16. Unterstadt (5)

"Sieht harmlos aus, zumindest auf den ersten Blick. Was meinen Sie, Lady?" So gut es eben von seiner aktuellen Position aus ging, versuchte Fiedler das Licht der Taschenlampe in die Winkel und Schatten des vor ihnen liegenden Ganges zu dirigieren.

"Ich denke, wir werden wohl persönlich nachsehen müssen, Herr Fiedler, wenn wir eine verlässliche Aussage haben wollen.” Behände schob sich Sina an Fiedler vorbei durch den Türspalt. Für einen Moment verdeckte ihr Körper den Lichtstrahl der Taschenlampe, dann hatte sie die äußere Aufzugstür passiert, glitt elegant zur Seite und gab das Sichtfeld zum Gang hin frei. Es vergingen aber kaum ein paar Sekunden, bis ihre behandschuhte Hand wieder im Spalt auftauchte und etwas bedeutete, das Fiedler als Zeichen  nach zu kommen ansah.                                      

“Nicht so voreilig, Süße!” Fiedlers mürrisches Knurren war wahrscheinlich leise genug, um nicht bei Sinas Ohren anzukommen, doch selbst wenn, wäre es ihm egal gewesen. “Wir wissen noch gar nicht, ob wir etwas mit den Ratten und dem Brunnen zu tun haben wollen.”

Verärgert wollte er sich gerade umdrehen und nachsehen, was Steinmeier gerade so trieb, als dessen Stimme überraschend nah und gefasst knapp hinter ihm erklang. “Doch, ich weiß es jetzt. Wir werden die Ratten rufen. Wir werden ihren Preis bezahlen und sie werden uns zum Brunnen und zu Astrid führen.”

“Aha.” Fiedler wirkte nicht gänzlich überzeugt. “Und Sie sind sich jetzt sicher, dass das eine gute Idee ist? Wenn man mit den Ratten Geschäfte macht, sollte man immer vorsichtig sein!”

Mit ungewohnter Überzeugung und Selbstsicherheit suchten Steinmeiers Augen den direkten Kontakt. Ohne die Spur eines Zweifels entgegnete er: “Das ist mir klar, Herr Fiedler. Ich mag vielleicht nicht auf eine lebenslange Erfahrung als Grenzer zurückblicken, wie Sie das tun, aber halten Sie mich bitte nicht für dumm! Wenn ich sage, dass wir uns von den Ratten zum Brunnen führen lassen, dann weil ich mir absolut sicher bin, dass es der richtige und beste Weg zu unserem gemeinsamen Ziel ist: der Rückkehr von Astrid ins Reich der Lebenden. Oder geht es mittlerweile um etwas anderes?” Ohne eine Antwort abzuwarten, begann Steinmeier damit, sich durch die Öffnung zwischen den Schiebetürhälften nach draußen zu zwängen.

Einen kurzen Augenblick überlegte sich Fiedler, ob er den Ex-Schauspieler auf- und festhalten sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Steinmeier hatte Recht: Nahm man dessen Vision für bare Münze, waren logisch betrachtet die Ratten und der Tiefe Brunnen der einzige Weg, zeitnah zu Astrid Kirchners Geist zu gelangen. Wenn jemand Einwände dagegen oder Argumente dafür finden könnte, dann war das Steinmeier - und wenn der sich sicher war, was gab es für Alternativen? Den Tiefen Brunnen konventionell zu recherchieren, während Brack und Unbehauns Männer Jagd auf sie machten? Wohl kaum. Knurrend machte sich Fiedler daran, sich selbst und seine gerade etwas hinderliche aber unverzichtbare Lederjacke wohlbehalten hinter Steinmeier her durch den Türspalt zu zwängen. Die ganze Sache war dabei, sich zu verselbstständigen!

Draußen wartete bereits Sina mit ihrem charakteristisch katzenhaften Lächeln. “Ich sehe, die beiden Kamele haben es wohlbehalten durch das Nadelöhr geschafft. Das könnte ein paar Reiche wohl hoffen lassen... aber ich schweife ab. Lassen Sie uns die Ratten rufen!”

Steinmeier nickte zustimmend und sah Fiedler auffordernd an. Dessen säuerliche Miene ließ deutlich erkennen, wie sehr er dem Vorgehen misstraute, dennoch griff er mit der Linken in die Innentasche seiner Lederjacke und zog seinen lädierten Revolver heraus. “Selbstverständlich. Ich vertraue immer gerne den Stimmen in Ihrem Kopf. Sie auch?”

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