15. Zurückgekehrt (6)

Fiedler unterdrückte einen Fluch. Sie hatte ihn sauber durchschaut - und dabei hatte sie wohl kaum seine Gedanken gelesen. Entweder war sein “Pokerface” deutlich schlechter als angenommen oder die Dame war mit insbesondere für eine Beschworene verdammt guter Menschenkenntnis ausgestattet. Wahrscheinlich beides. Nichtsdestotrotz: Seine Spürnase hatte ihn nicht im Stich gelassen. Wenigstens konnte er sich damit rechtfertigen, dass er von Anfang des Auftrags an keine Wahl gehabt hatte als in die Falle zu treten. Ein schwacher Trost. Er wandte sich zu Sina um, funkelte sie grimmig an und knurrte: “Sicher. Vertrag ist Vertrag. Können Sie mir wenigstens verraten, was der Spießrutenlauf mit der Verfolgungsjagd soll? Ist das ein Spielchen, oder konkurrieren Sie mit Brack um meinen Kopf?”

“So leid es mir tut, - und das meine ich ernst - aber ich habe explizite Weisung, Ihnen diese Information nicht zu geben.” Tatsächlich schwang in Sinas Stimme ein Anflug von Bedauern mit. “Nun lassen Sie uns das Thema wechseln, denn die Prinzessin wird gleich ihren Schönheitsschlaf beenden.” Einen Moment überlegte Fiedler, ob er noch etwas sagen sollte, zog es dann aber vor, zu schweigen und seine Aufmerksamkeit auf Steinmeier zu richten. Aus dem Augenwinkel registrierte er, dass Sina nun auch aus der Deckung des Schattens heraustrat und den am Boden Liegenden erwartungsvoll ansah.

Völlig unvermittelt, ohne jede Regung seiner Glieder, schlug Finn die Augen auf, die mit raschen Bewegungen ihrer weit geöffneten Pupillen die Umgebung abtasteten. Erst eine Sekunde später schien die Beweglichkeit in den Rest seines Körpers zurückgekehrt und er stützte sich ruckartig mit den Ellenbogen nach oben, sah sich nach links und rechts um und fragte mit eingerosteter Stimme: “Astrid? Bist du das?”

Nun war es an Fiedler, die Augen zu verdrehen. Natürlich musste ein ehemaliger Seifenopernschauspieler bei seiner Rückkehr von den Toten alle verfügbaren Klischees bedienen. Da von Sina keine Antwort zu hören war und weil im Grunde er es gewesen war, der Steinmeier gerufen hatte, räusperte sich Fiedler. “Hallo Finn. Sind sie OK?” Eine einfühlsamere Begrüßung fiel ihm nicht ein, zu sehr war ihm immer noch nach fluchen zumute.

Erst jetzt schien Steinmeier die tatsächlich Anwesenden zu bemerken und sein Blick fokussierte erst auf Fiedler, dann auf Sina. “Ah, Fiedler. Sie sind das.” Nachdenklich zog er die Stirn kraus. “Sina, was ist mit den Sternen passiert? Wie komme ich hierher? Wo sind die anderen?” Er blickte die Beschworene fragend an.

“Sterne? Andere?” Auch Fiedler wirkte interessiert und war einen Hauch weniger verärgert als zuvor. “Wissen Sie wovon er redet, Lady?”

Mit einer beiläufigen Geste winkte Sina ab. “Nichts Relevantes. Das ist nur eine Nebenwirkung: die Erinnerung an einen Traum, Finn. In ein paar Momenten ist sie verschwunden.”

Die Verwirrung in Finns Gesicht wich einem verzweifelten Ausdruck. “Nein, ich will Astrid nicht schon wieder vergessen! Verdammt noch mal, bin ich denn verflucht?”

Fiedler versuchte, beruhigend zu klingen. “Alles ist in Ordnung, Finn. Sie werden uns helfen, Astrid zu finden und wieder zurück zu bringen. Niemand spricht davon, dass Sie Astrid vergessen müssen.”

