18. Ins Dunkel (3)

Sein stiller Gedankengang wurde unterbrochen, als zu seinen Füßen die kleine dunkle Gestalt einer Ratte aus Richtung der Mitte des Raumes in den von der flackernden Taschenlampe erhellten Bereich kroch. Das kleine Tier bewegte sich mühsam und schleifte etwas hinter sich her. Ohne nachzudenken kauerte sich Finn hilfsbereit hinunter. Ob es sich bei dem Neuankömmling um die zweite “Touristenführerratte” handelte, konnte er so genau nicht sagen, irgendwie sahen die Viecher für ihn immer noch alle aus … wie Ratten. Falls dem jedoch so war, hatte das Tierchen in den letzten paar Minuten recht gelitten: quer über seinen Rücken zog sich ein langer blutiger wenn auch oberflächlicher Schnitt, neben dem sich ein beidseitig etwa ein Zentimeter breiter haarloser Streifen ungesund wirkender Haut befand. Eine ähnlich zugerichtete Stelle war an der rechten Seite der Schnauze zu erkennen und zog sich bis zum rechten Auge hoch, das anders als das linke Auge glanzlos, matt und blind wirkte.
Ein naheliegender Ursprung für die Schnittverletzungen wurde offensichtlich, als Steinmeiers Blick auf den leblosen Kadaver fiel, das die Ratte hinter sich her schleppte: Auf den ersten Blick wirkte das Wesen wie in völlig schwarzer Sperling. Allerdings entsprossen dem gedrungenen Vogelkörper keine zwei, sondern vier Flügel, deren Schwungfedern offenbar harte messerscharfe Kiele besaßen, die mit unangenehmem Geräusch über den Boden kratzten. Dort, wo bei einem normalen Vogel der Schnabel saß, ragten bei der Kreatur zwei glänzende zangenartige Beiß- oder Greifwerkzeuge heraus, die Finn an die bizarren Mundwerkzeuge eines großen Hirschkäfers erinnerten. Anstelle der zu erwartenden zwei Knopfaugen oberhalb des "Schnabels" glotzte bei diesem Ding ein einzelnes übergroßes schwarzes Zyklopenauge aus der Mitte der deformierten Vogelstirn. In der Kehle der Kreatur klaffte eine schmale aber tiefe Wunde - passend zu einem kräftigen Rattenbiss - , aus der eine dünne fahlgraue Flüssigkeit Schmierspuren am Boden verursachte.
"Das sieht mal übel aus!" Steinmeier konnte sich selbst nicht entscheiden, ob er damit den Zustand der Ratte oder deren unnatürliche Beute meinte. Unter seinen gebeugten Knien hindurch war gerade die bei ihnen verbliebene Ratte hinzugehuscht und das heller werdende Licht sowie die tiefer werdenden Schatten deuteten darauf hin, dass  Fiedler mit der Taschenlampe näherkam. Während die dazugekommene Ratte ihrem verletzten und erschöpften Speziesgenossen das Schleppen des Kadavers abnahm, war es Sina, deren schlanke Silhouette sich als erste mit der gewohnten Eleganz neben Finn kauerte.
"Übel ist in diesem Fall ein beschönigender Ausdruck." Eine gewisse Besorgnis lag in der Stimme der Beschworenen, als sie die Szene am Boden konzentriert musterte. "Das Vogelding da ist mehr als unsympathisch."
"Ein Höhlenbewohner, ein entlaufenes Haustier -  oder hängt das Ding mit dem bekannten Schutzzauber um den Brunnen zusammen? Was sagt uns der Kennerblick?" Zusammen mit der Taschenlampe erschien Fiedlers Kopf über und zwischen Steinmeier und Sina.
"Letzteres, nehme ich an." Sinas rauchige Stimme klang immer noch nach Bedenken. "Dieses vogelartige Wesen gehört zur manifestierten Substanz eines viel größeren Beschworenen. Um in für die Grenzunerfahreneren unter uns etwas verdaulicheren Bildern zu sprechen: Dieses Ding da dürfte in etwa vergleichbar sein mit einem Stachel eines Stachelschweins oder einem Zahn eines Haifisches. Eine Wegwerfwaffe mit geringem Wert für ihren Besitzer. Allerdings hat das Vögelchen ziemlich viel Gemeinheit unter seinen Federn: So ziemlich alles an diesem Ding ist scharf oder giftig oder beides." Sie warf einen Seitenblick auf die langsam davonkrabbelnde verletze Ratte. "Ich hoffe, die Sippenmutter hat ein paar fähige Heilerinnen für diesen da, denn sonst wird er den kommenden Sonnenaufgang nicht mehr erleben."

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