19. Aus der Tiefe (7)

Nach vollendeter Arbeit wog Finn das Werk seiner Hände in selbigen und musterte es skeptisch. Abgesehen von zahlreichen Blutflecken, ein paar Kratzern und Schönheitsfehlern sah die Konstruktion eigentlich ganz gut aus. Aber was wollte er eigentlich damit? Wie gut war sein Plan denn überhaupt? Der Metallbecher an der Angelschnur war mehr als groß genug für Fiedlers Seelenfängerkapsel und so weit er das abschätzen konnte, würde die Stange das Gewicht auch tragen. Warum also sollte er nicht die Angel als Werkzeug benutzen? Andererseits - woher wusste er, dass er den Seelenbehälter in das Loch halten sollte? Wie das Sprichwort schon sagte: Wenn man nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht alles wie ein Nagel aus - und er hatte nur eine Angel... War die ganze Geschichte mit der Leiche und der Angel nicht zu verdammt unwahrscheinlich, um Sinn zu machen? Die Sache lief einfach zu glatt!
Oder war seine Glückssträhne vielleicht darin begründet, dass er endlich dem richtigen Ruf des Schicksals gefolgt war? Ging es den anderen Menschen, den erfolgreichen glücklichen Menschen etwa dauerhaft so, dass ihnen die Welt Handreichungen wie die Angel vor die Füße legte? Steinmeier beschloss, es bei der letzten Überlegung zu belassen und fingerte Fiedlers/Giorgios Seelenkapsel aus seiner Jackentasche. Bedächtig wog er das kühle Oval in der Hand und dachte nach. Er hatte nur diesen einen Versuch. Wenn die Seelenkapsel verloren ging, war seine Chance vertan und er würde Astrid im Brunnen zurücklassen müssen.
Vor sich selbst erschrocken verdrängte er eilig die aufkeimende Idee, sich in diesem Fall einfach Astrid entgegen zu stürzen und besann sich. Je länger er in diesem wortwörtlichen Loch fest saß, desto mehr setzte ihm die klamme und unwirkliche Atmosphäre zu. Halb unbewusst ballte er seine verwundete Hand zur Faust und genoss den pulsierenden dumpfen Schmerz als Lebensbeweis.
Solchermaßen verankert fanden seine Gedanken den Weg zurück zu ihrem Ausgangspunkt: Der Plan, die Seelenfalle gleich einem Köder an der Angel hinunter in den Brunnen zu senken, war riskant, da er keine Ahnung hatte, was dort unten in der schwarzen Tiefe vor sich ging. Das ursprüngliche Brunnenmonster war laut Fiedlers Quelle zwar unschädlich gemacht, aber das hatte noch lange nicht zu bedeuten, dass sich dort unten nicht etwas oder jemand anderes eingenistet hatte und mit nicht näher beschriebenen Gliedmaßen nach der Kapsel haschen würde. Selbst ohne aktive Einmischung konnte die wertvolle Fracht der Angel verloren gehen - sei es durch Strömungen, Winde, plötzlich geänderte Naturgesetze oder was sich diese vermaledeiten Grenze noch so alles einfallen lassen mochte.
Der erleuchtende Gedanke kam aus seiner Zeit am Theater: eine Generalprobe! Das war die Idee. Er würde die Szene einfach einmal trocken durchspielen - ohne die Kapsel. Rasch verstaute er den Seelenbehälter wieder  in seiner Tasche und ging vorsichtig näher an den Rand des Abgrunds. Dabei bemühte er sich, nicht zu tief in diesen hinein zu blicken, so sehr ihn Neugier und Angst auch reizen mochten. Schließlich setzte er sich umständlich mit ein paar Handbreit Sicherheitsabstand zum Rand des Abgrundes auf den kalten, nebelfeuchten Boden und streckte langsam und angespannt die Angelrute über das Loch ins Jenseits. Unverändert stiegen die glühenden Nebelfetzen träge empor und wehten durch den gemauerten Schacht. Wenn es eine Reaktion auf die Angel gegeben haben sollte, dann war sie derzeit für Finn nicht erkennbar. Behutsam, als könnte er dabei ertappt werden, löste er die Fixierung der Spule, auf der die Angelschnur aufgewickelt war und begann kontrolliert und vorsichtig den Metallbecher am Ende des Fadens in den finsteren Schlund hinabzusenken. Meter um Meter verschlang die Tiefe, ohne dass eine andere Kraft als das Gewicht des Bechers auf die Angel und Finns haltende Hand wirkte. Schließlich war die gesamte Schnur abgewickelt. Einen bangen Moment hatte Finn befürchtet, sie wäre nicht an der Spule befestigt und würde ausfädeln und auf Nimmerwiedersehen im Loch verschwinden. Dann aber zog ein großer Knoten den Faden stramm und hielt ihn sicher an Spule und Angel befestigt.

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