16. Unterstadt (4)

“Großartig. Wer noch?” Mit einem genervten Seufzer hatte die Beschworene die Augen verdreht. “Habt ihr keine Menschen, die sich unter ihrer eigenen Stadt auskennen?”

Während Steinmeier noch überlegte, ergriff Fiedler etwas sarkastisch aber nüchtern das Initiative: “So wenig ich von der Idee begeistert bin, aber in Anbetracht unserer aktuellen Lage stimme ich Herrn Steinmeier zu. Es mag sein, dass ein Undergrounder, ein Troglodyt oder jemand aus einer anderen Gang der Unterstadt uns den Weg zum Brunnen zeigen kann. Vielleicht kennt dieser Jemand sogar die Schutzmagie, die den Brunnen umgibt, und weiß dazu noch einen Trick, den Zauber zu umgehen. Wenn Sie oder Herr Steinmeier aber keinen wahnwitzig guten Kontakt in die Unterstadt haben, werden wir über meine Kontakte wohl Tage brauchen, bis wir einen geeigneten einheimischen Führer gefunden haben. Bei den Ratten müssen wir nur fragen - und bezahlen.” Er wandte sich an Finn. “Habe ich das falsch im Gedächtnis, oder hat sogar die Astrid in Ihrer ... Vision ... geweissagt, wir müssten uns an die Ratten wenden, auch wenn das teuer wäre?”

Offensichtlich verursachte die Frage Unbehagen bei Steinmeier: “Ja. Nein. Irgendwie schon - aber da war noch etwas, glaube ich...”

Unnachgiebig hakte Sina nach: “Was denn? Nun gehen Sie doch mal in sich! Ewig können wir hier sicher nicht herumhängen.” Entschlossenheit ausstrahlend sah sie sich in der Kabine um und steuerte dann den lädierten Öffnungsmechanismus des Ausgangs an. “Kommen Sie, Herr Fiedler, und helfen Sie mal einer Dame, eine Tür zu öffnen! Ein Gentleman der alten Schule weiß doch sicher auch dann noch, was sich gehört, wenn er so tief unten angekommen ist wie wir es gerade sind...”

“Aber selbstverständlich und jederzeit, meine Teuerste!” Grinsend vollführte der Detektiv eine schwungvoll elegante Wende, folgte Sina eilig und ließ Finn nachdenklich, grüblerisch und bedrückt in der Mitte des Aufzugs im Dunklen stehen. Als er nach kaum zwei Schritten aufgeholt hatte, stand die Beschworene bereits an der Tür und musterte den gebeutelten Öffnungsmechanismus mit einer distanzierten Skepsis, die von tiefgreifendem Unverständnis zeugte. Lässig steckte Fiedler die Hände in die Hosentaschen und genoss die Situation. “Schätze, wir könnten Glück haben. Normalerweise gehen die Dinger nicht so einfach auf wie das von Hollywood immer behauptet wird. So ein altes Teil wie dieses hier hat aber vielleicht ‘ne Mechanik, die die Türen an einem Stockwerksausgang entriegelt - und es sieht so aus, als wären wir tatsächlich im untersten Untergeschoss angekommen.”

Betont gefasst und höflich sah er Sina an. “Wollen Sie den Vortritt beim Aufstemmen der Türflügel, oder darf ich Ihnen assistieren?”

Wider Erwarten sah ihn Sina fast schon giftig an. “Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Fassen Sie mit an!”

Es kostete Fiedler einige Anstrengung, seine Verwunderung nicht zu offensichtlich werden zu lassen. Bislang war der Beschworenen jede Gelegenheit recht gewesen, ihre physische Überlegenheit herauszustellen - und jetzt wollte sie Hilfe beim Öffnen einer verklemmten Schiebetür? War die Wiederkehr von Steinmeier so kostspielig für sie gewesen oder kam sie einfach nur nicht mit mechanischen Systemen klar? Diese gerade wenig nützlichen Überlegungen so professionell wie möglich beiseite schiebend nickte er jedoch und merkte an: “Am besten wir ziehen gleichzeitig mit möglichst der gleichen Kraft und etwas Gefühl beide Flügel zur Seite. Auf drei - und ich zähle!”

Wortlos und überraschend teamfähig nahmen die Beschworene und der Detektiv Stellung links und rechts der Aufzugstüren. Fiedler zählte - und kurz nachdem er “Drei” gesagt hatte, begann sich der Spalt zwischen den Türhälften scharrend und schleifend zu verbreitern. Ging das erste Handbreit noch einfach, wuchs die Öffnung von da an immer schwergängiger, bis schließlich Fiedlers Griff nachgab und seine Hände von der Türkante abglitten. “Das verfluchte Teil will nicht weiter auf!” Fiedler stolperte, hielt sich die schmerzenden Finger und begutachtete das schmale aber vorhandene Ergebnis ihrer Anstrengungen. Zum Glück waren die äußeren Türflügel der Bewegung der inneren Schiebetüre gefolgt und hatten sich ebenfalls um das gleiche Stück geöffnet. Von einem bequemen Durchweg konnte man zwar beileibe nicht sprechen, aber mit ein wenig gutem Willen und gegebenenfalls etwas Nachhilfe von hinten oder vorne würde jeder von ihnen sich dort hindurch zwängen können. So weit, so gut.

Neben ihm starrte Sina angestrengt in die Dunkelheit außerhalb der Kabine. Fiedler bückte sich kurz, um die zuvor abgelegte Taschenlampe wieder aufzunehmen und schickte dann deren Lichtkegel nach draußen in die Finsternis. Im Lampenschein zeichnete sich ein langer niedriger Gang ab, an dessen betongrauen Wänden und Deckenwölbung mehrere dicke schwarz korrodierte Rohrleitungen entlang liefen. Auch gut. Rohre eigneten sich vortrefflich, wenn man Ratten brauchte.

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