16. Unterstadt (1)

Argwöhnisch betrachtete Fiedler den reglosen Insektenkadaver, den er soeben vorsichtig aber geschickt auf die blanke Klinge seines Dolches genommen hatte, und lauschte nachdenklich Steinmeiers aufgeregten Ausführungen. “Wenn ich es Ihnen doch sage: Kaum war Astrid verschwunden, tauchte dieser Voodoo-Typ auf - so aus dem Nichts - und mit ihm ein ganzer Schwarm Fliegenviecher! Natürlich ist das alles real und nicht etwa ein Traum oder eine Halluzination! Glauben Sie mir, als erfahrener Schauspieler entwickelt man ein feines Gespür für Realität und Täuschung - und das war ganz eindeutig echt.” Steinmeier wandte sich nach Bestätigung heischend zu der sich im Hintergrund haltenden Sina um. “Sie haben den Kerl doch sicherlich gespürt, oder? Eine Erschütterung der Macht oder so...”

Die Angesprochene zog verwundert die Augenbrauen hoch und entgegnete pointiert: “Die einzige Erschütterung, die Sie sich meiner Ansicht nach zugezogen haben, ist der Aufschlag der Kabine hier unten im Schacht. Was darüber hinaus geht, lässt sich schwer sagen.” Sie zögerte, jedoch zu kurz, als dass Steinmeier etwas sagen konnte. “Der Zauber, mit dem Sie geheilt wurden, ist häufig mit gewissen Trugbildern verbunden - allerdings muss ich zugeben, dass Samedi darin sicher keinen Platz hat. Für das tote Ungeziefer da,” sie wies grob in Richtung der Fliegen, “bin ich auch nicht verantwortlich. Samedi hingegen liebt diese Viecher. Heiß und innig.” Sinas Miene verlieh ihrem Ekel und ihrer Abscheu hinreichend Ausdruck.

Ruhig und nüchtern mischte sich Fiedler ein, den Blick nicht von dem schwarzen Insekt auf der silbrigen Klinge abwendend. “Logisch betrachtet gibt es für die Fliegen zwei mögliche Erklärungen: Entweder sind sie schon immer hier gewesen oder Steinmeier hat Recht.

Als wir vorher zusammen im Aufzug fuhren, hätten wir einen Schwarm von ihnen sicherlich bemerkt. Das hat aber keiner von uns und damit gehe ich davon aus, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht in der Kabine waren. Damit wäre es einerseits möglich, dass sich die Tiere ursprünglich hinter einer Abdeckung befunden haben. Beim Aufprall müsste sich eben diese Abdeckung gelöst haben und die toten Fliegen müssten in etwa dort zum Liegen gekommen sein, wo sich auch unser Herr Steinmeier befand. Gegen diese Annahme spricht, dass die Insekten auf mich noch nicht ausgetrocknet wirken. Sie müssten also erst vor kurzem gestorben sein. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass wir den Geruch eines Kadavers in der Wand nicht wahrgenommen hätten, wenn er diese Menge von Fliegen anziehen kann.

Die Alternative dazu ist freilich, dass tatsächlich der Ghede dem an der Schwelle des Todes stehenden Herrn Steinmeier einen Besuch abgestattet hat. Auszuschließen ist das nicht, schließlich schien der Baron schon in der Jungle Lounge sehr an diesem interessiert - und nachtragend kann er durchaus sein. Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie Samedi dieses Mal losgeworden sind?” Mit fragendem Blick drehte sich Fiedler zu dem etwas verunsichert hinter ihm stehenden Finn um.

“Ich ... ahm ... glaube, ich habe ihn ... auf meine Art abgewimmelt - so ähnlich wie letztes Mal. Meine Gabe und so. Sie wissen schon...” Steinmeier versuchte souverän und rebellisch auszusehen, konnte seine Unsicherheit aber nicht ansatzweise überspielen.

“Und was passierte dann?” Fiedler ließ nicht locker.

“Nichts. Also er war weg. Ich glaube, er war ziemlich sauer. Er hatte mir, glaube ich, noch gedroht.” Steinmeier zog die Stirn kraus, während er angestrengt in seinen Erinnerungen wühlte. “Aber er war weg und ich war allein. Ziemlich lange, glaube ich. Und dann...” Finns zuvor angestrengter und störrischer Ausdruck hellte sich auf. “... dann war der Aufzug plötzlich weg und ich lag unter diesem total klaren und intensiven Sternenhimmel und da waren die Feuer im Sand, der Geruch nach Rauchzeug und die singenden Leute und ...”

“Genug davon, Finn!” Einen Tick lauter als nötig fiel Sina ihm ins Wort. “Diese Erinnerungen haben nun eindeutig nichts mehr mit dem Ghede oder dem Aufzug zu tun.” Der Blick, den sie Fiedler zuwarf, duldete keinen Widerspruch. “Sparen Sie sich das Nachhaken, Herr Detektiv! Dafür kann ich Ihnen mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das Auftauchen von Samedi nichts mit meinem Zauber zu tun hat.” Sie drehte sich immer noch mit strenger Miene zurück zu Steinmeier, der - sei es aus Höflichkeit oder Einschüchterung -  keine Anstalten machte, von sich aus weiter zu erzählen.

“Vielleicht liegt es daran, dass ich vor und nach dem Tod weniger von ihm zu befürchten habe als Sie, aber mir dreht sich die Geschichte gerade viel zu sehr um Samedi. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihre Begegnung mit dem Ghede echt war, dann sollten wir auch ernst nehmen, was Sie von Astrid erzählt haben. Wie war das? Sie wartet auf Sie am Grunde eines Brunnens?”

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