19. Aus der Tiefe (8)

Finn atmete erleichtert auf, aber nur ein wenig. Dann harrte er aus, am Rande des Abgrundes sitzend und diesen versuchshalber mit seiner Angel reizend. Einige Zeit verging und weder hatten irgendwelche mehr oder weniger paranormalen Naturgewalten begonnen, an Angelschnur und Becher zu zerren, noch hatte ein namenloser lovecraftscher Horror seine Tentakel aus der Brunnenöffnung nach ihm ausgestreckt. Mit einer Mischung aus Zuversicht und Enttäuschung spulte Finn die Angelschnur auf, wobei ihm sein immer noch schmerzender Handteller etwas im Weg war. Offenbar hatte der improvisierte Verband längst durchgenässt und jeder Handgriff, den er mit der rechten Hand verrichtete, hinterließ einen blutigen Abdruck. Leicht angewidert holte er die Angel ein und inspizierte Becher und Angelrute. Bis auf die scheinbar unvermeidlichen Blutflecken war die Rute makellos und solide: keine Fuge war auseinandergeraten, kein Riss war entstanden, keine Schnur hatte sich abgerieben, keine Öse hatte sich gelöst. Auch der Becher schien unbeschädigt - und zudem noch frei von blutigen Abdrücken. Finn nickte zufrieden und fälschte gekonnt einen “Kennerblick”. Die Konstruktion machte durchaus den Eindruck, dass man ihr die Seelenkapsel anvertrauen könnte.
Einmal mehr griff seine Hand nach dem kalten ovalen Behälter in seiner Jackentasche und erneut durchflutete ihn das damit verbundene kühle ruhige Gefühl. Was dieses Ding wohl noch so alles tat, außer Seelen in sich zu fangen? Einen Moment lang spürte er bewusst den tickenden mechanischen Vibrationen aus dem Inneren des Artefakts nach, bevor er den Kopf in einer wohl trainierten rebellischen Geste zur Seite neigte und dazu ansetzte, das Objekt zu öffnen. Sich Fiedlers Anleitung entsinnend nahm er die Seelenkapsel in beide Hände, drückte und drehte wie bei einem Bajonettverschluss und tatsächlich ließen sich die beiden Hälften der Kapsel ohne Gewalt verschieben und verdrehen, bevor sie mit einem sanften Klicken einen Spalt breit auseinandersprangen - jedoch nur um fast sofort wieder dicht zusammenzuschnappen.
Finn fluchte innerlich. Warum mussten die Dinge immer so kompliziert sein? Verflixte Mechanik! Was hatte er jetzt nur wieder verkehrt gemacht?
“Danke, Finn, du hast mich aus dem Totenreich gerettet. Es hat funktioniert. Nun sieh’ zu, dass du es lebend hier heraus schaffst!”
Der plötzliche und unerwartete Klang von Astrids (Astrids!) Stimme ließ Steinmeier vor Schreck zusammen, als hätte man  einen Eimer eisigen Wassers über ihn ausgeleert. “As.. Astrid? Du bist schon da drin?”
“Ja, Finn. Du brauchst die Angel nicht. Hier unten können wir Toten ebenso sein, wie ihr Lebenden. Ich habe auf dich gewartet und darauf, dass du die Kapsel öffnest. Jetzt lauf! Du bist in Gefahr!”
Steinmeier entsann sich Fiedlers Warnung und Bedenken bezüglich anderer Geister, die sich als Astrid ausgeben könnten.
“Woher will ich wissen, dass du wirklich Astrid bist? Du könntest genau so gut ein anderer Geist sein, der mich nur benutzen will, um hier heraus zu kommen.” Er grübelte eine Sekunde lang, bevor er die Seelenkapsel herausfordernd ansah. “Wenn du Astrid bist - welchen meiner Filme fandest du am besten, bevor wir uns kennenlernten?”

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