12. Auf ab Wege (4)

Dann hatte Fiedler das staubbedeckte blecherne in der schabenden Abwärtsbewegung der Kabine zitternde Dach des Fahrstuhls erreicht und er machte sich daran, seine neue Umgebung zu verstehen. Über ihm wuchs der rechteckige Aufzugsschacht, fahl erleuchtet von den in unregelmäßigen Abständen an einer Seite kränklich grün glimmenden Notfallbeleuchtungen der Aufzugstüren und endete in undurchdringlichem Schatten. Bis in diesen hinauf ragte von der Kabine ein schwankendes Bündel unterarmdicker straff gespannter Kabel oder Seile, dessen Gegenstück an der türabgewandten Seite des Schachtes in zuckender Ausgleichsbewegung von unten her am Aufzug vorbeiglitt. Fiedlers taktischer Verstand schaltete sich ein: Wenn die Kabine weiter nach unten sackte, könnte das aufsteigende Kabelbündel eine “Mitfahrgelegenheit” für eine Flucht nach oben darstellen!

Derzeit kauerte Sina, tatsächlich von Kopf bis Fuß in eine Art enganliegender schwarzer Lederrüstung gekleidet, aber neben ihm auf dem Aufzug und versuchte, durch die Lukenöffnung, den ungewohnt ruhigen Steinmeier zur Kooperation zu bewegen: "Sie wollen doch nicht mit diesem Ding in den Abgrund stürzen, Finn. Kommen Sie her, dann hole ich Sie da raus!" Der stets gegenwärtige schnurrende Unterton in Sinas Stimme war auf ein ungewöhnlich sachliches Minimum abgefallen.

"Beruhigen Sie sich, meine Teure. Ich hab' mich mal für 'ne Rolle in so 'nem Aufzug-Klaustrophobie-Streifen vorbereitet. Wahrscheinlich gibt es das alles nicht, da wo Sie herkommen - hey, ich weiß nicht mal, ob Sie da überhaupt sowas wie 'nen Lift brauchen - aber ein Aufzug aus dem zwanzigsten Jahrhundert kann eigentlich gar nicht abstürzen. Da gibt es Otisbremsen, Geschwindigkeitsbremsen, hydraulische Fangvorrichtungen und allerhand narrensicheres Zeug. Glauben Sie mir, es ist eigentlich schon ein kleines Wunder, dass so ein Teil überhaupt noch abwärts fahren kann!" Steinmeiers Worte klangen souverän und selbstsicher, wenn auch ein wenig einstudiert.

"Finn, das ist keine eurer Maschinen, die mal wieder versagt! Das war ein Hexenfluch oder so etwas Ähnliches!" Auf Sinas Miene spielte fast so etwas wie Sorge und … Angst?

Steinmeier zögerte.

Etwas klackte, einen Moment lang schabte Stahl auf Stahl, dann beendete ein dumpfer Schlag das Abgleiten der Aufzugskabine. Fiedler unterdrückte einen Schmerzenslaut, als er mit den Handgelenk auf das Metalldach des Aufzugs schlug. Mit verkniffenem Gesicht zog er sich am zitternden doch nun stillstehenden Strang der Fahrstuhlkabel wieder hoch.

Aus dem Klang von Steinmeiers Stimme durch die Dachluke war zu hören, dass sein charakteristisches schief triumphierendes Grinsen zurückgekehrt war: "Na bitte! Sieht so aus, als müsste sich Ihre schöne magische Welt immer noch ein bisschen an die Gesetze der Realität halten!"


"Sagen Sie, Fiedler, brauchen wir diesen Trottel wirklich?" Sichtlich gereizt sah Sina zu Fiedler hoch. Von Besorgnis war in ihrer Stimme nichts mehr zu hören.

"Er ist wichtig. Außerdem haben wir ihn mitgenommen - jetzt passen wir auf ihn auf." Fiedler klang eindringlich und laut, während er sich das beim Sturz geprellte Handgelenk hielt. "Holen Sie ihn da raus, bevor denen was Neues einfällt!"

"OK, ich komm' feiwillig raus!" Womöglich hatte Steinmeier Fiedlers letzten Satz gehört und wollte nicht abwarten, mit welchen Maßnahmen Sina zu Werke gehen würde. Wie auch immer - durch die immer noch halb offen stehende Dachluke war zu erkennen, wie sich Finn feixend in Bewegung setzte. Da traf ein zweiter Schlag den Lift wie die Faust eines Riesen.

Ein Schrei gellte - es war Sinas Stimme - erneut brach etwas Stählernes im Aufzugsschacht und plötzlich befand sich die Kabine im freien Fall.

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