - warum sollten sie den Trick nicht einfach nochmal machen? Also müssen wir ein bisschen Dampf machen, wenn wir Astrid vor den anderen aus dem Brunnen holen wollen. Können Sie nicht ein bisschen mehr Licht machen, Fiedler?”
Mit unschlüssigem Blick auf die etwas funzelig flackernde Taschenlampe in seiner Hand legte der Detektiv den Kopf etwas schief. “Nun ja, entweder gehen meiner guten alten Leuchte die Batterien aus oder hier drin wirkt eine verdunkelnde Kraft.” Er zögerte kurz und fuhr dann mit besorgterem Gesichtsausdruck fort: “Ich weiß nicht genau, welche Nachricht mir lieber wäre. Ohne Lichtquelle wird es hier unten zwar verdammt ungemütlich, aber die meisten Dinge, die Dunkelheit verströmen, sind eher unangenehm bis extrem gefährlich. So lange aber unser einheimischer Führer hier ”, Fiedler gestikulierte in Richtung der vor ihm am Boden schnüffelnden Ratte, “sich so entspannt gibt, dürfte sich die Gefahr in Grenzen halten - und eigentlich müsste die Lampe hier ein paar Monate leuchten.”
Nun war es an Steinmeier, verwundert die Augenbrauen hochzuziehen: “LEDs? An der Grenze?” Fiedler schüttelte den Kopf “Nein, nur altmodische Hexerei. High Tech wie LEDs neigt an magischeren und obskureren Orten dazu, nicht mehr zuverlässig zu funktionieren - und gerade da braucht man doch am ehesten ein bisschen Licht im Dunkel.”
Der Detektiv grinste, wobei sein Blick auf Sina fiel. Mit einer auffordernden Geste adressierte er die regungslos dastehende, in sich gekehrt wirkende Beschworene: “Können Sie uns vielleicht ein wenig erhellen, was diesen Raum angeht? Keine Sorge, diese Frage würde ich ohne Zögern auch Ihrem und meinem Vertragspartner Ebenezer Unbehaun stellen!”

Während Steinmeier noch versuchte, sich einen Reim auf Fiedlers offensichtlich als Provokation formulierte Bemerkung zu machen, löste sich die Angesprochene aus ihrer Starre und warf Fiedler einen mahnenden Blick zu. Offenbar hatten dessen Worte ihr Ziel nicht verfehlt. “Erhellen ist hier drin ein schwieriges Vorhaben. So lange Sie auf Licht zur Orientierung angewiesen sind, haben Sie an diesem Ort eher schlechte Karten, mein lieber Herr Fiedler.” Sinas Stimme klang spöttisch und liebevoll arrogant wie immer. “Aber falls Sie sich nicht scheuen, ihre Vorstellungskraft ein wenig anzustrengen, will ich Ihnen gerne eine Beschreibung der hiesigen Umstände liefern: Wir stehen am Rande einer Halle, deren Grundriss einem Kreuz aus zwei etwa fünfzehn mal zwanzig Schritt langen Balken besteht, die sich gegenseitig in der Mitte schneiden. Jedes dieser gekreuzten Schiffe trägt ein leicht spitzes Gewölbe eines mir nicht näher geläufigen Baustils, das sich hier und da im Raum auf reichlich unelegante Säulen stützt, um uns nicht ein Stück Durnburg auf den Kopf fallen zu lassen. Eine weitere Parallele zu euren neumodischen europäischen Kirchen sind die drei Reihen von Holzbänken, die sich um die Mitte drängen, in der sich aber anstelle eines Altars ein Loch befindet. Was da unten ist, kann ich von hier aus nicht erkennen, aber was auch immer die betonte Dunkelheit hier drin verursacht, kommt von da unten. Außerdem könnte es sich für Sie lohnen, mal kurz still zu sein und Ihrem mäßig entwickelten Gehör zu vertrauen.”
Mit hochgezogenen Augenbrauen und feinem Lächeln machte die Beschworene eine betonte Pause. Reflexartig gehorchte Steinmeier und lauschte in die Dunkelheit. Da war in der Tat etwas, eine Art Rauschen, wie von einem entfernten Wasserfall oder einer weit entfernten viel befahrenen Straße. Ob sie wohl in der Nähe eines Straßentunnels waren? Nein, das war zu wenig mystisch, geheimnisvoll und gefährlich - solch eine Banalität wäre der selbstinszenierenden Sina sicherlich keine Erwähnung wert. Vielleicht ein unterirdischer Wasserfall? Das Wasserthema würde auch gut zu dem Brunnen passen, von dem Astrid und Fiedler gesprochen hatten.

