19. Aus der Tiefe (5)

Steinmeier setzte seinen Fuß auf den im blauen Licht feucht glänzenden steinernen Absatz. Er stutzte, wusste im ersten Moment aber nicht warum. Dann begriff er, dass sein Schritt von keinerlei Geräusch begleitet gewesen war. Ungläubig zog er die Augenbrauen zusammen und scharrte mit dem Fuß. Nichts. Langsam dämmerte ihm die vage Erkenntnis, dass er eigentlich schon länger keine Laute mehr gehört hatte. Ein kurzes Tappen an seine Ohren zeigte ihm, dass diese wohl noch funktionierten und die Ursache für das Phänomen wohl anderenorts zu suchen war. Etwas unsicher drehte er sich zurück zur Treppe und ging ein paar Stufen hinauf und wieder hinunter. Nichts. Das Gefühl der klammen kühlen nebligen Luft und das ewige blaue Leuchten waren die einzigen Wahrnehmungen hier unten. Ein merkwürdiger, unwirklicher Ort.
Sich auf sein ursprüngliches und “schicksalshaftes” Vorhaben besinnend, wagte er sich vorsichtig mit kleinen Schritten näher an den Rand des dunklen Abgrundes in der Mitte heran. Offenbar war auch dieses Loch das obere Ende eines gemauerten Schachtes, dieses Mal passte aber der Stil der Einfassung nicht zum Mauerwerk der Schachtwände. Während die Plattform, auf der Steinmeier stand, wie der Rest des unterirdischen Gebäudes (Tempels?) aus graubraunen Stein bzw. Steinblöcken bestand, begann hier unmittelbar unter der Einfassung eine unebene Brunnenwand aus nur grob behauenen und fast fugenlos zusammengesetzten Steinen deutlich dunklerer Färbung, die sich hinunter in die Dunkelheit bis außer Sichtweite zog.
War es wirklich eine gute Idee, dort hinunter zu starren? Das Nietzsche-Zitat drängte sich in Finns  Gedanken: “Wenn du lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” Dieser spezielle Abgrund führte in ein Totenreich und hatte wohl schon einmal ein Monster beherbergt. Steinmeier schluckte trocken und wich zurück. Nahe der Schachtwand kniete er sich zu Boden und begann damit, die Angel zusammenzubauen. Das Bündel raschelte und scharrte, als er es auf die Steinplatten der Plattform legte, was ihn stutzen ließ. Vorsichtig klopfte er selbst mit dem Fuß auf den Boden - doch nichts war zu hören. Wie konnte es sein, dass er keine Geräusche verursachte, aber dieses banale Ding dort schon? Ein unangenehmer Verdacht keimte in ihm auf: Konnte es hier, im unmittelbaren Umkreis eines Tores zur Unterwelt eine Rolle spielen, dass er vorhin bei dem Unfall im Aufzug selbst quasi tot gewesen war? Wurde hier womöglich Sinas Heilzauber, oder was auch immer ihn zurück zu den Lebenden geholt hatte, angefochten und ungültig? Oder ... war er dort oben, als er unter dem Vogelschwarm hindurchgekrochen war, am Ende doch getroffen worden und einmal mehr gestorben ohne es zu merken? Der Brunnen und seine unwirkliche Umgebung - all das mochte vielleicht nur eine Metapher sein für seinen eigenen Übergang ins Jenseits! Wenn er nur noch ein Geist war, dann machte es auch Sinn, dass seine Schritte nicht zu hören waren und dass diese Nebelschwaden ihm nicht auswichen. Paralysiert hing Finn dem Gedanken nach, versuchte seine Logik zu entkräften und fühlte seine Blicke wider seinem bewussten Willen immer wieder in Richtung Mitte des Absatzes wandern, hin zum Abgrund, zum weit offen stehenden Tor zum endgültigen Jenseits.

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