19. Aus der Tiefe (9)

“Dummkopf! Ich hatte nie einen Film mit dir gesehen, als wir uns kennengelernt haben. Du hast mich in ‘Dunkelmanns Machenschaften’ geschleppt und ich mochte ihn nicht, weil du nicht du warst.” Astrids Stimme hatte einen drängenden eindringlichen Ton angenommen. “Bitte hör auf mich und flieh! Er ist fast da! Du hast nicht mehr viel Zeit!”
Verwirrt blickte sich Finn auf der menschenleeren und völlig ruhigen Plattform um. “Wer ist fast da?”
Wie zur Antwort setzte sich eine dicke Fleischfliege auf seine verletzte Hand. Steinmeier schrie auf, als hätte ihn ein Skorpion gestochen, sprang auf und schüttelte sie ab. Panikerfüllt sah er sich noch einmal um. Ein weiteres Insekt surrte in einer aufdringlichen Kurve an seinem Kopf vorbei, dann noch eines. Dort wo die Fliegen flogen wirbelten die vormals schimmernden Nebelfetzen zu diffusen Wolken aus- und durcheinander.
“Der Ghede hat dein Blut geleckt, als es in den Abgrund geraten ist. Jetzt kommt er, um dich zu holen - und wenn er der Spur des Blutes folgt, wird er dich finden, so lange Blut in deinen Adern fließt. Lauf!” Die letzte Aufforderung war eigentlich überflüssig gewesen, denn Steinmeier hastete bereits die ausgetretenen und feuchtglatten Stufen der gewundenen Treppe hinauf, so schnell es sein Selbsterhaltungstrieb erlaubte und verlangte. Verdammt! Er hätte daran denken müssen, dass es eine idiotische Idee war an der Grenze zum Totenreich zu bluten! War vielleicht doch ein Blutfleck an dem Angelbecher gewesen, der den irren Götzen auf seine Spur gelockt hatte?
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung unten auf der Plattform am Brunnengrund. Begleitet von einem vielstimmigen Summen und Sirren quoll eine schwärzlich schillernde Masse aus unzähligen chitinumhüllten Fliegenkörpern aus der Tiefe, die sich in Sekunden über die von Steinmeier dort zurückgelassene Angel und deren Umgebung ergoss. Mehr und mehr Insekten versammelten sich dort und bildeten einen weiter und weiter anwachsenden Klumpen. Dann hörte der Abgrund auf fliegendes Gewürm auszuspeien und eine Veränderung ging durch die Geschwulst aus Fliegenleibern. Mit einer langgezogenen aber dennoch gleichzeitig mühelos und schlacksig wirkenden Bewegung erhob sich aus dem unförmigen Haufen eine zunächst vage und unscharf wirkende menschliche Kontur, als wäre die Person zuvor dort zusammengekauert gewesen. Mehr und mehr Insekten strömten in die Silhouette, verliehen ihr zunehmend Substanz und Stofflichkeit, bis dort auf der Plattform unverkennbar die große dürre Gestalt von Baron Samedi stand, vollständig bis auf den Zylinderhut. Vom Grauen hypnotisiert hielt Steinmeier inne und starrte aus seiner erhöhten Position mit ungläubig offenstehendem Mund und aufgerissenen Augen hinunter auf das Geschehen. Sein gesamtes Bewusstsein brodelte von dem Wunsch, für den Voodoo Götzen unsichtbar zu sein. Zweimal hatte es schon funktioniert - da musste es auch dieses Mal klappen!
Mit einer aufreizend langsamen Geste streckte Samedi seine Arme aus und die Textur seines Körpers verwandelte sich von einem wabernden Meer aus Insektenkörpern zu samtschwarzer Haut, gekleidet in einen ebenso mattschwarzen Anzug. Als wolle er einen schmerzenden Wirbel einrenken drehte er seinen Kopf nach links und nach rechts, klopfte betont lässig ein paar reale oder imaginäre Staubflusen von seinem linken Ärmel. Dann wandte er sein Gesicht mit zu dem immer noch vor Entsetzen starren Steinmeier, blickte ihn aus weiß brennenden Augen voll schwelender Wut und Rachsucht an und gestikulierte mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand erst zu seinen eigenen Augen und dann zu Finn ein unmissverständliches “Ich sehe dich!”.
Eine Sekunde lang schien die Zeit still zu stehen. In Steinmeiers geistigen Ohren drängte Astrids Stimme vehement und besorgt darauf, er möge weiterlaufen, doch der Blick des Barons hielt ihn wie in einem Bann. Schließlich gelang es ihm doch, sich loszureißen. Er keuchte, besann sich der Situation und rannte jenseits jeder Vorsicht weiter die Treppe hinauf. Unten am Brunnengrund sah ihm der Ghede nach, spie eine Fliege auf den Steinboden, die sich sofort brummend in den Abgrund stürzte und setzte sich gemessenen Schrittes in Bewegung die Treppe hinauf, ein grimmiges Schädelgrinsen auf den geschminkten Lippen.

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