22. Resolution (2)

Als seine Blicke zu den drei ursprünglichen Aggressoren zurückkehrten, hatten sich die Mitternachtsschläger gänzlich von ihm abgewandt und schienen sich mehr auf Brack und Sina als mögliche Bedrohungen zu konzentrieren. Auch Brack und Victoria Thomas hatten offenbar das Interesse an Fiedler verloren und ihren Fokus auf die immer noch stur und stolz dastehende Sina verschoben. Entweder hatte er etwas verpasst oder…

Fiedler hätte sich ob seiner Begriffsstutzigkeit am liebsten geohrfeigt. Steinmeier! Das musste das Werk seiner Gabe sein. War es ihm nicht vorher auf der Neuen Schlosserbrücke auch gelungen, Fiedler in seiner Aura der abgewiesenen Aufmerksamkeit verschwinden zu lassen? Offenbar verbarg sich der Neu-Grenzer irgendwo im Raum - wahrscheinlich in der verbleibenden dunklen Wolke in der Nähe des Seelenbrunnens - und hatte ihm diesen Vorteil der relativen Unsichtbarkeit verschafft. Respekt, das war ein taktisch kluger Schritt, den er dem Ex-Schauspieler gar nicht zugetraut hätte. Wenn er so weitermachte…

In diesem Moment brach aus der schwarzen Wand aus Finsternis, die den Brunnen immer noch umgab, ein schreiender Finn Steinmeier in vollem Lauf hervor, wild mit den Händen gestikulierend, in denen er Giorgios Seelenkapsel hielt. Atem- und fassungslos starrte ihm Fiedler entgegen, als sich die Dunkelheit hinter Steinmeier noch einmal auftat und einen offensichtlich erbosten Baron Samedi ausspie. Der Ghede bewegte sich entschlossen und mit gemessenen aber weit ausgreifenden Schritten, von denen jeder ungeachtet der Gesetze von Zeit und Raum die zwei- bis dreifache Strecke zurücklegte, die Steinmeier in der gleichen Zeit im vollen Spurt bewältigen konnte. Immer noch überrannt von der bizarren und rapiden Entwicklung der Situation rang Fiedler um eine geeignete Reaktionsmöglichkeit. Auch Brack und die Leute von Mitternacht schienen zumindest den wütenden Loa zu bemerken, denn ob sie ihn nun als den erkannten, der er war oder nicht, prallten sie zurück und versuchten, dieser neuen, schwer kalkulierbaren Bedrohung tunlichst aus dem Weg zu gehen.

Steinmeier schaffte es gerade einmal bis zur Mitte des Raumes, bis Samedi ihn eingeholt hatte. Wie ein gnadenloser schwarzer Haken aus Ebenholz packte Samedis Linke Steinmeiers Hals und holte den scheinbar panisch fliehenden ruckartig von den Beinen. Dabei gelang es diesem aber irgendwie noch, das verbleibende Momentum seiner Flucht nutzend die Seelenkapsel in Fiedlers Richtung zu werfen. Dann hatte der Loa den viel kleiner wirkenden Finn Steinmeier zu sich herangerissen. Er sagte etwas und lachte anzüglich. Von seinem Standpunkt konnte Fiedler Steinmeiers Reaktion nicht erkennen. In jedem Fall wich die Erheiterung rasch aus der Miene des Barons und er griff mit der rechten nach oben, wo unerklärlicherweise mit einem Mal ein Seil mit einer Henkersschlaufe hing. Ohnmächtig einzugreifen sah der Detektiv zu, wie Samedi mühelos Finn hochhob und mit einigen knappen Worten am Hals in die Schlaufe aufhängte. Just in diesem Moment stieß etwas gegen Fiedlers Fuß. Reflexartig nach unten blickend erkannte er, dass die Seelenkapsel unmittelbar vor ihm zum Liegen gekommen war. Als er wieder aufsah, baumelte Finns Körper leblos am Henkersseil. Der Loa war einen Schritt zurück getreten und betrachtete unzufrieden abwartend sein Werk. Ohne es zugeben zu wollen, war Fiedler ein wenig dankbar, dass der Loa Steinmeier wenigstens einen raschen Tod zugedacht hatte - aber was war das schon im Vergleich zu den Dingen, die er ihm nach seinem Ableben würde zufügen können.

Vor seinen Füßen erklang ein sattes mechanisches Schnappen, als sich die Seelenkapsel hinter einer soeben eingefangenen Seele schloss.

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