“Aber Astrids Stimme war da in meinem Traum. Sie war da, ganz echt.” In Steinmeiers Gesicht arbeitete es, als er sich deutlich darum bemühte, seine Erinnerungen zu einem kohärenten Bild zu fügen. “Sie hat mir gesagt, dass ich nicht sterben soll, dass ihr kommen würdet, um mich zu retten. Wir ... haben geredet.” Ein verblüffend breites Spektrum an unterdrückten Emotionen wechselte über Finns Gesicht, bevor er fortfuhr: “Sie hat mir gesagt, dass wir nicht in die Ödnis zu gehen brauchen, um sie zurück zu holen. Sie wartet am Grund eines Brunnens darauf, dass ich sie rette ... wobei der Brunnen so eine Art Tor zum Jenseits ist.” Erneut stockte der ohnehin kaum zusammenhängende Redefluss, als Steinmeier sich um mehr Details bemühte. “Dann waren da diese Fliegen. Die Ratten können uns zu dem Brunnen führen, wenn wir ihnen genug bezahlen. Dann war sie weg.” Etwas Farbe wich aus Finns Gesicht und über dem vormals angestrengt grüblerischen Ausdruck legte sich eine Spur verblassten Grauens. “Statt dessen kam dieser kranke Baron Voodoo-Götze und wollte mich ... haben.” Steinmeier schüttelte sich angewidert und setzte sich auf. Seine Miene hellte sich auf, als er sich auf die aktuelle Situation konzentrierte, und er sah Sina ehrlich dankbar an. “Sie haben mich wahrscheinlich vor dem Tod gerettet, danke. Habe ich bei Ihnen jetzt so eine Art Lebensschuld? Wie ist das hier an der Grenze?”

In einer Geste professioneller Bescheidenheit neigte Sina den Kopf. “Nein, Finn Steinmeier, Sie stehen nicht in meiner Schuld. Ihr Überleben liegt in unserem gemeinsamen Interesse und es wäre gierig und unangemessen hier eine Schuld einzufordern.”

Sie wollte noch etwas sagen, doch Fiedler fiel ihr fast schon ungehalten ins Wort: “Bevor Sie jetzt noch mehr Süßholz raspeln, kümmern wir uns doch um Unbehauns Auftrag. Schließlich haben Sie Steinmeier doch nur für diesen Zweck wiederhergestellt, Sina, oder?” Ein Seitenblick auf Steinmeier zeigte ihm, dass seine Formulierung bei diesem für die erwartete Ernüchterung sorgte, bevor er an Sina gewandt fortfuhr: “Wir müssen hier raus und wir müssen hier weiter. Vorerst scheinen wir unsere Verfolger zwar abgehängt zu haben, aber irgendwann werden sie unsere Spur wieder aufnehmen - und ich habe nicht vor, dann immer noch am dreckigen Grund dieses verdammten Aufzugsschachtes festzustecken. Sie scheinen so etwas schon häufiger gemacht zu haben, deshalb frage ich Sie nach Ihrer fachkundigen Meinung: Liegt außer Wünschen, Ängsten und Nebenwirkungen noch ein Körnchen Wahrheit in den Fieberträumen Ihres Patienten?” Etwas irritiert sah er zu Finn hinüber, der fassungslos etwas am Rande der vom Taschenlampenlicht spärlich erleuchteten Aufzugskabine ansah. “Was ist denn jetzt schon wieder, Steinmeier? Haben Sie einen Geist gesehen?”

Wortlos zeigte der Angesprochene an die Stelle des Aufzugs, an der Sina zuvor seinen todgeweihten Körper gefunden hatte. Mit ein paar energischen Schritten durchquerte Fiedler den Raum und brachte den besagten Boden- und Wandabschnitt in den Brennpunkt seines Taschenlampenkegels. Erst als er sich stirnrunzelnd herunterbeugte, begriff er, dass dort - und nur dort - Dutzende glänzender schwarz schillernder Perlen den maroden PVC-Boden übersäten: die reglosen chitingepanzerten Körper toter Schmeißfliegen.


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