21. Eskalation (3)

"Sie Bücherwurm! Was wollen Sie denn tun? Gewaltsam debattieren?" Die Frauenstimme vibrierte vor unverhohlener Wut und Verachtung.
Dementgegen war keinerlei Emotion in der nüchternen Antwort der Männerstimme zu bemerken - allenfalls eine Spur Arroganz. "Mäßigen Sie sich, Frau Victoria Thomas und hören Sie mir zu, bevor Sie einen fatalen Fehler für Sie und Ihren Bund begehen. Ich biete Ihnen etwas an, um unnötiges Blutvergießen und drakonische Strafen wegen Bruch des Paktes zu vermeiden, die auch unschuldige Mitglieder von Mitternacht treffen würden: Der Pakt sieht vor, dass zwei Parteien zur Klärung einer konkreten Streitigkeit jeweils einen Vertreter benennen können, der sich mit dem jeweiligen anderen Vertreter im blutigen Kampf misst. Der Ausgang dieser gewaltsamen Auseinandersetzung ist bindend für den Ausgang des übergeordneten Streites. Kennen Sie diesen Teil des Kodex oder haben Sie das Konzept zumindest verstanden? Die Konditionen sind wie folgt: Gekämpft wird bis zum ersten Blut. Die unterlegene Partei verpflichtet sich, der überlegenen Partei nach deren Belieben Zugang und Umgang mit Astrid Kirchners Seele in jedweder Form zu erlauben und freies Geleit zu gewähren. Alle weiteren Diskussionen um Ansprüche und Rechtmäßigkeit werden vor dem Rat erfolgen."
Am relativ besonnenen Klang der Stimme von Frau Victoria Thomas, benannte Agentin von Mitternacht, war zu erkennen, dass deren Besitzerin dem Angebot nicht notwendigerweise abgeneigt war. "Ein Stellvertreterduell. Die Regelung ist mir selbstverständlich bekannt, Herr Unbehaun." Einmal mehr war eine nicht ausgesprochene Wahrheit klar durch die fadenscheinige Lüge erkennbar. "Ich war allerdings nicht davon ausgegangen, dass Sie einen Ihrer Schreibtischtäter für eine dermaßen blutige Kapitulation opfern würden. Wenn Sie mich fragen, war mein Vorschlag gnädiger - aber Sie sollen Ihren Willen haben. Zwei weitere Bedingungen habe ich allerdings: Erstens sorgen Sie dafür, dass sich beide Duellanten von Beginn des Duells an sehen können und zweitens beginnen beide den Kampf genau dort, wo Sie jetzt gerade stehen. Für Mitternacht kämpft Laurie Strance. Einverstanden?"
Wieder einmal Grenzpolitik und Blutgerede. Finn schüttelte sich. Bei der Nennung des Namens 'Unbehaun' beschlich ihn aber das Gefühl, dass ihm dieser Name eigentlich etwas sagen sollte, es aber nicht tat. Wie dem auch immer sei, bahnte sich hier allem Anschein nach eine Kampfhandlung zwischen zwei verfeindeten Gruppen an und es würde ihm sicher nicht gut bekommen, wenn er jetzt in die Sache hineinstolperte. Andererseits würde jeden Moment Samedi Teil der Szene werden. Irgendwie gönnte er es ihnen auch, wenn er sich überlegte, mit welcher Beliebigkeit und Achtlosigkeit hier alle über das Juwel sprachen, das Astrids Seele war! Wenn nur endlich der Schmerz und die Starre in seinem Arm aufhören würden!
Wahrscheinlich in Unkenntnis dieses drohenden Unheils antwortete der als 'Unbehaun' Angesprochene mit kurzer Verzögerung sachlich und entschlossen. "Ich nehme Ihre Bedingungen an. Für Libra et Liber benenne ich Lukas Brack als Vertreter im Sinne dieses Duells. Der Kampf beginnt, sobald ich für eine klare Sichtlinie zwischen den Kämpfern gesorgt habe. Keiner der Kämpfer wird bis dahin seine Position verändern."

Finn war kein Freund von Kämpfen und den Winkelzügen der Grenze, aber bei all dem Gerede von Sichtlinien und Positionen drängte sich sogar ihm der Gedanke auf, dass die eine Mitternachtstussi ihre Bedingungen gestellt hatte, weil die andere Mitternachtstussi wohl mit einer Fernwaffe kämpfte. Entweder hatte dieser Unbehaun also keine Ahnung von Taktik oder ebenfalls einen Fernkämpfer benannt. Was sollte das werden? Etwa 'High Noon zwanzigtausend Meilen unter Durnburg'? Wenigstens würde die Sache damit schnell ablaufen und er konnte dann mit Hilfe seiner Gabe rasch im Chaos verschwinden - hey, vielleicht lenkte die ganze streitsüchtige Meute Samedi so lange ab, bis er genug Abstand zwischen sich und ihn gebracht hatte!

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