19. Aus der Tiefe (6)

Tor zum Jenseits? Endgültig? Von wegen! War er nicht hier, um Astrid durch eben dieses Tor zurück ins Diesseits zu holen? Finn zuckte zusammen, als wäre er gerade aus einem Albtraum erwacht. Für solche Gedanken hatte er gerade keine Verwendung, durfte er gerade keine Verwendung haben. Nietzsche hatte Recht: Er musste vermeiden, dass der Abgrund in ihn hineinsah! Also konzentrierte sich Steinmeier erneut und diesmal mit aller Kraft auf die Montage der altertümlichen Angel.
Im Grunde war es eine einfache Konstruktion, aber die Holzteile waren alt und über die Jahre (oder waren es Jahrhunderte?) in der klammen Umgebung des Brunnenschachtes aus der Form gegangen. Steinmeier fluchte, als ihm ein halb-montiertes Stangenteil aus seinen nervösen, schweißnassen Händen rutschte und laut klappernd auf den Steinboden fiel. Rasch fasste er hinterher, damit es nicht am Ende noch in den schwarzen Schlund des Brunnens rollen konnte, doch als er zupackte, jagte ein plötzlicher klarer Schmerz durch seine rechte Hand. Ein weiterer Fluch entfuhr Finns Lippen, als er das gefangene Angelteil diesmal vorsichtiger mit der Linken übernahm und sich seine verletzte Hand ansah. Quer über seine rechte Handfläche zog sich ein etwa vier Zentimeter langer leicht gewellter Schnitt, aus dem ein schmales aber stetiges Rinnsal an Blut quoll. Auch das noch!
Jenseits von Schmerz, Schreck und Ärger über seine eigene Unzulänglichkeit registrierte Finn überrascht, dass ein Teil von ihm die Verletzung durchaus erfreut aufnahm. Er blutete - und so lange er blutete, so lange sein Herz noch schlug, war er zumindest noch am Leben. Diese positive Verknüpfung blieb jedoch im Status einer Fußnote, während er mit der linken Hand hastig nach irgendetwas tastete, das er als Verbandsmaterial verwenden konnte. Es vergingen einige bluttriefende Sekunden, bis Finn in einer selten genutzten Innentasche seiner Jacke ein längst vergessenes Stofftaschentuch gefunden und entgegen dem Widerstand des fummeligen Reißverschlusses auch daraus geborgen hatte. Als notdürftiger Verband drei Mal um die Hand gewickelt und ungelenk provisorisch verknotet hielt der Stoff zumindest den Großteil der Blutung auf und versprach zudem, die schmerzhafte Verletzung vor weiteren physischen Belastungen oder eindringendem Dreck zu schützen. Gab es so etwas wie Tetanusimpfungen an der Grenze? Nun, Finn würde es wohl herausfinden müssen - aber erst nachdem er Astrid aus diesem vermaledeiten Loch befreit hatte!
Begleitet von gelegentlichen unterdrückten Schmerzenslauten nahm Finn verbissen seine Arbeit an der Angel wieder auf. Unterstützt von Wackel- und Drehbewegungen fügten sich die drei Stangenteile zu einer erstaunlich stabil wirkenden Rute zusammen. Skeptischer stand Steinmeier dafür der Angelschnur gegenüber, die sich vergilbt und widerwillig von einer kunstvoll verzierten Metallrolle abwickeln sollte. Mangels besserer Alternative und mit viel Fingerspitzengefühl und Feinarbeit sowie einer gehörigen Prise Geduld fädelte er dann aber doch die störrische Kordel durch die diversen Ösen (von denen eine verdächtig blutverschmiert war). Zuletzt gelang es ihm dann noch, den Metallbecher mit Hilfe einer Art Dreibein aus Messingstäben am Ende des Angelfadens zu befestigen, sicherheitshalber mit einem vierfachen Knoten, auf dass die wertvolle Fracht nicht am Schluss noch wegen seiner Ungeschicklichkeit verloren gehen konnte.

Keine Kommentare: