13. Vox Solis (4)

Erneut brummte eine Fliege mehrere Runden um Steinmeiers Kopf herum und er machte instinktiv eine abwehrende Geste, die das Insekt aber mitnichten zu stören schien. "Verdammte Viecher! Wo kommen die her? So lange bin ich noch nicht tot!" Dann besann er sich zurück auf sein Gespräch mit Astrid. "Wieso sollten Ratten uns führen - und wir sie bezahlen? Wie komme ich aus dieser Todesfalle eigentlich wieder heraus? Was ist mit den anderen beiden?" Doch seine Fragen verhallten scheinbar ungehört, denn eine Antwort blieb aus. Auch das Flüstern und Grollen des Orakels schien verschwunden.

Statt dessen gesellte sich surrend eine weitere Fliege zur ersten, dann noch eine.

"Astrid!?" Finn rief in die Dunkelheit und starrte erneut angestrengt in Richtung der unergründlich fernen Mitte der Aufzugskabine. Als seine Augen dort auf einen Schlag eine Silhouette ausmachen konnten, zuckte er vor Schreck zusammen. Aus dem vage undefinierten Schatten im offenen Raum schälte sich eine große schlacksige Gestalt. Die seltsam dürren Glieder offenbar in einen eleganten Anzug gekleidet, mit einem etwas schief sitzenden Zylinderhut auf dem Kopf und einem geraden Gehstock in der linken Hand wandte sie Finn den Rücken zu.

Steinmeier kniff die Augen zusammen schüttelte sich verstört - nicht nur um die Fliegen loszuwerden. Eigentlich konnte dieser Anblick nur das Produkt seiner auf Hochtouren laufenden Phantasie sein. Klar, Astrids Stimme hatte gesagt, der Tod würde kommen und ihn holen - aber den Gevatter in Anzug und Zylinder zu halluzinieren war doch ein wenig dick aufgetragen.

Mit einem einzigen weit ausholenden Schritt rückwärts betrat die Gestalt den Raum aus dessen Mitte heraus und verharrte an ihrer neuen Position wieder regungslos. Stattdessen war nun eine Melodie zu hören, gesummt von einer abgrundtiefen kehligen Stimme, die durch Finns gesamten Körper vibrierte: der Hochzeitsmarsch. Im technicolorfarbenen Halbdunkel wirkte die blanke Schwärze von Anzug und Zylinder seltsam würdevoll deplatziert. Verwundert registrierte Steinmeier, dass sich statt der erwarteten Knochenklaue ein weißer Glacéhandschuh um den Knauf des Gehstocks schloss. Bevor er weitere Details wahrnehmen konnte, wandte sich die Gestalt um und Finn starrte in die aufgerissenen Augen eines großen schwarzhäutigen Mannes, auf dessen Gesicht mit kalkweißer Farbe ein grinsender Totenschädel geschminkt war. Ohne ihn jemals zuvor persönlich gesehen zu haben, formulierten Finns Lippen tonlos den Namen des Fremden: "Samedi"

Die Lippen des Barons verzogen sich zu einem breiten Grinsen und er neigte den Kopf mit der gleichen Geste zur Seite, wie es die besessene Trommlerin zuvor in der Jungle Lounge getan hatte. "Sieh an, sieh an - wie heißt es so schön: man trifft sich immer zweimal. Ein wunderbarer Tag, den du dir zum Sterben ausgesucht hast, Finn Steinmeier! Auch der Ort: ruhig, abgelegen und schon mal unter der Erde. Keine normale Welt als Zeuge, keine menschlichen Verpflichtungen einzuhalten und keine verlausten Schutzgeister, die uns stören. Nur das Interieur ist ein wenig abgestanden für meinen Geschmack. Nach unserem kleinen Tête-à-tête vorher fand ich es unpassend, dich einem anderen zu überlassen und wollte dich unbedingt persönlich ... über die Schwelle tragen." Der Ghede lachte aus tiefster Kehle über seinen eigene schalen Scherz.


Was waren Astrids Worte gewesen? Er solle nicht zulassen, dass der Tod ihn holt? Wenn Samedi dieser Tod sein sollte, dann wusste er zumindest, was schon einmal funktioniert hatte. Finn fixierte zunächst den lachenden Loa, konzentrierte sich und sah dann gezielt weg. Wie eine heiße Woge brach Anstrengung über ihn hinein und er fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Poren trat. Letztes Mal war es einfacher gewesen, Samedis Blick abzuwenden dachte er. Nur jetzt nicht hinsehen, nicht die Blicke kreuzen, so groß die Verlockung auch sein mochte. Finns Atem ging schwer, er unterdrückte ein Keuchen. Was, wenn er es nicht schaffte? Vor seinem inneren Auge entstand das Bild des imposanten Loas, wie er jetzt gerade ihn, den schwitzenden, sterblichen, sich vergeblich mühenden Menschen mit gespitzten Lippen und  unverwandtem Amüsement anstarrte... Nein, solche Bilder durfte er nicht zulassen! Wenn nur die Fliegen nicht wären, die überall auf seinem zunehmend schweißnässeren Körper saßen. Einer Eingebung folgend, verstärkte er noch einmal seinen Einsatz und versuchte, sich auch vor den Fliegen 'wegzuwünschen'. Er durfte sich jetzt nicht aufgeben! Astrid hatte ihn darum gebeten!

Es verging eine gefühlte Ewigkeit, bis Finn bewusst wurde, dass die Last auf ihm schwächer wurde - oder war er es selbst, der nachgab? Er realisierte, dass er in die Knie gesunken war und nun schweißüberströmt neben seinem eigenen zerschlagenen Leichnam auf dem Boden der zerschmetterten Aufzugskabine kauerte. Fliegen waren keine mehr zu spüren und er erinnerte sich an ein Geräusch, das er gerade gehört hatte. Es war wichtig gewesen, aber nur nebensächlich gegenüber seiner Anstrengung sich zu verbergen. Er ging in sich und versuchte sich zu erinnern. Hatte Astrids Stimme noch etwas gesagt? Nein, aber eine Stimme war da gewesen. Eine tiefe Stimme, die Stimme von Samedi. Die Stimme hatte wütend aufgeschrien - und dann war der Baron mit raschen wütenden Schritten durch die Mitte aus dem Raum gegangen und verschwunden. Zuvor hatte er aber noch etwas gesagt. Alles hatte Finn nicht verstanden aber drei Sätze waren ihm im Gedächtnis geblieben: "Hüte dich, Steinmeier! Noch einmal wird dir dein kleiner Trick nicht helfen! Nächstes Mal gehörst du mir!”

Erschöpft ließ sich Finn zu Boden sinken und starrte für einen Moment in seine eigenen toten Augen. Es wäre so einfach gewesen, sich zu verlieren, sich hinzugeben. Was, wenn niemand kommen würde, um ihn zu retten? Was, wenn es keinen Ausweg gäbe? Wie lange würde er hier am Grunde des Aufzugsschachtes zu warten verdammt sein? War es jetzt so etwas wie eine ruhelose Seele, ein Gespenst? Und wenn das alles nur eine Halluzination eines Sterbenden war, wie lange würde sein echter Körper noch gegen den Tod ankämpfen können?

Finn blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten - allein in der flirrend graubraunen Dunkelheit am Grunde des Aufzugsschachts irgendwo unter Durnburg.

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