14. Umgekehrt (5)


Sich auf die Detektivtugenden Logik und Deduktion besinnend, wog Fiedler seine Optionen ab. Mit Brack zu reden war gerade nicht möglich und könnte darüber hinaus noch zu ernsten Problemen führen, falls dieser tatsächlich die Seiten gewechselt haben sollte. Mit Sina über ihre Loyalität zu reden würde erfahrungsgemäß zu nichts führen, da sie sich entweder auf Unbehauns Brief und die darin eingelöste Schuld berufen würde oder aber aggressiv werden und ihn physisch angreifen konnte. Insbesondere nach dem, was die Dame mit dem Troll auf der Brücke und dem Einsiedler an der Decke gemacht hatte, erschien ihm der Gedanke, mit einer angreifenden Sina auf engem Raum eingesperrt zu sein, gerade als wenig erfreulich. Zudem drohte sich das Zeitfenster für die von ihm geplante Flucht bei all den Überlegungen und Diskussionen zu schließen. Was blieb also, als weiter zu machen wie geplant - und vielleicht später bei geeigneter Gelegenheit nachzufragen.

Flüsternd wandte er sich an Sina: "Zum Lift. Leise." Auf eine adäquate Reaktion ihrerseits vertrauend schob sich Fiedler so schnell und gleichzeitig lautlos wie möglich durch den Vorhang, hinaus aus der Fotobude. Nur wenige Meter entfernt kämpfte sich ein gerüsteter kräftiger Mann (war das Brack?) mit wuchtigen Schwerthieben durch eine völlig surreal wirkende, ihn bedrängende Horde bunter Plastiktiere und wandte ihnen dabei glücklicherweise den Rücken zu. An der gegenüberliegenden Seite des Raumes hatten drei leicht lädiert wirkende Einsiedler einen anderen Mann an die Wand gedrängt, der sie offensichtlich kaum auf Abstand zu halten vermochte. Mehr Details waren im trüben schwachgrünen Halbdunkel nicht zu erkennen - zumal Fiedler dafür gar keine Zeit blieb. Auf leisen Sohlen eilte er zum Aufzugsschacht, wobei er erleichtert aus dem Augenwinkel registrierte, dass Sina ihm mindestens ebenso unauffällig folgte.

Der klaffende Abgrund des Schachtes war so düster und tief wie zuvor. Fiedler verdrängte einen Anflug von Schwindel und suchte einen Weg hinab. "Da drüben sind Griffe in der Wand." Sinas Worte und Ton waren sachlich und nüchtern - und ihre Augen offenbar besser als die seinen, denn er konnte nur vage einen etwas dunkleren Streifen erahnen, der sich als Schatten im Schatten an der Seitenwand des Liftschachtes hinabzog. Anscheinend hatte die Beschworene sein Zögern bemerkt und ergänzte: "Wenn Sie auf dem Sims da entlang balancieren, kommen sie direkt dorthin." Konnte er ihr überhaupt vertrauen? Hatte er nicht gerade festgestellt, dass mit ihrer Geschichte etwas nicht stimmte? Hinter ihm zerschmetterte Brack krachend einen weiteren Einsiedler, deren Anzahl merklich geschrumpft schien. Hier in der Aufzugstüre stehen zu bleiben, machte ihn zu einem viel zu gut sichtbaren Ziel! Entschlossen setzte er einen Fuß in den Aufzugsschacht auf den Sims, den ihm Sina gewiesen hatte und balancierte vorsichtig und mit mulmigem Gefühl die feuchte Betonwand entlang.

Als sich Fiedlers tastende Hände um den kalten rau grundierten Metallbügel schlossen, war hinter der Türe auf der anderen Seite des Abgrundes der Kampflärm abgeklungen. Er sah sich nach Sina um, doch konnte er auf den ersten Blick nichts entdecken. Erst als er etwas verblüfft ein zweites Mal den Sims absuchte, glomm ihm ein paar grüner Augen mit geschlitzten Pupillen entgegen, um die herum sich schwärzer als der Schatten die Silhouette einer Katze abzeichnete. "Sina?" Verwirrt zog Fiedler die Augenbrauen zusammen. Hatte sie ihre Gestalt gewandelt - oder war hier einfach eine Katze im Schacht? Wie zur Antwort auf seine Frage maunzte das Tier und sprang zielgerichtet und punktgenau auf die Schulter des an der Leiter hängenden Detektivs. Einen riskanten Abwehrreflex unterdrückend duckte sich Fiedler, ohne den haltenden Griff loszulassen.

"Sie sind doch nicht etwa allergisch, Herr Fiedler!" Sinas Stimme in seinem Ohr klang schnurrender als sonst, aber immer noch als ihre erkennbar.

Gereizt fauchte Fiedler zurück: "Kündigen Sie solche Spielchen besser an! Um ein Haar wäre ich abgestürzt!"

"Nun haben Sie sich nicht so, ich bin leicht, flauschig und zudem stubenrein. Schaffen Sie es die paar Stockwerke nach unten zu klettern?" Die Katze schubberte sich ausgiebig gegen Fiedlers Kopf.

"Lassen Sie den Quatsch und stören Sie mich nicht!" In Fiedlers Stimme war keine Andeutung einer besseren Laune zu erahnen - wenngleich er selbst nicht wirklich sicher war, ob er den langen Abstieg schaffen würde. Blieb nur zu hoffen, dass Brack mit seinem verletzten Mitstreiter lang genug beschäftigt war und zudem keine Überraschungen von oben oder unten kommen würden. Wie hieß es doch so schön? Alles Gute kommt von oben? Grimmig stieg Fiedler Stufe um Stufe in die finstere Tiefe, die zuvor schon Steinmeier verschlungen hatte.

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