Fiedler
verdrehte die Augen. “Wenn eine der involvierten Parteien bei so einer
Sache in die Zukunft sehen kann, dann kennt sie die möglichen Enden der
Geschichte schon von vorneherein. Ist sie zudem noch in der Position,
das Ergebnis zu beeinflussen, wird am Schluss nichts herauskommen, das
ihr nicht möglichst gut passt, oder? Ich will jetzt gar nicht so weit
gehen und überlegen, ob nicht alles von vorneherein vom Orakel geplant
und beeinflusst war: Die ganze Geschichte mit dem Klassentreffen vor ein
paar Jahren, dem Tod der Kirchner und deren Rettungsaktion - vielleicht
sogar diese Unterhaltung hier zwischen uns beiden. Das einzige, wovon
ich fest ausgehe ist, dass die Situation mit Kirchner und Steinmeier in
der Seelenkapsel mit Sicherheit im Sinne des Orakels ist. Überleg mal,
wir sprechen von einer mächtigen Kreatur, einer vergessenen Gottheit,
die seit langer langer Zeit keine Anhänger und keinen Einfluss mehr in
dieser Welt hatte. Seit letzter Woche allerdings hat sie hier eine
Gesandte, die nach ihrem Belieben Weissagungen verbreiten kann - oder
aber abtauchen, wenn Steinmeier sie verhüllt. Das klingt doch nach einem
guten Versuch, in unserer Welt Fuß zu fassen, oder?”
Offenbar
hatte Brack verstanden, denn sein Gesicht war nüchtern und ernst. “Trau
keinem Geist und keinem Götzen. Du hast die Kapsel dem Rat übergeben?
Das war dann wohl auch im Sinne des Orakels.”
Fiedler
nickte. “Die Entscheidung war schwierig. Einerseits ist das Ding durch
seine beiden Insassen und ihren Verbindungen zu einem ziemlich mächtigen
Artefakt geworden, das Menschen und Gruppen nach eigenem Interesse und
Plan manipulieren kann - auch langfristig. Im Grunde gehört die Kapsel
gesichert oder vernichtet. Andererseits sind die beiden Seelen darin
denkende und fühlende Wesen und ich fühle mich ehrlich gesagt zumindest
teilweise verantwortlich für Steinmeiers Zustand. Es wäre unmenschlich,
sie zu vernichten oder zu isolieren. Der Rat hat mir unter anderem
zugesagt, beides nicht zu tun und ist sich gleichzeitig des Risikos
durch das Orakel bewusst … und am Ende…”
“Am Ende was?”
“Am
Ende, Brack, sind all die intriganten Politiker, nach deren Pfeife du
nicht mehr tanzen möchtest, selbst nichts anderes als Figuren in einem
größeren Spiel, das von noch mächtigeren Wesen gespielt wird.”
Brack
wollte etwas entgegnen, schloss aber stumm seinen zur Antwort bereits
geöffneten Mund. Gelassen lehnte sich Fiedler nach vorne über das
Geländer der Neuen Schlosserbrücke. “Sieh es positiv, alter Freund. Wir
beide haben diesen Spielzug überlebt. Soweit ich es sehen kann, hat sich
keiner von uns beiden verraten, und wir stehen jetzt am Ende des Zuges
nicht schlechter da als zuvor. Die Dinge haben sich verändert und sind
doch gleich geblieben. Alles was geschieht ist doch nichts weiter als
ein weiterer Tropfen im Strom des Schicksals.”
Gedankenverloren
spitzte er die Lippen, spuckte aus und wortlos sahen die beiden
Grenzgänger dem fallenden Speicheltropfen nach, bis dieser mit unhörbar
leisem Klatschen in den grauen Wassermassen des Flusses vergangen war.
1 Kommentar:
Wenn auch mit leichter Verspätung: Vorhang, Moment des andächtigen Schweigens, dann tosender Applaus! Vielen Dank für eine wunderschöne Geschichte!
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