18. Ins Dunkel (1)

“Wäre es nicht einfacher gewesen, ein Stück mit der U-Bahn zu fahren, anstelle die halbe Nacht durch diesen Ameisenbau zu irren? Ich könnte schwören, dass der Keller mit den Regalen voll Einmachgläsern vorhin, der ‘Marmeladenkeller’ meiner Oma war.” Müdigkeit klang durch den fadenscheinigen Spott in Steinmeiers Stimme, als er Sina und Fiedler hinterhertrottete.
“Ich gestehe gerne ein, dass ich die Großstadtgrotten hier unten durchaus beeindruckend oder sehenswert finde. Ein Trip an der Oberfläche wie ‘Linie 5 bis zur Breittheimer Straße, dann umsteigen in die 3a zum Amtsplatz’ wäre sicher weniger anstrengend und auch kürzer gewesen. Ehrlich, ich hätte unseren beiden vierbeinigen Führern auch jeweils ein Haustierticket gelöst - wobei Ratten in einer U-Bahnstation doch sowieso Hausrecht haben sollten.” Er warf einen etwas unsicheren Blick in Richtung der beiden graubraunfelligen Nager, die seit Stunden am Rande des Lichtscheins vor ihnen her huschten. Immer wieder hielt eine der Ratten inne, scheinbar um sich zu versichern, dass die Zweibeiner noch nicht verloren gegangen waren, bevor sie auf kleinen aber unermüdlichen Krallenfüßen weitertrippelte. “Hat hier eigentlich irgend jemand eine Ahnung, wie weit es noch zu diesem Tiefen Brunnen ist? Fiedler, Sie sind doch sonst so ortskundig!”
“Ehrlich gesagt habe ich gerade weder einen blassen Schimmer, wo sich der Brunnen befindet, noch wo es uns gerade hin verschlagen hat.” Fiedler knurrte die Antwort unwillig vor sich hin. “Für gewöhnlich führen mich meine Geschäfte nicht so tief in die Unterstadt - und ich empfinde das meistens eigentlich als ganz angenehm. Man muss sich hier unten genau auskennen, um nicht aus Versehen verloren zu gehen. Dabei meine ich allerdings nicht nur die durchaus anspruchsvolle Aufgabe der Orientierung, sondern auch die Herausforderung, die gerade gültigen lokalen Machtverhältnisse und besonderen Gefahren zu kennen. Bedenken Sie: Der Rat von Durnburg und sein verpflichtender ‘Burgfrieden’ ist hier ganz schön weit weg. Wie sagt man so schön? ‘Was in der Unterstadt passiert, bleibt in der Unterstadt.’” Fiedler griente ob des schiefen Zitats.
“Also haben Sie Sorge, weil Sie hier ein beliebiger Höhlenmensch umpusten kann, ohne Konsequenzen vom oh-so-mächtigen Rat zu befürchten? Verlassen Sie eigentlich sonst niemals die Stadt?” Steinmeier gelang es tatsächlich, gleichzeitig interessiert und gelangweilt zu wirken. “Ich dachte, Sie wären so ein furchtloser Spürhund, der...” Plötzlich auftretende Echos aus der schattenerfüllten Leere eines unterirdischen Raumes ließen Steinmeiers Worte ausfransen und der ehemalige Schauspieler verstummte mitten im Satz, abgelenkt von einer beeindruckenden Veränderung ihrer Umgebung.
Gerade war die Gruppe aus einem klaustrophobisch schmalen Gang mit gelben Notleuchten an der beklemmend niedrigen schrägen Decke durch eine unauffällige Metalltür in ein gut zwei Stockwerke hohes Gewölbe getreten, an dessen rauen gelbbraunen Sandsteinwänden im trüben Licht von Fiedlers Taschenlampe nervös zuckende Schatten zu tanzen schienen. Dunklere stützende  Rippen hoben sich aus den unebenen Wänden hervor und strebten nach oben und innen in die Finsternis, die den kathedralenartigen Raum erfüllte. Überhaupt schien Finsternis ein bestimmendes Element dieses Ortes zu sein: So sehr sich Finn auch anstrengte, gelang es ihm nicht, in der Dunkelheit eine Struktur auszumachen, die weiter als drei Meter von ihm entfernt war.

Als wäre ihnen dieser Umstand bewusst, hatten sich die beiden Ratten näher an die drei Zweibeiner herangewagt und saßen nun kurz vor Fiedlers Füßen im Lampenlicht. Der Detektiv sah zu ihnen herab. “Ah. Diskussionsbedarf.” Er beugte sich hinunter und streckte die taschenlampenlose rechte Hand aus, worauf einer der beiden Nager bereitwillig auf seinen Handteller krabbelte und sich hochheben ließ. Darauf bedacht, die Ratte nicht abzuschütteln oder zu erschrecken, bewegte Fiedler langsam seine Hand vor sein Gesicht und winkelte dann den Mittelfinger so an, dass die Fingerkuppe bedenklich nahe und exponiert vor den gelben unhygienisch wirkenden Nagezähnen des Tiers schwebte. Dann fragte er mit geschäftlich sachlicher Stimme: “Sind wir angekommen?”
Wie zur Antwort öffnete die Ratte das Maul und schickte sich zu Finns Entsetzen tatsächlich an, in Fiedlers Finger zu beißen. Statt eines Schreis bliebt der Detektiv jedoch ruhig und nickte. “Gut. Ist der Schutzzauber noch aktiv?" Erneut knabberte die Ratte (offenbar vorsichtig) an der hingehaltenen Fingerkuppe. "Also ja."
Steinmeier hielt die Absurdität der Szene einfach nicht mehr aus: "Los, Fiedler, Fragen Sie sie nach den Verletzten hinter der alten Eiche! - Uffh!" Keuchend entfuhr die Luft aus seinen Lungen und das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als Sinas Ellenbogen mit einer gelassen beiläufigen Bewegung Kontakt mit seinen Rippen machte. Deutlich weniger gelassen klang das, was die Beschworene in sein Ohr zischte: "Schweigen ist Gold, Finn! Ratten sind nicht für ihren Humor bekannt. Wenn Sie die beleidigen, sitzen wir hier fest."

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