19. Aus der Tiefe (4)

Seine Fingerkuppen berührten erst halbfeuchtes rauhes und bereits etwas brüchiges Leinengewebe, dann schloss sich seine Hand um einige vom Stoff lose umschlossenen etwa daumendicken Stäbe, die sich leicht gegeneinander bewegen ließen. Das Ganze wirkte wenig bedrohlich, sondern eher wie Werkzeug oder ein Zeltgestänge. Finns Neugier überwog nun seine Vorsicht bei weitem und er nahm das Bündel hoch, wickelte es einigermaßen behutsam aus und versuchte zu verstehen, was er da sah: Drei kurze Holzstäbe, die so wirkten, als könnte man sie zusammenstecken, sowie eine lange um ein Stück Holz gewickelte Schnur, an deren Ende ein schlichter Zinnbecher befestigt war. Mit etwas Phantasie konnte man sich die Einzelteile zu einem Ganzen zusammengesetzt als eine etwas merkwürdige und primitive Angel vorstellen, an deren Ende sich eben ein Becher anstelle eines Angelhakens befand. Finn stutzte, dann erschien auf seinem Gesicht wieder sein rebellisches Markenzeichen-Grinsen. Das Ding kam ihm gerade recht. Zufall? Egal. Schicksal! Das Bündel mit der Angel unter den Arm geklemmt, machte er sich auf den Weg zur anderen Treppe. Schicksal hin, Schicksal her - er hatte nicht vor, auf der viel zu schmalen und viel zu alten Treppe über einem leuchtenden Brunnenschacht mit Direktverbindung zum Totenreich um ein menschliches Skelett herumklettern zu müssen.
Der Abstieg in den Schacht glich einem Ausstieg aus der restlichen Welt. Je tiefer Finn in die blau durchstrahlte Tiefe hinunterstieg, desto beherrschender wurde die kühle, neblig feuchte und beklemmend ruhige Atmosphäre im Inneren des Brunnens. Bevor er die Treppe betrat, hatte er noch einmal überschlagen, ob es nicht reichen würde, mit der Angel oben am Rand des Brunnens zu bleiben. Jedoch schien ihm die Schnur zu kurz und auch wenn die Lichtschleier unten im Schacht eine Abschätzung der Tiefe schwierig machten, wirkte der Brunnen zu tief - genauer gesagt ließ sich kein Grund ausmachen. Warum hätte sich schließlich der Tote auf den Stufen überhaupt die Mühe eines Abstiegs machen sollen, wenn die Angel als Werkzeug ausgereicht hätte? Nein, ihm blieb keine andere Wahl, als in den Brunnen hinunter zu steigen, wenn er Astrid retten wollte.
Hier unten war die Luft feucht und von einem dünnen seltsamen Nebel durchdrungen, der das blaue Leuchten zu tragen und zu verstreuen schien. Die unebenen und stellenweise fast völlig ausgetretenen Steinstufen waren nass und glitschig und jeder einigermaßen sichere Schritt erforderte Konzentration und Bedacht. Schon gut zwanzig Meter über Steinmeiers Kopf schwebte der Brunnenrand, zu einer dunklen Scheibe geschrumpft, als sich unten im Nebel undeutlich ein Ende der Treppe abzuzeichnen begann. Entgegen Finns Befürchtungen hörten die Stufen aber nicht einfach im Vertigo-induzierenden Nichts auf. Sie führten auch nicht einfach zu einer trüben Wasseroberfläche und darunter weiter, um allen Schrecken den Aufstieg zu erleichtern, die aus dem Totenreich hinauf drängen wollten. Stattdessen endeten beide Treppen auf einer weiteren steinernen Plattform, in deren Mitte ein rundes, drei Meter durchmessendes völlig schwarzes Loch klaffte, aus dem unentwegt blau lumineszierende Nebelschwaden aufstiegen. Diesmal führte keine Treppe weiter hinunter. Für einen lebendigen Menschen war es nicht vorgesehen, weiter nach unten zu steigen.

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