14. Umgekehrt (3)


Keine zwei Schritte vor Fiedler krachte mit Wucht ein kubikmetergroßes Objekt auf die schummrig beleuchteten beigen Kunststeinplatten des Bodens und zerbarst in einem auseinanderstiebenden Regen von Schleimtropfen und Plastiksplittern. Wie eine schleimige Ohrfeige traf ein faustgroßer Gallertbrocken Fiedlers Gesicht und zerklatschte zu einer zähklebrigen Schmierspur, durchzogen von gummiartigen Klümpchen. Reflexartig schloss er die Augen und jenseits aller antrainierten Härte wallte Ekel in ihm hoch. Mit aller Willenskraft, die er aufbringen konnte, unterdrückte er den aufsteigenden Würgreiz und zwang sich, mit dem Ärmel seiner Lederjacke einen Teil des Schleims von Mund, Augen und Wangen zu wischen. Jemand musste hinsehen! Notfalls eben kein Sterblicher!

"Pfah ... Sina, halten Sie die Plastikviecher im Auge! Nicht wegschauen - einfach starren!" Angewidert spuckte er etwas seifig süßlich bis bitter schmeckenden Speichel aus und versuchte noch einmal, seine Augen frei zu kriegen. "Fehlen welche?"

Es vergingen ein paar Sekunden bis zur Antwort. "Nur eines. Was sind das für Viecher? Die machen zwar 'ne Menge Dreck aber irgendwie auch Spaß!" Sina klang amüsiert verwundert und vorsichtig, aber durchaus optimistisch. "Wieso sollen die gefährlicher sein als die Hexe aus dem Aufzug?"

Fiedler rang sich durch, die Augen wieder zu öffnen und orientierte sich neu. Keine zwei Schritte trennten ihn vom vorhangverdeckten Eingang der Fotobude, an dem mittlerweile auch Sina stand, die mit skeptischem Blick aber ohne Zwinkern die regungslose kleine Armee der knallbunten plastikhäutigen Reittiermonster anstarrte. Rasch überbrückte er die Distanz, schob misstrauisch die schwere Kunstfasergardine zur Seite und musterte kritisch das Innere der Kabine: Leer bis auf einen Metallschemel, etwas dreckig und zumindest auf den ersten Blick harmlos. Zufrieden grunzend duckte er sich hinein, bevor er auf Sinas Frage einging.

"Das sind Einsiedler. Die Viecher nisten sich in irgendwelchen Dingen ein, wachsen darin fest und können ihre bewohnte Schale bewegen und benutzen. Mit so einem Außenskelett entwickelt ein Einsiedler ziemliche Kräfte - vor allem wenn es sich um relativ große Exemplare handelt, wie diese hier. Interessant für Sie als Beschworene könnte sein, dass die Viecher Psychotrophen sind. Das heißt, sie fressen Gefühle als Vorspeise, freuen sich aber auch über eine Seele oder einen Menschengeist als Hauptgang. Zählt das noch als lustig und ungefährlich?" Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. "Jetzt kommen Sie schon rein, die Zeit wird knapp!"



Sinas Ton und Miene waren deutlich ernster, als sie zielstrebig ohne sich von den Reittieren wegzudrehen den Rückzug in Richtung Fiedler antrat. "Zugegeben, das macht die Tierchen wirklich unsympathisch. Verraten Sie mir noch, wieso sich solche Ekelpakete in diesen hässlichen Spielzeugen eingenistet haben? ... Und was die Sache mit dem Anstarren soll?"

"Nun ja, das ist doch eigentlich naheliegend, zumindest wenn man in den letzten vierzig Jahren schon mal in einem Einkaufszentrum oder einem Vergnügungspark war. Diese Plastikviecher sind von den Kindern heiß geliebt, aber die Eltern wollen nicht bezahlen oder nur für eine Fahrt oder haben es eilig oder so. Jedenfalls gibt es eigentlich immer irgendwie Geschrei, Wut und Tränen - und die Einsiedler mästen sich an den Gefühlen. Wenn sich Normalos in der Nähe aufhalten, sind Einsiedler eigentlich träge und harmlos und halten still. Damit kommen wir auch zu ihrer Starr-Schwäche: Vielleicht versuchen die Viecher ihr Paradox niedrig zu halten, vielleicht gibt es einen tieferen Grund - aber so lange ihn jemand beobachtet, wird sich ein Einsiedler nicht vom ursprünglichen Ort seiner Schale oder seines Gefäßes lösen." Er machte eine kurze Pause und sah noch einmal absichernd zum Aufzug hinüber, aus dem nun laut Sinas Schätzung jeden Moment ihre Verfolger klettern würden. "Genau dieser Effekt dient uns jetzt als Zeitzünder - wenn Sie wissen, was das ist. Die Einsiedler  da vorne dürften ziemlich ausgehungert sein, sie sind ziemlich groß und ziemlich zahlreich und unsere Anwesenheit dürfte sie wachgerüttelt haben. Sobald wir wegschauen, werden sie auf uns losgehen oder auf jedes andere fühlende Wesen, das sie wahrnehmen - hoffentlich inklusive unserer Verfolger. Los kommen Sie rein - und hoffen wir, dass wir unbemerkt bleiben. Sie dürfen auch wegsehen."

Fiedler zog sich weiter in die Kabine zurück und machte Platz für Sina, die trotz des engen Raumes kommentar- und berührungslos mit der ihr eigenen Eleganz neben ihn schlüpfte. Offenbar hatte sie ihn verstanden und stimmte dem Vorgehen zu, denn sie bedachte ihn mit einem verschwörerischem Blick und bedeutete ihm mit schwarz behandschuhtem Finger zu schweigen. Vorsichtig und unbehaglich zog er den staubigen schwarzen bodenlangen Vorhang zu.

Für einen Moment schien muffige Stille zu herrschen. War da leise ein schabendes schmatzendes Geräusch von kunststoffummantelten Gallertwesen zu hören? Unvermeidlich malte sich Fiedlers Phantasie aus, wie sich draußen ein um die andere plastikgepanzerte Monstrosität in vom fahlgrünen Licht entsättigten Bonbonfarben von ihrem haltenden Sockel schälte und auf farblos weißlichen Pseudopodien an Boden, Wänden und Decke ausschwärmten hin zu der Kabine, in der er und Sina saßen, wehrlos und blind. Hatte er gerade einen fatalen taktischen Fehler gemacht? Konnte ihn seine Gabe der Resistenz gegen einen Seelenfresser schützen? Was würde aus seiner Partnerin ... nein, Auftraggeberin werden?

3 Kommentare:

Stefan hat gesagt…

"He slimed me!" Hrhr, der arme Fiedler :-)

Katrin hat gesagt…

Tja, aber Magieresistenz schützt eben nicht vor Glibber.....

Bernhard hat gesagt…

Niiiilpfeeeerd!