20. Konfrontation (5)

Die Stimme seiner Gegenüber schäumte von unterdrückter Wut und Verachtung. “Glauben Sie wirklich, wir wären auf Sie und Ihre ärmlichen Möglichkeiten angewiesen? Wenn Sie jetzt verschwinden, schlägt das weder hohe Wellen noch hält es uns nennenswert auf. Sie und ihr derzeitiges Wohlbefinden sind nichts weiter als eine Option auf eine Abkürzung auf dem Weg zu unserem Ziel.” Selbstbewusstsein lag in Victoria Thomas Worten und auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, war ihm klar, dass zumindest sie glaubte, was sie sagte - und nur das zählte für sein Überleben. Gefasster, aber mit unvermindertem Nachdruck fuhr sie fort: “Mitternacht, mein Bund, wusste schon immer mit Macht umzugehen. Die Zeit von Unbehauns antiquiertem Bücher- und Debattierclub hingegen ist vorbei. Wenn wir dem Rat erst den Zugang zum Orakel präsentieren, können die Damen und Herren wählen: Entweder sie revidieren ihre Entscheidung, das Orakel an 'Libra et Liber' zu vergeben, oder sie lassen sich auf einen zermürbenden inneren Konflikt mit uns ein. Gegen uns oder gegen Unbehauns Alt-Herren-Verein - was glauben Sie, wie sich die schlappen Intriganten um dieses konfliktscheue Chamäleon von einem Burgherren entscheiden werden?”
Mit der schneidenden Kälte und Präzision eines Skalpells zerteilte eine neue Stimme den etwas einseitigen Dialog. “Eine faszinierende Perspektive, die Sie da offenbaren, Frau Thomas. Wie schön, dass die Schurkenschule von Mitternacht immer noch die gute Tradition des enthüllenden Monologes lehrt!”
Unbehaun! Der Drahtzieher tauchte persönlich auf dem Schlachtfeld auf! Überrascht wollte sich Fiedler zur Quelle der Stimme wenden, musste dann aber realisieren, dass er diese nicht orten konnte. In der Schwärze um ihn herum deuteten ein paar hektische Geräusche an, dass sich auch die Leute von Mitternacht umzuorientieren versuchten. Sekundenbruchteile später gellte ein Schmerzensschrei, gefolgt und übertönt von Unbehauns allgegenwärtiger, vollkommen emotions- und humorfreier Stimme: “Vorsicht, meine Damen und Herren! Am besten Sie halten gänzlich still, sonst rennen Sie noch in die Klingen, die nur Millimeter von Ihrer Haut, Ihrer Kehle oder vielleicht Ihren Augen in der Dunkelheit schweben. Natürlich würde ich den Durnburger Kontrakt niemals brechen - aber sollten Sie aggressive Handlungen vorhaben, kann ich weder für bleibende Schäden noch für Todesfälle bürgen!"
Fiedler registrierte, dass die Thomas diesmal auf keine Provokation zu reagieren schien. Hatte sie etwas vor? Hatte Unbehaun sie bereits ausgeschaltet? Wie stark war Unbehauns Truppe? Konnte er hier etwas sehen?
Offenbar bedachte auch Ebenezer Unbehaun die nächsten Handlungen der Opposition. "Sollte ich recht in der Annahme gehen, Frau Thomas, dass Sie gerade einen magischen Pfeil mit meinem Namen und ein paar Dreingaben besprechen, rate ich Ihnen dringend davon ab.” Die Stimme des Magiers zeigte nicht den Hauch von Unsicherheit. Entweder er bluffte sehr gut oder er konnte tatsächlich über einen Erkenntniszauber die Vorgänge im Raum beobachten. Beides war ihm vorbehaltlos zuzutrauen. “In der Tat habe ich von Ihrer durchaus interessanten Form von Objektmagie gehört. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, Ihnen die Kontrolle ...” Unbehaun ließ das Wort - den Namen seines magischen Spezialgebietes - ein wenig hallen “... über jedes fliegende Geschoss hier entreißen zu können. Das wäre dann nach dem Kontrakt eine Handlung in Selbstverteidigung und ich würde schweren Herzens doch guten Gewissens das symbolische Band des magischen Pfeils zu Ihnen nutzen, um die Flugrichtung entsprechend anzupassen. Eine solche Eskalation kann unmöglich im Sinne unserer beider Parteien und des Rates sein.”
Erneut ließ Unbehaun eine Pause entstehen und diesmal antwortete Victoria Thomas mürrischer Alt mit erneut schlecht gespielter Entrüstung: “Was für bizarre, klischeehafte und dazu noch realitätsferne Unterstellungen - aber was erwartet man sonst von einem Staubfänger von Liber et Libra? Haben Sie vor, mit Ihren Phantastereien fortzufahren, bis wir die Lust an der Sache verlieren oder uns zu beleidigen, bis wir Ihre Leute aus gebrochenem Stolz angreifen? Beides ist meines Erachtens nach aussichtslos. Wir werden uns die Seele der Seherin und den Schlüssel zum Orakel holen - da müssten Sie uns schon mit Gewalt davon abhalten… oh - aber das verbietet Ihnen ja Ihr erhabener Kontrakt.” Häme hatte sich in die Stimme der Agentin von Mitternacht geschlichen. "Wissen Sie was, ich mache Ihnen einen Vorschlag, bei dem Sie ohne Konflikt, ohne Blutvergießen und mit minimalem Gesichtsverlust davonkommen: Der Rat hat Libra et Liber Recht und Pflicht zugesprochen, die Seele der Kirchner und die Verbindung zum Orakel in beherrschbarer Form in Besitz und unter Kontrolle zu bringen. Offenbar stehen der Erfüllung dieses Auftrages einige Hindernisse im Weg - der Brunnengeist und andere Gefahren der Unterstadt zum Beispiel. Wie wäre es, wenn Sie Mitternacht um Hilfe bitten, ganz informell versteht sich. Ich würde dann das Hilfegesuch rasch und unkompliziert annehmen, wir könnten die Seele gemeinsam bergen - und da mein Bund über bessere physische Sicherheitsvorkehrungen verfügt, ist es einfach sinnvoll, wenn die Seele und das Orakel in unserem Schutz und Besitz verbleiben. Wenn Sie diese Lösung selbst im Rat vorschlagen, können Sie vielleicht sogar ein bisschen weise wirken und Eindruck ob Ihrer Bescheidenheit schinden. Na, was sagen Sie?"
Entgegen Sinas vorherigem Rat hatte Fiedler den erneuten Monolog der Thomas dazu genutzt, sich so leise und vorsichtig wie möglich in Richtung der zumindest halbseitig Sicherheit versprechenden Wand zu bewegen. Vielleicht hätte ein anderer Vertreter von Libra et Liber das Kompromissangebot zur konfliktfreien Kapitulation im politischen Winkelzug angenommen. Wenn Unbehaun aber in den letzten zehn Jahren nicht ein grundlegend anderer geworden war, dann lief die Situation gerade schnurstracks auf eine Auseinandersetzung zu. Was trieb Sina gerade? …und wie viel Sinn machte es eigentlich noch, auf Steinmeier zu warten?
Fiedlers im Dunkel zur Sicherheit ausgestreckte Fingerspitzen berührten kalten feuchten und rauhen Stein - die Wand. Rasch und beinahe lautlos drückt er sich mit dem Rücken an und hielt seinen Dolch bereit. Mögen die Spiele beginnen!

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