18. Ins Dunkel (1)

“Wäre es nicht einfacher gewesen, ein Stück mit der U-Bahn zu fahren, anstelle die halbe Nacht durch diesen Ameisenbau zu irren? Ich könnte schwören, dass der Keller mit den Regalen voll Einmachgläsern vorhin, der ‘Marmeladenkeller’ meiner Oma war.” Müdigkeit klang durch den fadenscheinigen Spott in Steinmeiers Stimme, als er Sina und Fiedler hinterhertrottete.
“Ich gestehe gerne ein, dass ich die Großstadtgrotten hier unten durchaus beeindruckend oder sehenswert finde. Ein Trip an der Oberfläche wie ‘Linie 5 bis zur Breittheimer Straße, dann umsteigen in die 3a zum Amtsplatz’ wäre sicher weniger anstrengend und auch kürzer gewesen. Ehrlich, ich hätte unseren beiden vierbeinigen Führern auch jeweils ein Haustierticket gelöst - wobei Ratten in einer U-Bahnstation doch sowieso Hausrecht haben sollten.” Er warf einen etwas unsicheren Blick in Richtung der beiden graubraunfelligen Nager, die seit Stunden am Rande des Lichtscheins vor ihnen her huschten. Immer wieder hielt eine der Ratten inne, scheinbar um sich zu versichern, dass die Zweibeiner noch nicht verloren gegangen waren, bevor sie auf kleinen aber unermüdlichen Krallenfüßen weitertrippelte. “Hat hier eigentlich irgend jemand eine Ahnung, wie weit es noch zu diesem Tiefen Brunnen ist? Fiedler, Sie sind doch sonst so ortskundig!”
“Ehrlich gesagt habe ich gerade weder einen blassen Schimmer, wo sich der Brunnen befindet, noch wo es uns gerade hin verschlagen hat.” Fiedler knurrte die Antwort unwillig vor sich hin. “Für gewöhnlich führen mich meine Geschäfte nicht so tief in die Unterstadt - und ich empfinde das meistens eigentlich als ganz angenehm. Man muss sich hier unten genau auskennen, um nicht aus Versehen verloren zu gehen. Dabei meine ich allerdings nicht nur die durchaus anspruchsvolle Aufgabe der Orientierung, sondern auch die Herausforderung, die gerade gültigen lokalen Machtverhältnisse und besonderen Gefahren zu kennen. Bedenken Sie: Der Rat von Durnburg und sein verpflichtender ‘Burgfrieden’ ist hier ganz schön weit weg. Wie sagt man so schön? ‘Was in der Unterstadt passiert, bleibt in der Unterstadt.’” Fiedler griente ob des schiefen Zitats.
“Also haben Sie Sorge, weil Sie hier ein beliebiger Höhlenmensch umpusten kann, ohne Konsequenzen vom oh-so-mächtigen Rat zu befürchten? Verlassen Sie eigentlich sonst niemals die Stadt?” Steinmeier gelang es tatsächlich, gleichzeitig interessiert und gelangweilt zu wirken. “Ich dachte, Sie wären so ein furchtloser Spürhund, der...” Plötzlich auftretende Echos aus der schattenerfüllten Leere eines unterirdischen Raumes ließen Steinmeiers Worte ausfransen und der ehemalige Schauspieler verstummte mitten im Satz, abgelenkt von einer beeindruckenden Veränderung ihrer Umgebung.
Gerade war die Gruppe aus einem klaustrophobisch schmalen Gang mit gelben Notleuchten an der beklemmend niedrigen schrägen Decke durch eine unauffällige Metalltür in ein gut zwei Stockwerke hohes Gewölbe getreten, an dessen rauen gelbbraunen Sandsteinwänden im trüben Licht von Fiedlers Taschenlampe nervös zuckende Schatten zu tanzen schienen. Dunklere stützende  Rippen hoben sich aus den unebenen Wänden hervor und strebten nach oben und innen in die Finsternis, die den kathedralenartigen Raum erfüllte. Überhaupt schien Finsternis ein bestimmendes Element dieses Ortes zu sein: So sehr sich Finn auch anstrengte, gelang es ihm nicht, in der Dunkelheit eine Struktur auszumachen, die weiter als drei Meter von ihm entfernt war.

Als wäre ihnen dieser Umstand bewusst, hatten sich die beiden Ratten näher an die drei Zweibeiner herangewagt und saßen nun kurz vor Fiedlers Füßen im Lampenlicht. Der Detektiv sah zu ihnen herab. “Ah. Diskussionsbedarf.” Er beugte sich hinunter und streckte die taschenlampenlose rechte Hand aus, worauf einer der beiden Nager bereitwillig auf seinen Handteller krabbelte und sich hochheben ließ. Darauf bedacht, die Ratte nicht abzuschütteln oder zu erschrecken, bewegte Fiedler langsam seine Hand vor sein Gesicht und winkelte dann den Mittelfinger so an, dass die Fingerkuppe bedenklich nahe und exponiert vor den gelben unhygienisch wirkenden Nagezähnen des Tiers schwebte. Dann fragte er mit geschäftlich sachlicher Stimme: “Sind wir angekommen?”
Wie zur Antwort öffnete die Ratte das Maul und schickte sich zu Finns Entsetzen tatsächlich an, in Fiedlers Finger zu beißen. Statt eines Schreis bliebt der Detektiv jedoch ruhig und nickte. “Gut. Ist der Schutzzauber noch aktiv?" Erneut knabberte die Ratte (offenbar vorsichtig) an der hingehaltenen Fingerkuppe. "Also ja."
Steinmeier hielt die Absurdität der Szene einfach nicht mehr aus: "Los, Fiedler, Fragen Sie sie nach den Verletzten hinter der alten Eiche! - Uffh!" Keuchend entfuhr die Luft aus seinen Lungen und das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als Sinas Ellenbogen mit einer gelassen beiläufigen Bewegung Kontakt mit seinen Rippen machte. Deutlich weniger gelassen klang das, was die Beschworene in sein Ohr zischte: "Schweigen ist Gold, Finn! Ratten sind nicht für ihren Humor bekannt. Wenn Sie die beleidigen, sitzen wir hier fest."

