18. Ins Dunkel (6)

"Lassen Sie das, Steinmeier." Fiedler war verwirrt und genervt. "Sie sind uns heute schon einmal fast gestorben. Meinen Sie nicht, das reicht für einen Tag?"
"Hey, der Tod kam persönlich, um mich zu holen, und ich bin ihm von der Schippe gesprungen. Heute ist für mich kein Tag zum Sterben - und wenn doch, dann können Sie das bestimmt nicht ändern. Wenn ich jetzt da rein gehe und Astrid raushole, habe ich gewonnen und Sie auch. Wenn ich hier draußen bleibe und heute mit sterben dran bin, werde ich sinnlos von einem bescheuerten Höhlenmonster gefressen. Also - geben Sie mir schon das Seelenei und 'ne kurze Intro dazu! Ich bin ihre beste Chance."
Fiedler zögerte skeptisch, was Sina nutzte um sich einzumischen. "Vielleicht hat er da gar nicht so unrecht. Unser Herr Steinmeier hat jetzt schon mehrfach gezeigt, dass er sich vor den Blicken gefährlicher magischer Wesen erfolgreich verschleiern kann. Mit ein bisschen Glück gelingt es ihm völlig unbeschadet den Schwarm aus ... Finstervögeln ... zu durchschreiten, einfach weil der Schwarm nicht auf die Idee kommt, ihn anzugreifen. Ich verstehe, dass Sie den Seelenbehälter nicht aus der Hand geben wollen, insbesondere nach dem Wort, das Sie Giorgio gegeben haben, aber ich denke, Finns Vorschlag ist sehr im Sinne unserer Mission."
Eine subtile Härte klang in den letzten Worten mit, woraufhin sich Fiedlers Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpressten. Es vergingen einige schweigende Sekunden, bevor sich der Grenzdetektiv zu einer Reaktion entschlossen hatte. Entgegen Steinmeiers Erwarten adressierte er aber die immer noch abwartend am Boden vor ihnen ausharrende Ratte: "Gibt es einen Bereich im Inneren und jenseits des Schutzzaubers, in dem man sich als Grenzgänger gefahrlos aufhalten kann?"
Ohne Zögern klopfte der Schwanz drei mal auf den Boden.
"Ist der Brunnen für einen Menschen wie Herrn Steinmeier problemlos und ohne Hilfsmittel zugänglich - abgesehen vom Schutzzauber versteht sich?"
Drei weitere Schwanzschläge. Fiedler fragte weiter.
"Kann dort am Brunnen trotz des Schutzzaubers genug Licht existieren, das hell genug ist, damit ein Mensch wie Herr Steinmeier den Brunnen am Boden und die Hand vor Augen sehen kann?"
Ein Moment des Zögerns, dann dreimaliges Klopfen mit dem Rattenschwanz.
"Fliegen die Vögel der Schutzmagie blindlings gegen die Dinge in ihrer Umgebung? Gegen die Bänke zum Beispiel."
Ein wenig schien es Finn, als schnüffelte die Ratte kurz in die Richtung, in der ihr verletzter vergifteter Artgenosse davongekrochen war, dann klopfte ihr Schwanz auf den Boden und innerhalb eines gespannten Atemzuges folgte dem ersten kein zweiter Schlag. Nein also. Die Fragen waren gut gewesen, das musste er Fiedler lassen. Besonders an die Möglichkeit, dass die kleinen Monster ihn zwar ignorieren aber dennoch zerfleischen würden, hatte er nicht gedacht gehabt. Schlagartig wurde Steinmeier klar, wie viele Unwägbarkeiten sein Plan enthielt. Nur eine weitere bizarre Unmöglichkeit dieser unberechenbaren Welt musste eintreten und schon würde er von hunderten giftiger Klingen, Dornen, Schnäbel und was-nicht-noch-alles aufgeschlitzt werden. Grimmig schob er die Bedenken beiseite. Wenn die Grenze ihn umbringen wollte, würde sie das sowieso schaffen. Sollte sie das doch tun, wenn er etwas tat, das er für richtig hielt, das ihm seinen inneren Frieden wieder bringen würde. Was hatte der Theaterautor dem weisen alten Mann damals in den Mund gelegt, der in irgend einer Aufführung in seinen Armen 'gestorben' war? 'Wenn ich denn scheiden muss, so will ich es mit reinem Gewissen tun. Dann ist es gut.' Er sah Fiedler an. Für einen Moment fanden sich die Augen beider Männer und die Überkreuzung der zweifelnden Blicke war es, die das Zögern beendete. Fiedler griff in die Tasche seiner Lederjacke, in der zuvor die Seelenkapsel verschwunden war, und legte das schlanke ovale Gefäß nachdrücklich aber bedacht in Steinmeiers offen ausgestreckte Hand.

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