1. Von der Brücke in den Fluss (2)


Der Schleier, das Kainsmal all derjenigen Personen, Wesen, Dinge und Ereignisse, die zu einem Teil jener paranormalen Schattenwelt geworden waren, die sich als "Grenzland" oder einfach nur "die Grenze" bezeichnete. Wer sich einmal "hinter dem Schleier" befand - also nicht auf der Seite der normalen Welt - weil er sich nicht an deren engstirnige Regeln und Naturgesetze gehalten hatte, der wurde fortan von der normalen Welt und deren Einwohnern mit Missachtung gestraft. Bekannte ignorierten einen Grenzbewohner auf einmal, Freunde erkannten ihn vielleicht erst nach gutem Zureden wieder und sogar enge Verwandte mussten kurz grübeln, bevor sie einem Gesicht wieder einen Namen und eine Geschichte zuordnen konnten. Damit aber nicht genug ging der Effekt des Schleiers weit über einfache psychologische Auswirkungen hinaus: Kreditkarten, Bankkonten, Mitgliedschaften, Verträge - all das verlor für einen Menschen hinter dem Schleier jegliche Gültigkeit, wenn die normale Welt ihn aus ihrem System verdrängen wollte. Ein Grenzgänger zu sein bedeutete, von der Normalität und der Gesellschaft ausgestoßen zu werden.

Finns Karriere als Ausgestoßener hatte einen ziemlich steilen Verlauf genommen - in Abwärtsrichtung. Während er als Schauspieler in ein paar Fernsehserien und -filmen früher doch ein gewisses Maß an Bekanntheit und Prominenz genossen hatte, hatte sich all das nach seinem Eintritt in die Halbwelt der Grenze aufgelöst wie (Finn sinnierte kurz über einen passenden Vergleich) ... ein Tropfen Spucke in einem Fluss. Niemand kannte ihn mehr, niemand konnte sich mehr an irgendwelche Filme oder Sendungen mit ihm erinnern und an ein neues Engagement brauchte er gar nicht mehr erst zu denken - sein Agent vergaß ihn jedesmal aufs Neue, sobald er dessen Büro verlassen hatte. Damit nicht genug: bei erneuter Durchsicht seiner Filme - mit einer Flasche billigem Wein und Gedanken an die gute alte Zeit - war ihm aufgefallen, dass sogar die Szenen mit ihm irgendwie kürzer und unwichtiger für die Handlung geworden waren!

Allerdings war seine ausgelöschte Popularität zunächst sein geringstes Problem gewesen, da er erst einmal genug damit zu tun gehabt hatte, den plötzlich problematisch gewordenen Alltag zu meistern. Wer kommt schon darauf, dass man sich regelmäßig bei seinem Vermieter ins Gedächtnis rufen muss, um nicht bald feststellen zu dürfen, dass neue Mietinteressenten durch die vermeintlich leerstehenden Wohnung geführt werden wollen? Was tut man, wenn man sich nicht sicher sein kann, dass seine Bankkonten, Versicherungen am Tag darauf noch existieren oder "jemals existiert haben"? Nicht zuletzt: Woher kriegt man Geld für das tägliche Überleben, wenn weder Arbeit noch der sichere Sturz ins soziale Netz möglich ist?

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