15. Zurückgekehrt (2)

“Steinmeier lebt?” Seine Erschöpfung ignorierend und von diesem neuen, möglicherweise flüchtigen Ausweg aus seiner moralischen und geschäftlichen Klemme motiviert, kam er zügig auf die Beine. Der Schein seiner Taschenlampe suchte und fand die Einstiegsluke und vorsichtig meisterte Fiedler das schwierige Gelände des Aufzugsdachs, bis er eine hinreichend komfortable Einstiegsposition in das Kabineninnere gefunden hatte. Kniend über die rechteckige Öffnung gebeugt, tastete er mit dem Lichtkegel der Maglite den Hohlraum darunter ab.

Durch den Aufprall waren drei der vier Wände der Kabine wie Pappkarton eingeknickt und das Dach teilweise einen halben Meter nach unten gerückt. Einzig der Rahmen der Aufzugstüre hatte der Gewalt des Aufschlags widerstanden, zwischen den beiden Türhälften klaffte jedoch eine circa dreißig Zentimeter weite Lücke, durch die im Taschenlampenlicht die fleckige Rückseite der Außentür zu erkennen war. Am Boden des Aufzugs lag eine aus der Decke heruntergebrochene transparente Plexiglasleiste, deren ursprüngliche Aufgabe es wohl gewesen war, einer Leuchtstoffröhre Schutz zu bieten. Glücklicherweise fehlte von Glassplittern jede Spur. Was hingegen sofort auffiel, war eine ausgedehnte braunrote Blutlache, die sich großflächig über das fleckige und stellenweise gerissene PVC des Kabinenbodens erstreckte.

In etwa dort, wo sich der Quell des großteils geronnenen Lebenssaftes befinden musste, kauerte Sina (in Menschenform) über einer Gestalt, die am Fuß der beim Aufprall krumm geschlagenen Wand lag. Es war Steinmeier - aber entgegen Sinas Aussage wirkte er in keiner Weise nicht lebendig: Die Haltung des Ex-Schauspielers wirkte unnatürlich verkrümmt und geknickt, an der rechten Schläfe schimmerte ein kleiner Fleck Schädelknochen durch das tiefe Rot einer Platzwunde und aus dem Mundwinkel troff noch der letzte zähe Blutfaden in den Unheil verkündenden See am Boden. Im Laufe seines Lebens hatte Fiedler schon viel zu viele Tote gesehen - und manche davon hatten einen deutlich besseren Eindruck gemacht als der schlaffe, zerschlagene Körper am Boden. In der jetzigen Situation brachte er es jedoch nicht über das Herz und die Lippen, diese Überlegung in einen trocken sarkastischen Kommentar zu verwandeln.

Während Fiedler noch um eine geeignete Äußerung rang, ergriff Sina ohne aufzusehen das Wort: "Wo bleibt denn Ihr berufseigener Scharfsinn? Ich habe gesagt, er ist nicht tot. Die Unterscheidung macht in diesem Fall durchaus Sinn." Sie wirkte angestrengt und konzentriert bei ihrer Betrachtung des Nicht-Toten vor ihr. "Sein Herz schlägt nicht, sein Blut fließt nicht, sein Körper wird kalt und der letzte Atem hat seine Lippen schon längst verlassen. Trotzdem ist da noch Lebenskraft in ihm. Kann das mit Ihrer Seelenkapsel zu tun haben?"

Hastig ging Fiedler sein zugegebenermaßen eher knappes Wissen über Giorgios Artefakt durch und schüttelte dann entschieden den Kopf - ungeachtet dessen, dass ihm seine Gesprächspartnerin gerade den Rücken zuwandte. "Nein, das glaube ich nicht. Die Seelenkapsel muss erst geöffnet werden, bevor sie aktiv ist. Außerdem wäre die Lebenskraft dann bestenfalls in der Kapsel und nicht in Steinmeier selbst. Ich habe so ein Ding schon im Einsatz gesehen - der Körper ist dann eher Nebensache."

"Schade, das wäre eine angenehme Erklärung für seinen Zustand gewesen. Untot ist er aber auch nicht - jedenfalls nicht auf eine mir bekannte Art und Weise. Ein unbemerktes 'Abschiedsgeschenk' von Samedi scheidet damit allerdings aus." Sina legte nachdenklich den Kopf in den Nacken, wandte sich aber, offenbar von Fiedlers Lampe geblendet, schnell wieder nach vorne.

"Können Sie... also ich meine... haben Sie die Möglichkeit, ihm zu helfen?" Fiedlers an der Grenze lange trainierter Höflichkeitsreflex, andere nicht nach ihren Fähigkeiten zu fragen, erschwerte seinen Versuch, die Beschworene auf das seines Erachtens nach einzig Richtige anzusprechen.

Erwartungsgemäß wirkte Sina nicht im geringsten überrascht. "Verzeihen Sie mir meinen leider nicht dem Klischee entsprechenden Verzicht auf Drama und Emotion, Herr Fiedler, aber es läuft auf eine Frage hinaus: Ist Finn Steinmeier für Ihren Plan, Ebenezer Unbehauns Auftrag umzusetzen, ersetzbar?”

Es kostete Fiedler einiges an Überwindung, um nicht reflexartig und impulsiv zu verneinen, sondern statt dessen unter Aufbringung all seiner trainierten Professionalität seine verbleibenden Optionen abzuschätzen. Zu seiner Erleichterung fühlte sich das Ergebnis jedoch auch moralisch richtig an: "Wenn wir kurzfristig Erfolg haben wollen - nein. Falls er endgültig stirbt, hätte ich erst in der Ordnung von Wochen einen ... Ersatzmann für ihn, der dann zudem auch noch schlechter geeignet wäre. Jetzt", Fiedler hob das Wort betont hervor, "brauche ich Steinmeier - und zwar lebendig, nicht nur nicht-tot!"

Sinas Körpersprache und Zögern zeigten, dass sie zwar mit dieser Antwort gerechnet hatte, deren Inhalt ihr aber nicht besonders gut gefiel. Kaum eine Bedenksekunde später strafften sich aber ihre Schultern wieder und sie stand mit einer entschlossenen Bewegung auf. "Wie Sie wünschen. Dann werde ich versuchen, Herrn Steinmeiers Geist wieder mit seinem angestammten Körper zu versehen." Sie blickte mit vor die Augen gehaltener Hand zu Fiedler und seiner Taschenlampe hinauf. "Ein echter Gentleman würde einer Dame bei so einem Unterfangen ihre Privatsphäre lassen, Herr Fiedler, und Sie sollten das besser auch tun. Nehmen Sie also ihre grässlich grelle Funzel aus der Dachluke und geben Sie mir Ihr Wort, dass Sie erst wieder einen Blick in diese Aufzugkabine werfen, wenn ich Sie dazu auffordere - oder nach Ablauf einer Stunde, je nachdem, was früher eintritt!"

1 Kommentar:

Stefan hat gesagt…

Uuuuuh - dramatische Aussagen, und Haarspaltereien von Sina... ich bin gespannt, in welche Situation Steinmeiers "du siehst mich nicht"-Trick ihn gebracht hat!