21. Eskalation (4)

Dann war auf einen Schlag die Dunkelheit vor ihm wie weggeblasen. Ohne Vorwarnung oder Übergang sah Finn in ein von trübem aber ausreichendem Licht erhelltes hohes Gewölbe, in dem wie in einer Momentaufnahmen die Eindrücke mehrerer im Raum befindlicher Personen auf ihn einströmten. Unmittelbar in seinem Sichtfeld stand eine junge Frau mittlerer Größe, in dunkles, glattes Leder gekleidet, den Arm ausgestreckt mit einem gespannten, gefährlich wirkenden Bogen in der einen Hand, die andere Hand am schussbereit aufgelegten Pfeil. Ohne große Unsicherheit nahm Finn an, dass das Laurie Strance war, die gerade das Ziel 'Lukas Brack' suchte, um ihren Reichweitenvorteil zu nutzen.
Unmittelbar hinter ihr, nicht mehr als zwei Meter entfernt in Richtung des immer noch von pechschwarzer Dunkelheit umhüllten Finstervogelschwarmes stand ein massiv und kantig wirkender Typ, unter und über dessen weiten Mantel mehrere klobige Rüstungsteile zu erkennen waren und auf dessen Rücken eine leere Schwertscheide baumelte. Die dazugehörige Klinge befand sich in den Händen des Mannes, der sich gerade dazu anschickte, sie in Laurie Strances Rücken zu treiben. Sollte es sich hier um Lukas Brack handeln, war es einerseits nicht weit her mit deren Reichweitenvorteil und andererseits würde das Duell bald vorbei sein. Offensichtlich hatte Unbehaun die Konditionen von Mitternacht nicht unüberlegt angenommen.
Die weiteren Personen im Raum - eine merkwürdige Frau mit weit geschnittenem Anzug und Regenschirm sowie drei Gestalten tiefer im Raum registrierte Finn nur nebensächlich. Sein Blick fand die Silhouette von Fiedler an die ihm gegenüberliegende Wand gepresst, doch wo er auch hinschaute, war keine Spur von Sina zu erkennen, zumindest nicht in der gewohnten Gestalt. Hatte sich die Beschworene wieder in einen Vogel, eine Fledermaus oder was auch immer verwandelt? Wieso ließ sie Fiedler so eindeutig im Stich?

Finns Gedanken beanspruchten Zeit, in der sich die Kampfszene wie in Zeitlupe vor seinen Augen entwickelte. Auf Bracks Gesicht lag ein merkwürdig widerwilliger Gesichtsausdruck, während sich seine Klinge rasch und unaufhaltsam dem Schwerpunkt der Bogenschützin näherte. Diese hatte den Hinterhalt wohl irgendwie bemerkt, denn sie begann sich umzudrehen. Es waren zwei Dinge, mit denen sie Finn dabei völlig verblüffte: Zum einen riss sie den Bogen mit unglaublicher, geradezu übermenschlicher Geschwindigkeit und Koordination herum und zum anderen war ihr nicht unattraktives von dunkelblonden Haaren umrahmtes Gesicht exakt das des leblosen Körpers am Boden des nächsten Querganges.
Immer noch in seiner Zuschauerrolle gefangen, wog Finn die Möglichkeiten ab. Ein Zwilling, dazu noch gleich gekleidet? Viel zu banal. Dem üblichen Wahnsinn dieser Grenzgängerwelt entsprach eher ein Agent einer weiteren Partei, der sich als Gestaltwandler in die Reihen von Mitternacht geschlichen hatte. Was auch immer, die Szene entwickelte sich vor seinen Augen weiter. Der Pfeil löste sich von der Sehne und durchbohrte auf kurze Entfernung Rüstung und Schulter des Schwertkämpfers, der sich überrumpelt und ungelenk wegzudrehen versuchte. Gleichzeitig stieß Bracks Schwert unbeirrt von der Gegenattacke in die Flanke der Bogenschützin.
Mit dem Abklingen der ersten Welle von Adrenalin beschleunigte das Geschehen vor Steinmeiers Augen wieder das wahrgenommene Tempo. Blut spritzte, als die Pfeilspitze hinten aus Bracks Rücken austrat. Der kräftige Mann unterdrückte einen Schmerzenslaut, wohingegen sein Gegenüber keinerlei Anzeichen erkennen ließ, dass ihr die Wunde nennenswert Schmerzen oder Schaden zugefügt hatte. Insbesondere war nirgendwo auch nur eine Spur von Blut zu erkennen. Ohne Innehalten schnellte ihre Hand nach hinten und griff nach einem weiteren Pfeil ungeachtet Bracks Schwert, das immer noch in ihrer Flanke steckte. Beide Hände fest um den Griff der Klinge gekrallt setzte der Schwertkämpfer seiner Gegnerin nach und trieb mit Wucht die Waffe tiefer in deren Körper. Sein Mund formulierte einen Schrei aus drei Worten "Geist! Kontakt! Jetzt!"

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