19. Aus der Tiefe (3)

Dummerweise hatte Fiedler keine guten Tipps gehabt, wie er sich im Umfeld des Brunnens zu benehmen hatte. Allerdings zweifelte Finn grundsätzlich daran, ob der Detektiv überhaupt mehr Details hatte. Darüber hinaus war er auch sich nicht gänzlich sicher, inwiefern die vorhandenen Informationen von Gedächtnislücken verfälscht worden waren, sei es aufgrund von Zeit, Whiskey oder berufsbedingten Erschütterungen von Fiedlers Schädel. Bislang hatte sich eigentlich gar nichts an der Grenze als rundweg harmlos herausgestellt und Finn beschloss, lieber behutsam vorzugehen. Andererseits - wenn das Schicksal ihn hätte sterben lassen wollen, dann wäre er sicher schon im Finstervogelschwarm verendet.
Mut fassend schob er das Kinn vor, richtete sich mit schmerzenden Knien auf und sah sich den strahlenden Brunnen vor sich näher an. Getreu dem ersten Eindruck handelte es sich um einen runden, in Stein gefassten Schacht, dessen Wände mit den gleichen glatten braungrauen Steinen ausgekleidet waren, die bereits den Boden der gesamten Halle auskleideten. Das Rund der Brunnenöffnung war an zwei Stellen von den Absätzen zweier Treppen unterbrochen, deren etwa einen halben Meter schmale gefährlich rund getretene Stufen sich als zwei steile parallel gewundene Spiralen in die Tiefe hinab zogen. An den matt glänzenden mit angelaufenen Wellenmustern verzierten Steinwänden tanzten träge Lichtschleier mit weichen Schatten und suggerierten eine ruhige, kaum bewegt und irgendwie blau beleuchtete Wasseroberfläche unten in der Tiefe.
Es war ein etwas dunklerer unebener Umriss ein paar Meter unterhalb des Brunnenrandes auf der Treppe ihm gegenüber, der Steinmeiers Aufmerksamkeit auf sich zog. War das eine weitere Gefahr, die ihm dort auflauerte? Reflexartig tastete er nach einer Waffe an seinem Gürtel, zog seine Hand aber etwas peinlich berührt wieder zurück als er realisierte, dass er unbewaffnet war. Erneut wallte Sarkasmus in ihm auf: sein großartiger Plan, das Schicksal herauszufordern wurde natürlich ungleich besser und heldenhaft dämlicher, wenn er sich gerade mal mit bloßen Händen wehren könnte! Finn riss sich zusammen. Was auch immer dort lag, gefährlich oder nicht, es würde ihn dank seiner Gabe gar nicht erst wahrnehmen, wenn er etwas näher rückte, um sich die Sache anzusehen. Langsam, vorsichtig und geduckt schlich er um den Brunnen herum in Richtung der gegenüberliegenden Treppe, seine Schritte bei weitem übertönt vom Brausen und Flattern des tödlichen Vogelschwarms, keine drei Armlängen entfernt.
Nach ein paar Metern und einigen Anflügen vagen Grusels gestand sich Steinmeier ein, dass es die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels waren, die dort in die Tiefe des Brunnens starrten. Der Rest des Skelettes lag in vermoderten Tuchfetzen wenig zusammenhängend verteilt über die nächsten Stufen. Bei allem zivilisationskonditionierten Grauen ob dieser Erkenntnis verspürte Finn aber auch eine gewisse Erleichterung: Ein Skelett in so schlechten Zustand würde sich wohl (hoffentlich) nicht als Untoter gegen ihn erheben. Jedenfalls nicht, so lange nicht dieser Irre Möchtegerngott namens Samedi hier aufkreuzte. Der letzte Gedanke ließ Finn innerlich zusammenzucken. Verdammt. Er war hier nahe am Totenreich. Siedend heiß fiel ihm das “Gesetz der Namen” wieder ein, das ihm einer von Fiedlers aalglatten Kumpels in seinen ersten Wochen an der Grenze nahegebracht hatte. Namen hatten hier Macht. Einen Namen auszusprechen hieß, dessen Besitzer zu rufen - und insbesondere bei Geistern, Göttern und sonstigen Beschworenen war das gerne eine fahrlässig ausgesprochene Einladung mit schwerwiegenden Folgen. Er nahm sich fest vor, den Namen des Barons nicht auszusprechen und wenn möglich, nicht einmal explizit zu denken.
Entschlossen richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf die sterblichen Überreste auf der Treppe. Ein paar Schritt oberhalb der skelettierten Leiche lag noch etwas auf den Stufen, das aussah, wie ein längliches Bündel aus grobem, im blauen Licht des Brunnens schwarz erscheinenden Stoff. War das der Grund für das Ableben des Toten? Nun gut, die wenigsten Finn bekannten und vorstellbaren Monster waren in einen schwarzen Sack gewickelt - aber konnte man das wissen? Verächtlich schnaubend besann sich Steinmeier auf sein neu beschlossenes Motto, das Schicksal herauszufordern und hielt auf das Bündel zu. Was es auch war, es bewegte sich nicht. Bereit zurückzuspringen beugte er sich hinunter und streckte eine Hand aus, um es aufzunehmen.

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