16. Unterstadt (2)

Finn schluckte, dann nickte er hastig und etwas verlegen. “Tja, ich meine, eine tote Frau, die vom Grund eines Brunnens nach mir ruft - irgendwie klingt das nach einem obskuren Horrorfilm von vor ein paar Jahren ... aber den kennen Sie wahrscheinlich nicht.” Fast zwanghaft brach er ob seines eigenen Witzes in leises Kichern aus. Auf Sinas mahnenden Blick hin riss er sich zusammen und fuhr deutlich gefasster fort. “Aber eigentlich hat sie genau das gesagt: Sie ist nicht mehr in der Ödnis, sondern wartet am Grund eines Brunnens, der eigentlich ein Tor ins Jenseits ist.”


Eine Eingebung durchzuckte Fiedler und seine Miene hellte sich auf, als er sich in das Gespräch einschaltete. “Hat sie vielleicht vom ‘Tiefen Brunnen’ gesprochen? In der Durnburger Unterstadt?”


Steinmeier öffnete den Mund, wird um etwas zu erwidern, versank dann aber ins Grübeln, während Sina fragend den Detektiv ansah. Als Finn schließlich antwortete, klang seine Stimme angestrengt und bedrückt. “Das Gespräch mit Astrid scheint so weit entfernt. Irgendwie kriege ich keine Details mehr zusammen - als hätte der verfluchte Voodoo-Baron meine Erinnerung kaputt gemacht.  An den Begriff ‘tiefer Brunnen’ kann ich mich nicht entsinnen, aber ich bin mir fast sicher, sie hat etwas von einem Geisterbrunnen in der Unterstadt gesagt. Ich glaube, sie meinte den von Durnburg.”


So ganz zufrieden geben wollte sich Fiedler mit dieser Antwort nicht. Lässig schnippte er die zuvor immer noch auf der Dolchklinge liegende tote Schmeißfliege weg und drehte sich zu Steinmeier um. "Sie 'glauben'? Ich spare mir jetzt einfach mal die Wortspielchen und Ihnen die Spekulationen über Stimmen in Ihrem Kopf, Herr Steinmeier, aber hier hilft uns Ihr 'glauben' nicht weiter. Die Sachlage ist unklar genug. Was genau hat ... Astrid gesagt?"


Erst sah es so aus, als wolle Steinmeier eine schnippische Antwort geben, doch dann schloss er seinen Mund und seine Augen. Tiefe Denkerfalten zogen sich über seine Stirn, während er so schweigend da stand.


"Entnehme ich Ihrer professionell penetranten Nachfrage, dass es in der Durnburger Unterstadt tatsächlich einen Brunnen gibt, auf den die Beschreibung passt? Oder sogar mehrere?" Es war Sina, die den Moment der Stille nicht Bestand haben ließ. "Wenn ja, sollten wir unbedingt dieser verheißungsvollen Örtlichkeit einen kurzen Besuch abstatten, Frau Kirchner mitnehmen und den Auftrag damit abschließen. Wie klingt das für Sie, Herr Fiedler? Wäre dieser Plan Ihres Genies würdig?"


Fiedler verzog nur wenig das Gesicht. "Es ehrt mich, wenn die erhabene Abgesandte meines Auftraggebers mit ihren vielen Jahrhunderten an Erfahrung den gleichen Plan fasst wie ich - selbst wenn dieser trivial ist." Auffordernd sah er zu Sina hinüber. "Ihnen ist klar, dass eben dieser Plan im Grunde genommen nicht von Ihnen oder mir stammt? Diese ganze Idee ist nichts als die Einflüsterung einer Stimme, die Herr Steinmeier während seiner buchstäblichen Nahtoderfahrung gehört hat. Bedenken Sie auch, dass in letzterer auch ein gewisser Ghede seine manipulativen Finger im Spiel hatte, der für seinen schwarzen Humor und seine Vorliebe für Abgründe zum Totenreich bekannt - ach was sage ich - berüchtigt ist. Eine gehörige Portion Skepsis halte ich für durchaus angebracht. Dann war da noch die Geschichte mit den Ratten..."


"Seelenbrunnen! Sie hat es Seelenbrunnen genannt." Steinmeiers gleichermaßen erleichterter wie erleuchteter Ausbruch unterband abrupt den sich anbahnenden Wortwechsel. "Und ich bin mir sicher, dass der Brunnen in Durnburg war." Finn öffnete die Augen und grinste triumphierend den vor ihm stehenden Fiedler an. "Außerdem können uns die Ratten hinführen." Übergangslos klang seine Begeisterung merklich ab. "Wobei ich bisher ganz froh darüber war, dass ich soweit ohne irgendwelche Geschäfte mit den Ratten ausgekommen bin. Egal. Reicht Ihnen das, Fiedler?"

"Hmf." Auf dem Gesicht des Privatdetektivs spiegelten sich Skepsis und Widerstreben. "Warum glauben Sie, dass das Astrids Stimme war und nicht die Stimme irgendeines Geistes, der behauptet Astrid zu sein? Ich habe überhaupt keine Lust, in noch eine Falle zu laufen." Beim letzten Nebensatz funkelte er Sina an, was Steinmeier aber völlig entging.

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