19. Aus der Tiefe (2)

Der Boden war kalt und so trocken, wie es der Boden einer finsteren Höhle eben sein konnte. Für einen Moment musste Finn gegen den Gedanken an toxischen Finstervogelkot ankämpfen, dann eilte ihm aber seine Vernunft zur Hilfe mit dem Hinweis, dass man so eine Guanomenge doch sicher hätte riechen müssen. Da die Luft hier zwar feucht und klamm und nach Keller aber keineswegs nach Vogelkacke roch, tastete er sich fast mutig auf allen Vieren voran.
Er war noch keine Körperlänge vorangekommen, als plötzlich ein Luftzug seine Haare und sein rechtes Ohr streifte. Ein zweiter folgte unmittelbar, als wäre etwas knapp über seinem Kopf vorbei geflogen. Unwillkürlich zog Steinmeier den Kopf ein und fluchte innerlich über seinen Leichtsinn und Fiedlers uneindeutige Ja-Nein Spielchen mit der Ratte. Klar wichen die Finsterviecher dem Kirchengestühl aus - aber offenbar nur verdammt knapp!
War jetzt der richtige Moment zum Umkehren? Nein. Das Schicksal sollte entscheiden, da blieb kein Platz für Feigheit oder Selbsterhaltungstrieb. So eng es ging duckte er sich in die Ecke zwischen Bank und Boden und robbte auf Ellenbogen und Knien weiter. Dabei hoffte er inständig darauf, dass die Vögel in den Zwischenräumen zwischen Sitzreihen nicht den ganzen Luftraum bis zum Boden ausnutzen mochten. (Sicher würden sie ihn nicht bemerken.)
Meter um Meter schob sich Finn voran. Immer dichter wurde der Vogelschwarm über ihm und immer häufiger sauste ein gefiedertes, mit Krallen, Klingen und Dornen bewehrtes Etwas an ihm vorbei. Mehr als einmal spürte er, dass etwas rasch und leicht aber reißend und rupfend über seine Jacke streifte - und jedes mal fuhren ihm Schrecken und die Erwartung brennender Schmerzen eiskalt durch die Glieder.
Dann war mit einem Mal der Spuk vorbei. Etwas überrascht und ziemlich erleichtert registrierte Finn, dass an seinem Kopf keine manifestierten federbewehrten Vogelleiber mehr vorbeizischten. Dennoch besaß er die Geistesgegenwart nicht gleich aufzuspringen, sondern stattdessen noch ein Stückchen weiter zu kriechen und dann noch eines, bis er sich sicher war, dass auch seine Füße nicht mehr unter dem "Schatten" des Schwarms waren. Dabei bemerkte er vor sich ein schwaches, aber mit zunehmender Annäherung stärker werdendes bläuliches Glimmen, dessen Ursprung sich in Bodennähe befinden musste. Leuchtete der Brunnen etwa? Was war aus der "guten Tradition" der finsteren gefährlichen Orte geworden? Den eigenen ironischen Gedanken genießend löste Steinmeier seinen Körper von den kalten Pflastersteinen, drückte sich vorsichtig hoch auf alle Viere (die Vögel würden ihn auch so nicht bemerken) und krabbelte vorsichtig in Richtung der aus dem magisch verstärkten Dunkel immer deutlicher hervorstechenden Lichtquelle. Mit jedem Schritt wich die unnatürliche Schwärze mehr und mehr zurück, bis sich ein mit breiteren Steinblöcken umsäumter, etwa fünf bis sechs Meter durchmessender kreisrunder Schacht aus den Schatten schälte. Aus der von Finns Position nicht einsehbaren Tiefe entsprang das bereits zuvor erahnte blaue Glimmen  und tauchte die Szene in diffuses, unregelmäßig pulsierendes Licht, der Helligkeit einer Vollmondnacht entsprechend.
Ein vorsichtiger Blick über die Schulter zeigte, dass der Vogelschwarm keine 2 Meter hinter ihm wie eine wabernde flatternde Wand den Luftraum füllte. Diesen wie von einem unsichtbaren Kreis bestimmten inneren Radius unterschritt jedoch keines der unangenehmen Wesen - zumindest nicht, so lange sie Finn nicht bemerken würden. (Und das würden sie nicht.) Zeit und Anlass genug also, um sich zunächst einmal mit dem leuchtenden Abgrund vor sich zu beschäftigen - die wenigsten Brunnen strahlten blaues Licht aus, nur um blau zu leuchten. So konzentriert wie eben möglich versuchte er sich an das zu erinnern, was Fiedler über den Brunnen erzählt hatte: Das Ding war ein Loch in der Realität, das zu einer Art Totenwelt führte. Außerdem war es verdammt alt und zumindest früher von einer Kreatur bewohnt, die einen Totenkult um sich initiiert hatte. Schaudernd schüttelte er den Kopf. Wäre ihm so etwas vor zwei Jahren als Drehbuchvorlage angeboten worden, hätte er die Nase gerümpft und herablassend freundlich den absurden B-Movie abgelehnt. Steinmeier schüttelte widerwillig den Kopf und besann sich auf die Gegenwart.

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