24. Auf ein Andermal (9)

Fiedler verdrehte die Augen. “Wenn eine der involvierten Parteien bei so einer Sache in die Zukunft sehen kann, dann kennt sie die möglichen Enden der Geschichte schon von vorneherein. Ist sie zudem noch in der Position, das Ergebnis zu beeinflussen, wird am Schluss nichts herauskommen, das ihr nicht möglichst gut passt, oder? Ich will jetzt gar nicht so weit gehen und überlegen, ob nicht alles von vorneherein vom Orakel geplant und beeinflusst war: Die ganze Geschichte mit dem Klassentreffen vor ein paar Jahren, dem Tod der Kirchner und deren Rettungsaktion - vielleicht sogar diese Unterhaltung hier zwischen uns beiden. Das einzige, wovon ich fest ausgehe ist, dass die Situation mit Kirchner und Steinmeier in der Seelenkapsel mit Sicherheit im Sinne des Orakels ist. Überleg mal, wir sprechen von einer mächtigen Kreatur, einer vergessenen Gottheit, die seit langer langer Zeit keine Anhänger und keinen Einfluss mehr in dieser Welt hatte. Seit letzter Woche allerdings hat sie hier eine Gesandte, die nach ihrem Belieben Weissagungen verbreiten kann - oder aber abtauchen, wenn Steinmeier sie verhüllt. Das klingt doch nach einem guten Versuch, in unserer Welt Fuß zu fassen, oder?”
Offenbar hatte Brack verstanden, denn sein Gesicht war nüchtern und ernst. “Trau keinem Geist und keinem Götzen. Du hast die Kapsel dem Rat übergeben? Das war dann wohl auch im Sinne des Orakels.”
Fiedler nickte. “Die Entscheidung war schwierig. Einerseits ist das Ding durch seine beiden Insassen und ihren Verbindungen zu einem ziemlich mächtigen Artefakt geworden, das Menschen und Gruppen nach eigenem Interesse und Plan manipulieren kann - auch langfristig. Im Grunde gehört die Kapsel gesichert oder vernichtet. Andererseits sind die beiden Seelen darin denkende und fühlende Wesen und ich fühle mich ehrlich gesagt zumindest teilweise verantwortlich für Steinmeiers Zustand. Es wäre unmenschlich, sie zu vernichten oder zu isolieren. Der Rat hat mir unter anderem zugesagt, beides nicht zu tun und ist sich gleichzeitig des Risikos durch das Orakel bewusst … und am Ende…”
“Am Ende was?”
“Am Ende, Brack, sind all die intriganten Politiker, nach deren Pfeife du nicht mehr tanzen möchtest, selbst nichts anderes als Figuren in einem größeren Spiel, das von noch mächtigeren Wesen gespielt wird.”
Brack wollte etwas entgegnen, schloss aber stumm seinen zur Antwort bereits geöffneten Mund. Gelassen lehnte sich Fiedler nach vorne über das Geländer der Neuen Schlosserbrücke. “Sieh es positiv, alter Freund. Wir beide haben diesen Spielzug überlebt. Soweit ich es sehen kann, hat sich keiner von uns beiden verraten, und wir stehen jetzt am Ende des Zuges nicht schlechter da als zuvor. Die Dinge haben sich verändert und sind doch gleich geblieben. Alles was geschieht ist doch nichts weiter als ein weiterer Tropfen im Strom des Schicksals.”
Gedankenverloren spitzte er die Lippen, spuckte aus und wortlos sahen die beiden Grenzgänger dem fallenden Speicheltropfen nach, bis dieser mit unhörbar leisem Klatschen in den grauen Wassermassen des Flusses vergangen war.

1 Kommentar:

Stefan hat gesagt…

Wenn auch mit leichter Verspätung: Vorhang, Moment des andächtigen Schweigens, dann tosender Applaus! Vielen Dank für eine wunderschöne Geschichte!