21. Eskalation (8)

Finns Aufmerksamkeit war hin und her gerissen zwischen dem Geschehen am Bannkreis und dem jovialen Geschwätz seines unsterblichen Todfeindes in der Kirchenbank. Von Sinas Reaktion auf Unbehauns Anweisung wurde er daher völlig überrascht. Immer noch in ihrer stolzen aufrechten Haltung verharrend, wandte sie sich zu Victoria Thomas und neigte den Kopf ein wenig, bevor sie völlig entspannter und ruhiger Miene doch donnernd lauter Stimme Anweisungen von sich zu geben begann: “Fiedler! Die Seele darf nicht in die Hände von Unbehaun, Libra et Liber oder Mitternacht geraten! Alle weiteren Weisungen von Ebenezer Unbehaun oder mir sind nichtig im Sinne Ihres Vertrages! Unbehaun steht im Dunkel in Richtung…”
“Geist schweig still!” Unbehauns Stimme knisterte vor Wut, als er den Befehl brüllte und Sina verstummte gehorsam mitten im Satz.
Neben Steinmeier lachte leise der Ghede guttural vor sich hin, während in Finns Kopf erneut die Gedanken zu rasen begannen. Es ging um Astrids Seele. Astrids Tod war sein Verschulden gewesen und ihre Rettung hätte auch seine Rettung sein sollen. Unbehaun, Mitternacht und überhaupt all diesen Grenzergruppen war es aber nur an der Macht gelegen, die der Besitz von Astrids Seele scheinbar mit sich brachte. Von Astrids Wiederkehr oder überhaupt von der Person Astrid sprach keiner. Bis vor ein paar Momenten hatte es so ausgesehen, als müsste sein Vorhaben scheitern, Astrid aus dem Totenreich zu erlösen. Nun aber hatte Sinas Schachzug eine neue Möglichkeit, eine neue Partei in diesem Spiel erzeugt, die Astrid zumindest an zwei machtgierige Bünde nicht ausliefern durfte und der Finn zumindest mehr vertraute als allen anderen hier im Raum: Alexander Fiedler, Privatdetektiv und vielleicht Astrid Kirchners und Finn Steinmeiers letzte Hoffnung.
Jetzt musste Fiedler nur noch mit Astrids Seele hier lebend herauskommen. Ein heroischer aber eigentlich undenkbarer Plan begann in Finn Steinmeier zu reifen. Unsicher blickte er zu Fiedler an die andere Wand, auf den gerade die drei verbliebenen Handlanger von Victoria Thomas entschlossenen zustapften. Er konzentrierte sich ein bisschen. Nichts geschah. Er sah zum Ghede hinüber, der dem Geschehen am Bannkreis folgte, als wäre es ein Fussballspiel. Er konzentrierte sich noch einmal, diesmal aber so gut er konnte. Die Schläger von Mitternacht zögerten, hielten inne und sahen sich zu ihrer Chefin um, die sich mit ebenfalls leicht verunsichertem Gesichtsausdruck zu Sina zurückdrehte und wirkte, als hätte sie vergessen, was sie eigentlich tun wollte. Auch der mitten im Raum stehende Brack lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu den Schergen von Mitternacht.
Finns Plan konnte funktionieren - aber zu welchem Preis. Er zögerte -  unsicher, ob er den nötigen Mut aufbringen konnte, ob er alles auf eine Karte setzen durfte. Aus der Kirchenbank ein abfälliges Schnauben: “Es wird langsam langweilig, Finn. Was meinst du? Wollen wir zwei unser begonnenes Spielchen zu Ende bringen?”
Nervös, ängstlich und unschlüssig die Hände in den Jackentaschen vergrabend fanden Steinmeiers Finger etwas kühles, mechanisch Tickendes - die Seelenkapsel. Dann erklang plötzlich wieder Astrids Stimme in seinem Kopf. “Es wird geschehen, wenn du es so willst. Aber - bitte - tu es nur, wenn du es wirklich willst!”
Finn entschied und sein Entschluss stand fest. Mit fester Hand umfasste er die metallische Seelenkapsel, nahm sie aus seiner Tasche und entriegelte die beiden Hälften. Dann rannte er los.

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