23. Auf ein Wort (3)

Die Frage hatte Fiedler verfolgt, als er aus der Unterstadt, Treppen und Rampen hinauf, immer den beiden trippelnden Ratten hinterher bis hinaus in die wolkenverhangene Durnburger Nacht gestapft war. Wer oder was war denn eigentlich der “Gegner”, den es zu bezwingen, umgehen oder überlisten galt? Die machtgierigen Opportunisten von Mitternacht stellten sicher nicht das eigentliche Problem dar, so sehr sich Victoria Thomas auch Mühe gab, bedrohlich, informiert und mächtig zu wirken. Ebenso waren die durch Unbehaun vertretenen Gelehrten von “Libra et Liber” allenfalls ein wehrhaftes aber verzweifeltes Opfer einer Intrige. Brack und seine Verfolgertruppe hatten sich als getreue Schergen von Unbehaun erwiesen und schieden somit erwartungsgemäß als eigenständige und treibende Fraktion aus. Unter den offen sichtbaren Akteuren blieb also nur noch Sina als “Verdächtige” übrig. Seine gutaussehende und mysteriöse Auftraggeberin war allem Anschein nach der “Stein des Anstoßes” und die Wurzel all seiner Probleme. Diese Feststellung verleitete Fiedler hinter seinem Zigarillo zu seinem schiefsten und breitesten sarkastischen Grinsen, als er neben dem anregend herben Rauch die nahezu vollständige Erfüllung eines tief verinnerlichten Klischees seiner geliebten Detektivgeschichten genoss.
Allzu lange ließen sein Verstand und seine Erfahrung allerdings nicht zu, dass er sich auf dieser naheliegenden Erkenntnis ausruhte. In allen ihm bekannten Fällen, in denen eine Beschworene vom Schlage Sinas die “Wurzel des Übels” - oder treffender “des Pudels Kern”  - für eine Verschwörung oder Intrige darstellte, ging es um wesentlich ganz andere Hintergründe als ein totes Medium oder den Zugang zu einem schicksalskräftigen Orakel. Ein Geist wie Sina hatte andere Möglichkeiten, mit Wesen wie dem Orakel in Kontakt zu treten - und warum sollte sie das überhaupt tun? Wo lag Sinas Motivation?
Laut Sinas eigenen Worten lag die Sache ganz klar: In dem kleinen Nachspiel der Ereignisse am Brunnen, dessen Zeuge Fiedler geworden war, hatte sie gegenüber Samedi behauptet, sie wäre in dem Bannkreis gefangen, so lange ihr Beschwörer sie nicht entließ. Demnach gab es also einen Beschwörer, nach dessen Pfeife sie tanzen musste - und nach dessen Pfeife sie alle anderen tanzen ließ. Blieb noch die Frage, ob sie dem Baron gegenüber nicht ebenfalls falsches Spiel trieb? Grund genug schien sie zu haben.
Dennoch hatte Fiedler beschlossen, auf der Annahme aufzubauen, dass Sina in diesem Spiel in erster Linie die Spielfigur eines bislang unbekannten Beschwörers darstellte. Doch was wusste er über diesen mysteriösen Unbekannten? Recht wenig - aber vielleicht genug:
Wer einen Geist von Sinas Art und Macht beschwören und halten konnte, war wahrscheinlich weder neu noch unbekannt an der Grenze. Er suchte also nach einem “alten Hasen”, was Magie und Beschwörungen anging.
Den Auftrag, die Kirchner zurückzuholen hatte Unbehaun vom Durnburger Rat selbst bekommen und wahrscheinlich zeitnah in die Tat umgesetzt - so lange Fiedler ihn kannte, war es nicht seine Art gewesen, lange zu fackeln. Um so schnell zu reagieren, wie er es getan hatte, musste Beschwörer in etwa zum selben Zeitpunkt von Unbehauns Auftrag erfahren haben, wie dieser. Da solche Beschlüsse des Rates aber nicht öffentlich waren, lag es nahe, dass der Beschwörer entweder selbst zum Rat gehörte oder aber direkt mit dem Rat verbunden war.
Irgendwie hatte Sina es geschafft, dass Griselda von Radewitz sie als Unbehauns Vertreterin gemäß Brief und Vertrag zu bestätigen. Da Fiedler Sina keine dermaßen starke Täuschungsmacht zutraute, hatte also ihr Beschwörer entweder eine Schwachstelle in Griseldas Gabe gekannt oder sie auf irgendeine Art und Weise beeinflusst. Für beides war eine intime Kenntnis und persönliche Beziehung zur Freifrau von Radewitz hilfreich bis notwendig.

Den ganzen Weg vom Brunnen bis zur Oberfläche hatte in Fiedlers Kopf die detektivische Maschinerie von Schlussfolgerung, Beobachtung und Intuition gearbeitet. Die Liste der ihm bekannten Verdächtigen, die alle Kriterien erfüllten war recht kurz - leider, denn der einzige Name darauf gehörte einer der mächtigsten und gefährlichsten Personen der Durnburger Grenze. Dann war ihm eine Eingebung gekommen, wie er an diesen Strippenzieher herankommen konnte, ohne sich oder/und Sina/Unbehaun als seine/n Auftraggeber in allzu offensichtliche Gefahr zu bringen.

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