13. Vox Solis (1)

Die Welt um Finn Steinmeier flimmerte im unruhig matten Grau eines alten Röhrenfernsehers ohne Empfang. Völlig überwältigt von den Geschehnissen der letzten Momente und zutiefst widerwillig, diese zu begreifen, kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf - doch vergebens: Ungefragt und ununterdrückbar quollen und sprudelten Bilder aus seiner Erinnerung an die Oberfläche und überfluteten seinen Geist.

Zunächst ein Anflug von Panik und Urangst davor, mit der monströsen Roboterschabe in einem engen dunklen Raum eingeschlossen zu sein. Dann der Sturz auf den Kabinenboden neben Fiedler, als die erste Erschütterung den Lift getroffen hatte, der Schmerz an Kinn, Zunge und Lippe, der aufwallende Ärger, schließlich die Überwindung, der Fokus auf die "Handlung" der Szene, die einsetzende Erleichterung, die mit der körperlichen Bewegung einherging.

Auf einmal war da die Präsenz einer Vielzahl spirrig dünner, metallen kalter und unglaublich flinker Spinnen... nein, Schabenbeine gewesen, die mit erschreckender Geschwindigkeit und Kraft die Finger seiner Linken auseinanderspreizten und etwas glattes kaltes Rundliches in seine Hand pressten, in etwa so wie ein Parasit ein Ei in dessen Wirtskörper legt.

Für einen Moment hatte er mit der abstoßenden Assoziation und dem aufbrandenden Ekelgefühl gerungen, bevor er sich überwinden konnte das Objekt zu behalten, während er sich hochdrückte und mit der leeren Hand einen ertasteten Griff fasste. Fiedlers eindringlich durch die Dunkelheit klingende Frage machte ihm noch einmal bewusst, wie wichtig das Ding dem ansonsten so betont gelassenen Klischeedetektiv war. Als "Seelenkapsel" hatte er es bezeichnet - irgendwie klang das nach einer Art Rettungsboot für im Jenseits Gestrandete. Gestrandete wie Astrid...

Die linke Hand mit weiß hervortretenden Knöcheln um das schlanke ovale Gefäß geschlossen, aus dessen Inneren ruhig tickende Vibrationen zu fühlen waren, war er da gestanden, den Rücken an die muffige Kabinenwand gelehnt und hatte Sinas Verlust jedes Anscheins von Menschlichkeit und Fiedlers unbeholfene Kletterei verfolgt. Einmal mehr hatte er sich mit seinem normalweltlichen Know-How über Aufzüge überlegen gewusst, hatte den Sicherheitsmechanismen seiner alten Welt mehr vertraut als dem schattenhaften Raubtiergeist auf dem Aufzugsdach - und einmal mehr war er betrogen worden.

Schaudern überlief ihn und die Erinnerungssequenz sprang weiter bis zum Absturz. Gerade hatte er die scheinbare Sicherheit der Wand verlassen, um trotz aller Bedenken Sinas zweifelhaftes Hilfsangebot anzunehmen. Urplötzlich war der Boden unter seinen Füßen weggebrochen und er fiel, haltlos, schwerelos, hilflos in den Abgrund. Wahrscheinlich hatte er geschrien. Wahrscheinlich war ihm der Fall endlos lang erschienen. Wahrscheinlich wäre er in Panik geraten, hätte er die Situation begreifen können. All das war jedoch bedeutungslos im Angesicht des Aufpralls.

Nach dem Aufschlag war die Welt von Agonie erfüllt gewesen. Handlungsunfähig hatte sein zerschmetterter versagender Körper in der Dunkelheit gelegen, durchflutet von pochendem Schmerz und sengender Qual. Wie lange konnte er nicht sagen. Sein Bewusstseit lag ebenso in Scherben wie seine Knochen. Dann, langsam und zäh, wie das Blut aus seinen geborstenen Lungen auf das aufgerissene PVC des Kabinenbodens tropfte, war die Welt von undurchdringlichem Schwarz zu flirrendem Technicolorgrau geworden und sein Geist hatte etwas Klarheit zurück gewonnen. In diesem Moment musste er gestorben sein.


Die Erkenntnis traf Steinmeier wie ein Schlag ins Gesicht, dann wehrte sich sein Bewusstsein dagegen. Sicherlich war er nur bewusstlos geworden, ins Koma gerutscht. Er blickte nach unten und sah dort seinen Körper liegen: verkrümmt, blutend und regungslos. Auf das erste wortlose Entsetzen folgte beißende Zynik. Na toll, da hatte er mal eine außerkörperliche Erfahrung und Halluzinationen und dann gleich dermaßen beschissene! Vielleicht hätte er mehr mit Drogen experimentieren sollen - dann wäre vielleicht etwas Erfreulicheres dabei gewesen...

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