24. Auf ein Andermal (1)

Unter den “Schergen” in Unbehauns Organisation hielt sich wacker das Gerücht, die sagenumwobene Regenerationsgabe von Lukas Brack würde ihn auch vor den Folgen heftigen Alkoholkonsums bewahren. Zu Bracks tiefem Bedauern hatte diese Legende aber keinen wahren Kern und sein Kopf pulsierte und gähnte eine schmerzhafte Erinnerung an die zahlreichen am vergangenen Abend zu seinen Ehren geleerten Gläser. Mit zusammengekniffenen Augen lehnte er an einem der blanken Metallpfosten, die das Plexiglasdach der Neuen Schlosserbrücke trugen und genoss das Halbdunkel des noch nicht ganz angebrochenen Tages. Um diese Uhrzeit verirrten sich selbst von den Normalos nur vereinzelt Passanten auf die Fußgängerbrücke, zumeist mürrisch oder gehetzten Schrittes auf dem Weg zu einer beruflichen Verpflichtung. Ein wunderbarer Moment, um die Privatsphäre des Schleiers und des schlechten Rufes der Brücke unter den Grenzgängern wie die kühle frische Morgenluft in vollen Zügen zu genießen.
“Brack, alter Haudegen!” Fiedlers vertraute Stimme ließ die Illusion von Abgeschiedenheit und Einsamkeit wie eine Seifenblase zerbersten und ein kameradschaftlich ehrliches Schmunzeln besetzte Bracks verwitterte Miene, als der Privatdetektiv den Brückenbogen entlang auf ihn zuhielt. Als die Entfernung eine Unterhaltung mit gemäßigterer Lautstärke zuließ, setzte Fiedler seine Anrede fort. “Was bei Odins eisigen Eiern bringt dich dazu, die Neue Schlosserbrücke als Treffpunkt auszumachen - und was hast du bitte mit dem vermaledeiten Troll angestellt? Verdroschen? Bestochen?” Er musterte den verkaterten Brack etwas näher und ergänzte mit schiefem Grinsen: “Oder hast du ihn etwa unter den Tisch gesoffen?”
“Nun werden Sie mal nicht frech, Herr Fiedler!” Mit hochgezogener Augenbraue und schlecht gespielter Verärgerung visierte Brack den Papphalter mit den beiden großen dampfenden Coffee-to-Go Bechern in Fiedlers Händen an. “Aber mit etwas Koffein im Blut vergesse ich diese Respektlosigkeit gegenüber Ihrem ehemaligen Leutnant wieder. Willst du die beide ganz alleine trinken, oder hast du einen davon übrig?”
Freundlich auflachend reichte ihm Fiedler bereitwillig eines der beiden Heißgetränke. Dann ließ er das Kartontablett lässig in einem nahegelegenen Abfalleimer verschwinden, während Brack behutsam an seinem Becher nippte und erläuterte: “Der Troll muss gerade eine kleine Identitätskrise verarbeiten und ganz besonders auf mich hat er wohl gar keinen Bock mehr. In ein paar Wochen sieht das sicher anders aus - das Gedächtnis von Brückentrollen ist ja nicht unbedingt berühmt.”
Fiedler nahm lässig einen Platz neben Brack am Geländer ein und schlürfte einen Schluck Heißgetränk aus dem Plastikbecher. “Das schränkt die Auswahl auf ‘verdroschen’ und ‘unter den Tisch gesoffen’ ein. Wie viel Kaffee muss ich dir ausgeben, um mehr über diese Identitätskrise zu erfahren? Ich nehme an, das hängt mit der Geschichte von letzter Woche zusammen, oder?”
“Du bist eben eine echte Spürnase, Herr Detektiv.” Ironisch verzog Brack die Mundwinkel. “Aber ja, das ist genau der Grund, warum ich dich treffen will - und warum ich dich hier treffen will.”
Seine Miene war deutlich nüchterner, als er fortfuhr. “Mal im Ernst, Fiedler. Bei der Sache mit dir, Unbehaun und der Geisterbraut sind mir dann doch zu viele Fragen offen geblieben. Für mich stank die ganze Angelegenheit von vorne bis hinten nach miesester Politik und Ränke. Ich bin kein Freund von Intrigen. Andererseits weiß ich, dass du zwar mit Intrigen leben kannst - aber sehr viel Wert darauf legst zu wissen, wer warum an den Fäden zieht. Also schlage ich dir einen Deal vor: Jeder von uns packt aus, was er weiß - und erzählen kann. Danach wissen wir beide besser Bescheid, schweigen darüber und überleben vielleicht etwas länger mit dem, was wir wissen. Abgemacht?”
Fiedler sah ihn nachdenklich an. “Weiß Unbehaun, dass du hier bist und mit mir sprichst?”

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