13. Vox Solis (2)

Eine Nuance an seiner Umgebung änderte sich, was sofort Steinmeiers Aufmerksamkeit von seinem eigenen leblosen Körper ablenkte. Was hatte sich geändert? Zum ersten Mal registrierte Finn den Raum um sich herum und die merkwürdige Art, wie dieser gerade auf ihn wirkte. Jegliche Farbe schien aus der Welt gewichen zu sein - kein Wunder in Anbetracht der zu erwartenden vollständigen Dunkelheit hier im Abgrund. Dennoch waren die Wände und Ecken von eben jenem bereits wahrgenommenen nicht-ganz-grauen Flirren erfüllt und zumindest in vagen Details und Konturen sichtbar. Gleichzeitig schien es Finn, als wären ihm die Wände und Ecken der Aufzugskabine näher als die Mitte des Raumes. Besonders "weit" entfernt wirkte der von dunklen Schatten völlig durchtränkte Fleck unter der eigentlich als heller erwarteten Dachluke. Waren diese Beobachtungen für sich bereits bemerkenswert, erklärten sie jedoch noch nicht die erfühlte Veränderung - zu statisch und gleichmäßig war ihr Wesen.

Da war es wieder! Ein Wispern und Raunen war durch die Kabine gezogen. Dann ein Grollen wie von entferntem Donner. Steinmeiers Unterbewusstsein war schneller und ließ ihn erschaudern, noch bevor sein Verstand die Wahrnehmung einordnen konnte. Das Orakel! Diese Geräusche waren damals bei den Geschehnissen auf dem unseligen Theatergruppentreffen untrennbares Beiwerk für jedes Auftreten und Wirken des Orakelgeistes in den Tarotkarten gewesen. Er hatte sie gehört, als er im fackelerhellten Steinkreis des Orakels gestanden und so töricht über sein Schicksal entschieden hatte... und er hatte sie gehört in der Séance, bei der Astrid Kirchner starb. Erneut schwoll das Rumoren und Flüstern an. Die Quelle der Geräusche schien aus der Mitte der zerschellten Aufzugskabine zu kommen. Irgendwie war es Steinmeier, als würde sich eine Präsenz aus der unendlich fernen Mitte den Wänden nähern.

Verwirrt schüttelte er den Kopf. Hatte nicht Fiedler gerade vorher von diesem Mann-Gott-Weib namens Ghede erfahren, dass das Orakel und Astrid in einer anderen Welt und somit unerreichbar waren? Wie konnte es dann sein, dass er das hörte, was er gerade hörte?

Diesmal sandte die naheliegende Erklärung ein Lächeln auf Steinmeiers Lippen. Alles, was er gerade wahrnahm, entsprang einer Halluzination. Offenbar assoziierte Steinmeiers gequältes Gehirn den Tod an der Grenze naheliegenderweise mit Astrid Kirchners Sterben und daher mit dem Orakel. Das war einleuchtend, oder?

"Finn!"

Bevor er Zweifel an seiner neugefundenen Theorie entwickeln konnte, wurde Steinmeier jäh aus seinen Überlegungen gerissen. Hatte da jemand seinen Namen gerufen? Er sah sich um und lauschte angestrengt in das wortlose Wispern und Grollen des Orakels hinein.

"Finn Steinmeier!"

Wie ein einzelner goldener Sonnenstrahl durch ein Loch im wolkenverhangenen Gewitterhimmel drang eine klare aber leise Frauenstimme durch die rauschende Dunkelheit - und rief Finns Namen. War Sina zu seiner Rettung gekommen? Nein, das war nicht Sinas rauchiger Ton. Das klang viel mehr nach... hastig, rau und unsicher sprach Finn den Gedanken aus und wartete unsicher ob er eine Antwort hören wollte: "Astrid?"


"Gut. Du hörst mich also. Hör zu, Finn, es ist wichtig." Die Stimme aus dem Nichts hatte einen eindringlichen Tonfall angenommen und das Flüstern des Orakels zu einem unstetig an- und abschwellenden Hintergrundrauschen abklingen lassen. War das wirklich nur Finns Unterbewusstsein, das ihm hier einen Streich spielte - oder doch mehr? Viel mehr? Steinmeier konnte nicht anders als gebannt zuzuhören und in die düsteren Nebel in der Mitte des Raumes zu starren.

Astrids Stimme fuhr fort. "Was auch passiert, gib dich nicht auf, Finn, und verliere dich nicht! Bleib hier und lass nicht zu, dass der Tod dich holt! Rettung wird kommen und dein Körper wird dich wieder tragen." Es entstand eine Pause, als eine Woge fernen Donnerns und peitschenden Wisperns den Raum erfüllte und für einen Moment verklang die einsame Stimme zwischen dem vielmündigen Geflüster.

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