21. Eskalation (1)

Finn Steinmeier kroch zusammengekauert über den klammen Steinboden und hatte nicht den blassesten Schimmer wie er es anstellen sollte, die nächsten fünf Minuten zu überleben. Sein Herz klopfte von dem Sprint die Stufen aus dem Brunnenschacht hinauf, die Gewissheit des Jägers Samedi im Nacken. Eigentlich war er davon ausgegangen, dass der Dämon im Vogelschwarm das laute Pochen in seinen Ohren nicht hätte überhören können - Gabe hin oder her. Angstverkrampft und gehetzt war er unter den Klingen, Schnäbeln und Dornen der schwirrenden und flatternden Monstrositäten hindurch gekrochen. Diesmal waren ihm keine aufgetragenen und selbstherrlichen Gedanken an  "Schicksalsentscheidungen" zu Hilfe gekommen - die Begegnung mit dem Ghede hatte sie hinweg gewischt und nur noch blanke Panik hinterlassen.
Durch das eifrige Rauschen und Surren von tausend Finstervogelflügeln drangen menschliche Stimmen. Noch waren sie nicht zu verstehen, doch sein geübtes Schauspielerohr zweifelte stark daran, dass es sich nur um Fiedler und Sina handelte. Offenbar hatte sich dort draußen das Spielfeld verändert, seit er in die Unwirklichkeit des Brunnens eingetaucht war. Finn stutzte bei dem Gedanken und vermerkte still und selbstironisch, dass er wohl langsam dabei war, ein echter Grenzbewohner zu werden, wenn er eine von Dunkelheit erfüllte Kathedrale eines Totenkultes tief unter Durnburg als relative 'Wirklichkeit' anzunehmen vermochte. Dann folgte die Einsicht, dass die Ankunft eines gewissen wütenden und manifestierten Voodoo-Gottes das Spielfeld wahrscheinlich noch einmal ändern würde - und zwar nicht auf eine wünschenswerte oder lebensbejahende Art und Weise - und er erneuerte seine Anstrengungen, rascher voranzukriechen.
Keinen halben Meter weiter stieß er in der Dunkelheit auf etwas großes Weiches und Regloses, das von einer Lache warmer klebriger Flüssigkeit umgeben war. Entsetzt und mühsam jedes Geräusch unterdrückend (waren da noch Finstervögel über ihm?) zuckte Finn zurück. Es dauerte einen Moment, bis sein Kopf wieder in der Lage war, klare Gedanken zu fassen, doch auch nach möglichst rationaler Überlegung hatte sich das, was seine rechte Hand da berührt hatte, wie ein bekleideter menschlicher Körper angefühlt - und an seinem linken Arm klebte bis hinauf zum Ellenbogen etwas, das sich anfühlte und so roch wie gerinnenes Blut. Eine Leiche? Das Blut war noch warm gewesen. Vielleicht war die Person gar nicht tot sondern nur verletzt. Hatte sich nach ihm noch jemand in den Finstervogelschwarm gewagt? Bewegt hatte sich der Körper jedenfalls nicht. Würde das selbst bei einer Leiche so bleiben, wenn Samedi gleich hier durch käme?
Schaudernd wog Finn das Grauen vor ihm gegen das hinter ihm ab und der Ghede gewann den Vergleich. Eine Gewissheit musste sich Steinmeier aber noch verschaffen, bevor er sich anschicken konnte, das grausige Hindernis zu umgehen: Mit zittrigen Fingern holte er Fiedlers Taschenlampe aus seiner Jackentasche, schob gefasst alle Bedenken bezüglich Entdeckung durch die Finstervögel beiseite und schaltete sie an - Lampenöffnung und Reflektor wohlweislich mit der anderen Hand abgedeckt. Erst war gar nichts zu sehen und auch als Finn vorsichtig einen Spalt zwischen seinen Fingern öffnete, blinzelte nur ein trüber rötlicher Tentakel aus Licht hindurch. Es half nichts, er musste wohl näher heran. Vorsichtig robbte er weiter vor, stets im Bewusstsein, dass sich mit jedem Atemzug von hinten sein übernatürlicher Verfolger näherte. Draußen, unendlich weit außerhalb des Vogelschwarms, hielt eine Frauenstimme einen Monolog.  Endlich fand der Lichtschein der Taschenlampe eine Oberfläche, die er zumindest unzureichend ausleuchten konnte. Keinen halben Meter vor Finn kam eine in dunkelrotes mattes Leder gekleidete offensichtlich gepolsterte Schulterpartie zum Vorschein. Trotz der ersten Erleichterung, dass es sich bei dem leblosen Körper wohl eher nicht um Fiedler oder Sina handelte, tastete Steinmeier mit dem Lichtfinger nach oben, wo der Kopf zu erwarten war. Was er fand, waren Kopf und Gesicht einer jungen, im Normalfall wohl nicht unattraktiven dunkelblonden Frau, die allerdings aus einer fiesen Platzwunde an dem auf dem Boden liegenden Teil ihrer Stirn blutete und offensichtlich zumindest bewusstlos war.

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