13. Vox Solis (3)

Was, wenn das alles doch keine Halluzination war? Finn rang mit sich und fasste Mut zu einer Antwort. "Astrid, ich ... dein Tod war meine Schuld. Ich hätte dich nicht auf das Treffen mitschleppen dürfen! Ich hätte dich nie diese dämliche Séance machen lassen dürfen! Ich hätte dich nicht sterben lassen dürfen ... und ich hätte dich nie vergessen dürfen! Ich glaube nicht, dass du mir verzeihen kannst - aber ich will meine Entschuldigung wenigstens vorgebracht haben." So. Jetzt war es raus.

Als die Antwort kam, entsprang Astrids Stimme nicht mehr der unergründlichen Mitte des Raumes sondern war ganz nah, als wäre ihr Gesicht unsichtbar nur eine Handbreit von Finns Lippen entfernt. Unwillkürlich streckte Steinmeier seine Hand aus um sicherzustellen, dass sie nicht unsichtbar doch greifbar vor ihm im Raum stand, aber er fasste ins Leere. In weichem, beinahe zärtlichem Ton entgegnete sie: "Finn. Törichter, mutiger Finn. An meinem Tod hast du keine Schuld. Dass ich dich begleitet habe, dass ich die Séance begann - das alles war meine eigene Entscheidung. Dein Vergessen, als sich der Schleier über dich senkte, ist dir so wenig anzulasten wie der Sonnenaufgang jeden Morgen. Wir alle sind sterblich und müssen irgendwann gehen. Meine Zeit war gekommen und ich musste an diesem Tag sterben. Damals wusste ich es noch nicht, aber heute ist mir klar, dass es unumgänglich war. Ich habe dir nichts zu verzeihen - also verzeih dir selbst! Verzeih dir, dass du dich auf mich und die Séance eingelassen hast! Verzeih dir, dass du wie jeder andere Mensch der normalen Welt vom Schleier überwältigt wurdest und alles um mich vergessen hast! Und verzeih dir, dass du deinen Gefühlen und deinem Gewissen gefolgt bist und dich für die Grenze entschieden hast! Wenn du verziehen hast, lass dich auf die Grenzwelt ein, denn sie ist nun deine Welt."

"Aber wir holen dich zurück! Fiedler hat irgendeinen Plan und Sina passt auf, dass der auch funktioniert - und dann bist du wieder lebendig." Finns Stimme quoll über vor Verwirrung, Begeisterung und Zweifel. "Wir wollten schon bis in die Ödnis gehen, um dich zu holen. Aber jetzt wo du hier bist, bleib einfach bei mir und die beiden finden uns und helfen uns zurück ins Leben!"

"So einfach ist das nicht, Finn." Astrid klang nun eher betrübt. "Ich bin dir nicht so nah wie du glaubst. Ja, ich kann die Ödnis verlassen, aber eure Welt vermag ich nicht zu betreten - zumindest nicht aus eigener Kraft." Sie zögerte und fuhr mit noch mehr Besorgnis in der Stimme fort: "Leider weiß ich auch, dass euch das nicht davon abhalten wird, mich zu suchen - und wenn ihr es nicht tut, werden andere kommen."

"Was soll das heißen? Willst du lieber ... tot bleiben? Wieso sollte jemand außer uns dich zurückholen wollen? Ich verstehe nicht..." Steinmeier war völlig aus der Fassung.

"Es wäre nicht klug, dir jetzt alles zu erklären. Außerdem wird unsere Zeit hier knapp. Es gibt einige mächtige Leute in Durnburg und bald auch darüber hinaus, die mich gerne zurückholen wollen. Irgendjemandem wird es wohl gelingen und ich würde es vorziehen, wenn ihr das wärt. Ich kann dir aber nicht verdenken, wenn du es nicht tun willst, denn mindestens einer von euch wird bei dem Unterfangen sein Leben lassen. Endgültig." Astrids Tonfall blieb sorgenvoll, wurde aber eindringlicher.

"Und... und... warum weißt du das so genau?" Finn zog die Stirn kraus.


"Ich weiß es, weil das Orakel es weiß. Aber es ist nicht sicher, ob es genau so geschehen wird. Als ich starb, wurde ein Teil von mir zum Teil des Orakels und ich bin seither die einzige Stimme im Chor der wispernden Seelen derer, die vor mir dem Orakel Opfer geworden sind. Ich habe Teil an ihrem Wissen über die mögliche Zukunft."

Irritiert blickte Steinmeier einer summenden Schmeißfliege nach, die gerade eben mit nur wenigen Zentimetern Abstand sein Gesicht passiert hatte. Den letzten Teil von Astrids körperloser Rede ignorierend gelang es ihm aber wieder, in der Konversation Fuß zu fassen. "Und das Orakel weiß, dass jemand von uns sterben wird, wenn wir dich wiederholen? Aber nur möglicherweise und ganz sicher ist es nicht? Das klingt nicht besonders überraschend, finde ich." Vielleicht war das doch alles nur Einbildung und er führte hier nur ein eingebildetes Zwiegespräch mit seinem Unterbewusstsein. "Hat das Orakel auch einen Hinweis, wie wir dich am leichtesten finden können?"

In Astrids Stimme war keine Entnervtheit zu erkennen - nur Bedauern. "Ich hatte befürchtet, dass du so etwas fragst. Es gibt einen Ort in der Durnburger Unterstadt, einen Seelenbrunnen, an dem ein Übergang zwischen Dies- und Jenseits möglich ist. Dort werde ich deinen Ruf hören. Den Schritt ins Reich der Lebenden kann ich dennoch aus eigener Kraft nicht tun - doch ich werde jede helfende Hand deinerseits annehmen. Am besten ist es, wenn ihr den Weg zum Seelenbrunnen selbst sucht. Lasst ihr die Ratten euch dorthin führen, zahlt ihr einen hohen Preis."

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