16. Unterstadt (3)

"Sie war es. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Die Art, wie sie sprach, ihr Wissen über die Geschehnisse damals, ihre Weise, mit meinen Schuldgefühlen umzugehen - das war Astrid." Steinmeier verfiel ein wenig ins Schwärmen, fand aber gleich wieder zurück auf den Boden der aktuellen Tatsachen, doch Fiedler ließ sich nicht so leicht überzeugen: "Das war also die echte Astrid oder aber ein Wesen, das Ihre im Todeskampf freiliegenden Erinnerungen lesen und manipulieren konnte. Die größte Sehnsucht eines Menschen zu kennen und zu nutzen ist eine beliebte Strategie bei diversen spirituellen Raubtieren der Grenze!"

"Ihr Zögern in Ehren, mein lieber Herr Fiedler, aber erzählen Sie uns doch von dem Brunnen, den Sie so verlockend erwähnt hatten." Trotz der Wortwahl lag weniger Spott als interessierte Aufforderung in Sinas Tonfall. Sie trat aus ihrer abseitigen Position im Schatten etwas näher an die beiden Männer heran.

"Verlockend ist hier erst mal gar nichts!" Fiedler wirkte patzig und unwillig, rang sich aber dann doch zu einer Erläuterung durch: "Also gut. Vor ein paar Jahren bin ich bei den Recherchen für einen hier nicht weiter relevanten Fall über die Aufzeichnungen eines Geschichtsgelehrten gestolpert, der sich auf alte magische Orte spezialisiert hatte. Ein Teil dieser ziemlich umfangreichen, trockenen und langwierigen Lektüre ging um einen alten Brunnen, noch aus der Zeit der Römer. Im ach so finsteren Mittelalter wurde das Loch zum Geheimtipp, wenn es um Stimmen von jenseits des Grabes ging: Orakelsprüche, Prophezeihungen, Zauberformeln und allerhand Dinge, von denen ein erfahrener Grenzer im Normalfall lieber die Finger lässt. Die Einzelheiten kriege ich nicht mehr zusammen, aber irgendwie muss es der Brunnen geschafft haben, über all die Jahrhunderte nicht glatt gezogen zu werden. Ich erinnere mich daran, dass der Schreiberling einen ganzen Haufen Fehden und Intrigen beschrieb, die seiner Ansicht nach um den Brunnen gingen. Als dann der Durnburger Pakt geschlossen wurde und der Rat die Grenze der Stadt übernahm, ging man der Sache mit dem Brunnen buchstäblich auf den Grund. Dort fand man ein ziemlich fieses Wesen aus einer Anderwelt, das sich seit Jahrhunderten von den Opfern und Geschenken 'an die Toten' nährte und die Anhängerschaft des Brunnens kontrollierte. Insgesamt lief das Ganze auf ein Gemetzel zwischen den Brunnenkultisten und den Leuten des Rates hinaus, an dessen Ende das Brunnenmonster von irgend so einem Helden - den Namen habe ich vergessen - vernichtet wurde. Interessant an der Sache ist, dass der Brunnen tatsächlich eine Art undichte Stelle in eine Schattenwelt der Toten darstellt. Offenbar hatte sich die Brunnenkreatur dieses Zugangs zu den Toten bedient, um mit ihren eigenen Fähigkeiten Geheimnisse und Prophezeihungen aus den ruhelosen Seelen Verstorbener zu entlocken."

Fiedler hielt inne und kratzte sich mit dem Daumen an der Nase. "Bevor Sie jetzt allerdings in Jubelstürme und blinden Aktionismus ausbrechen, liebe Weggefährten, muss ich Sie aber noch über einen Haken bei der Brunnensache in Kenntnis setzen." Für einen Moment genoss Fiedler insbesondere Steinmeiers Aufmerksamkeit, während Sina seinen Ausführungen deutlich gelassener folgte - doch er hatte etwas zu lange gezögert, denn Finn fiel ihm ungeduldig ins Wort: "Ich weiß es! Der Geist des toten Brunnenmonsters lauert jetzt auf der anderen Seite des Brunnens. Ja?"

Überlegen lächelnd winkte Fiedler ab: "Auch wenn die Idee im Prinzip gut ist, Herr Steinmeier, unser Problem kommt aus der anderen Richtung: Irgend eine Fraktion in der Stadt hat wohl kurz nach der Sache mit den Kultisten beschlossen, dass ein Ort wie der Brunnen für uns Normalgrenzer besser nicht zugänglich sein sollte. Möglicherweise wollte man auch einfach kein Tor zum Totenreich ungeschützt quasi im Keller stehen haben. Wie dem auch immer sei, gibt es wohl einen Zugangsschutz um den Brunnen, den mein Geschichtler übrigens wie Ihre Astrid als 'Seelenbrunnen' bezeichnete. Allerdings," Fiedler machte noch eine, diesmal eher knapp bemessene dramatische Pause, "allerdings hatte der gute Gelehrte auch notiert, dass es nicht unmöglich ist, diese Schutzvorkehrung zu umgehen. Wahrscheinlich ist es etwas permanent Magisches - solche Dinge haben immer eine Hintertür. Denken Sie einfach mal an die Sphinx: Eine tolle Wachkreatur, wenn da nur der Rätseltick nicht wäre..."

"Das klingt genau nach dem Ort, den wir suchen, nicht wahr, Herr Steinmeier?" Sina klang entschlossen und aufbruchsbereit, wohingegen Finn nur stumm nickte. "Da Sie offenbar noch nie an diesem sagenhaften Brunnen waren, Herr Fiedler, bleiben für mich nur zwei Fragen offen: Wer kann uns dorthin führen - und wer kennt die Schwachstelle des Schutzzaubers?"

Bevor Fiedler etwas sagen konnte, knurrte Finn Steinmeier bereits betont grimmig die Antwort, die der Detektiv notgedrungen auch hatte geben wollen: "Die Ratten."

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