10. Andere Saiten (6)


Erst wenn du dich vergisst, hast du verloren!

Riesig und bedrohlich hob sich die monströse Silhouette des Trollwesens aus dem verwehenden Nebel. Nun hatte es sich mit seiner brachialen Front umgewandt und das schartige Trollmaul geiferte, als das Monstrum linkisch hinkend auf sein Opfer zuwankte:

"Ich fress' mit Haut, Haar und Genuss, ..." ein bebender schwarzes Blut triefender Fuß stampfte auf die Betonplatten der Neuen Schlosserbrücke. "Wer auf die Brücke setzt den ..."

Der Rest des klobigen Reimes ging in überraschtem Röcheln unter, als sich ein stählerner Bolzen von vorne in die Kehle des Trollkopfes bohrte und mit klackend ausfahrenden Widerhaken dort stecken blieb. Während der Troll noch stutzte und schier ungläubig mit seiner borstigen Pranke nach dem Dorn in seiner Kehle fasste, senkte Brack seinen linken Unterarm, an dessen Handgelenk noch die Wurfarme der Bolzenschleuder unter dem zerfetzten Mantelsaum zu sehen waren, stützte sich auf, spuckte einen Mundvoll Blut auf den Boden und begann, mühsam auf allen Vieren zu krabbeln. Stück für Stück in Richtung von Irene Hasmanns silberner Phiole, die beim Hieb aus seiner Tasche geschleudert, ein paar Meter weiter in einer trüben bräunlich schwarzen Pfütze am Boden lag.

Immer das Ziel im Auge behalten!

Gequält setzte er eine Hand vor die andere und hoffte inständig, dass ihm die Kontrolle über seine Knie nicht entglitt. Um ihn herum war die Luft erfüllt mit dem monoton prasselnden Geräusch des Regens und dem feinen Nebel, der kalt und klamm vom Plexiglasdach der Brücke herunterwehte. Wie unendlich weit doch die paar Schritte bis zu dem Paket erscheinen konnten! Im Geiste zählte er verzweifelt die regennassen Metallstreben des Brückengeländers zu seiner Linken, doch seine Konzentration reichte nicht aus, um sich diese Zahl tatsächlich zu merken. Leise knackend fügte sich ein gebrochener Rippenbogen wieder zusammen.

Vergiss nie, wer hinter dir steht!

Diese Aufforderung an sich selbst war im Grunde genommen überflüssig. Jeder Teil von Bracks Geist, dem er gerade nicht seinen zielgerichteten Willen aufzwängen konnte, war damit beschäftigt, die Handlungen des Trolls abzuschätzen. Ein Bolzen durch den Hals - selbst wenn es kalter Stahl war - reichte nicht aus, um einen Brückentroll, der sich eine Stahlbetonbrücke zu eigen gemacht hatte, auszuschalten. Doch wie lange würde der Stachel in seiner Kehle ihn hinhalten? Was würde der Troll danach tun? Seinem Zorn freien Lauf lassen, so viel war klar - aber wie? Die lästige sterbliche Laus zerquetschen oder lieber erst wüten und schreien, wie es das stumpf prahlerische Trollgesindel so gerne tat? Unnütze Gedanken! Er würde es früh genug erfahren - und tun konnte er dagegen sowieso nichts. Keine Zeit, keine Kraft für einen Blick über die Schulter, für eine Ablenkung vom letztmöglichen Ausweg. Noch vielleicht einen Meter! Einen schier ewig dauernden Meter!

Wenn du es nicht versuchst, kannst du es nicht schaffen!

Nicht nachlassen! Ohrenbetäubendes Brüllen ließ die gesamte Brücke von Grund auf erzittern. Der Troll hatte sich anscheinend endlich gerade den Bolzen aus dem Fleisch gerissen und röhrte nun seinen neu aufgeflammten Schmerz und seine wütende Blutgier in die Nacht. Die Brücke erbebte unter dem ohrenbetäubenden Geschrei, Brack jedoch ließ sich nicht beirren. Dann war es soweit: Das silbern durchwirkte milchig schimmernde Glasgefäß lag nach einem letzen mühsamen Nachziehen der immer noch etwas tauben Beine in seiner Reichweite.

Mit nahezu letzter Kraft und etwas Triumph packte Brack die Phiole sicher mit der rechten Hand. Just in diesem Moment packte eine gewaltige Pratze seinen wie einen Zahnstocher brechenden Unterschenkel und riss ihn in einem brachialen Ruck rückwärts nach oben. Einmal mehr brandete eine Welle gleißenden Schmerzes durch den geschundenen Körper des wuchtigen Mannes und drohte, dessen Bewusstsein zu überwältigen, doch erneut schaffte Brack es, sich an der bewussten Welt und an dem mühsam erbeuteten Gefäß festzuklammern.

Wenn ... du ... einen ... Vorteil ... hast, ... gib ... ihn ... nicht ... wieder ... her!

Die wilde Schleuderbewegung endete darin, dass Brack kopfüber vor den beiden albtraumhaften Fratzen des Trolls baumelte, während immer mehr süßlich nach Eisen schmeckende Flüssigkeit in seinem Mund und Rachen zusammenlief, aus seiner Nase tropfte und sich mit dem zähen schwarzen Trollblut auf dem Brückenboden in zischenden Dampfwolken verband. Mühsam liefen seine Denkprozesse wieder an, als die zweite Trollpranke ausholte, um dem lästigen sterblichen Plagegeist endgültig den Gar aus zu machen.

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