Editorial: Verpasst

Was ist der Sinn im Leben einer Deadline, wenn sie nicht gelegentlich einmal verpasst wird? Um meine persönliche Vox-Solis-Deadline nicht eine existenzielle Krise zu stürzen, habe ich mich daher entschieden, sie dieses Mal nicht zu erreichen.

Am Dienstag geht es also weiter mit Kapitel "18. Ins Dunkel (1)" - vorausgesetzt es geschieht am Wochenende keine Katastrophe.

17. Andere Anweisungen (5)

Demonstrativ hob Unbehaun mit der rechten Hand den Ledergurt hoch, den er gerade von seinem Schreibtisch genommen hatte, und auf eine kompakte Geste seiner Linken schossen die fliegenden Dolche mit zischendem Geräusch in sieben darauf angebrachte Holz- und Lederscheiden. Ohne den Blick von Brack zu lassen hängte er sich den Gurt um, die geholsterten Waffen schräg über seinen Rücken, bevor er ihn aufforderte: “Nun denn - lassen Sie uns aufbrechen!”

Nun war Bracks Verwirrung vollständig. “Aufbrechen? Wohin? Sie und ich? Warum?”

Um Unbehauns Lippen spielte ein feines sarkastisches oder vergebendes Lächeln: “Sie wollten doch andere Anweisungen - und diese hier sind eigentlich ganz einfach. Doch weil Sie offenbar Wert darauf legen mitzudenken, will ich Ihnen auch ein paar Hintergründe erläutern:
Erstens - warum Sie und ich: Wenn Sie es sich genau überlegen, haben Sie kurzfristig keine weiteren Leute zur Verfügung. Die verbleibenden Gebäudewachen müssen auf ihren Posten bleiben - alles Weitere wäre Gefährdung des Bundes. Mohrek ist im Spital und Beil eskortiert Frau Hasmann gerade zum Rat von Durnburg, bei dem ich sie als Freiwillige für sechs Monate Dienst in der Friedenswache gemeldet habe. Dadurch sollte sie sowohl das Einschätzen von Gefahren als auch das Wahren des Durnburger Paktes ausreichend üben können. Für Studien bleibt in ihrer Freizeit immer noch genug Raum. Die anderen Magister des Ordens sind eh so schnell und ohne Erläuterung nicht für eine Aktion verfügbar und die Zeit drängt.

Zweitens - wohin: Frau Hasmann ist nicht die Einzige in diesem Gebäude, die in der Lage ist, rituelle oder symbolische Verbindungen herzustellen. Mit Hilfe des verstorbenen Beschwörers, oder vielmehr seines letzten Atemzuges, eingefangen in einem geeigneten Gefäß,” Unbehaun berührte kontrolliert aber gezielt seinen Mantel an seiner Brust. Ohne dass Brack dort eine Tasche oder Ähnliches ausmachen konnte, “war es ein Leichtes, eine kausale Resonanz zwischen dem Beschwörer und dessen Todesursache herzustellen - wahrscheinlich also unserem gesuchten Geist. Dieser Verbindung gedenke ich zu folgen, wenngleich auch nicht alleine.

Zuletzt - warum: Weil es keinen anderen gibt, der in einer besseren Position ist, diese Aufgabe zu erledigen. Sie haben eigenmächtig gehandelt und dabei zwar keinen unmittelbaren Erfolg gehabt, aber Vorarbeit im Interesse des Bundes geleistet. Weitere Details Ihrer Eigenmächtigkeit können wir sicher später noch diskutieren. Wenn Sie und ich aber jetzt nicht handeln, ist Astrid Kirchner, das Orakel und das damit verbundene Kapital für unseren Bund und den Rat womöglich verloren. Also halten Sie hier keine Maulaffen feil, sondern ergänzen Sie flott Ihre Ausrüstung. Wir treffen uns in zehn Minuten unten an Ihrem ... charakteristischen Automobil.”

Mit diesen Worten schritt der hochgewachsene Magier energisch an Brack vorbei durch die Tür hinaus, den Mantelaufschlag elegant hinter sich wehend. Einen Augenblick starrte Brack noch verdattert auf das nachtdunkle Fenster hinter Unbehauns verwaistem Schreibtisch, dann kehrte ein entschlossenes Grinsen in sein Gesicht zurück. Wenn sein Chef schon mal auf Bracks eigene Art und Weise handeln wollte, würde er ihn bestimmt nicht davon abhalten.