Auf
subtile Art und Weise erinnerten Griselda von Radewitz Augen an die
eines Raubvogels, als sie Zeichen um Zeichen, Zeile für Zeile das
Schreiben auf dem cremeweißen Büttenpapier des Briefes abrasterten.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Fiedler insgeheim, was in ihrem Kopf
wohl vorgehen musste, wenn sie das tat, wofür sie bekannt war: den
Wahrheitsgehalt von Aussagen (seien sie schriftlich, mündlich oder
in Bildform verfasst) zu überprüfen. Konnte man das als eine Art
Seherei betrachten oder als Form des indirekten Gedankenlesens?
Teilten ihr die Buchstaben mit, ob sie bedeuteten, was sie sagten
oder hatte sie über das Geschriebene Zugang zu dem Teil der
Realität, der von diesem beschrieben wurde? Eigentlich egal, dann
was zählte war, dass sie sich offenbar bislang noch nie geirrt
hatte.
Nach
dreifacher Lektüre des Briefes wich etwas Anspannung aus ihrem
Gesicht, sie senkte das Dokument und blickte Fiedler mit ernstem
Blick an. "Nach allem was ich feststellen kann, entspricht das
hier geschriebene in allen Aspekten der Wahrheit. Der Verfasser
dieser Zeilen heißt Ebenezer Unbehaun und ist tatsächlich die
Person, die mit den beschriebenen Ereignissen in Baltungshult in
Verbindung steht. Der Auftrag ist Wort für Wort ernst gemeint und
gilt bindend als Einlösung des von Ihnen geschuldeten Gefallens. Zu
guter Letzt", ihre Augen nahmen nun Sina ins Visier, "ist
diese Dame dort die bereits angekündigte und im Brief erwähnte
beschworene Botin des Herrn Unbehaun - auch hier ist die Aussage
vertrauenswürdig. Allein der Schlußabsatz mit dem besten Wünschen
erscheint mir als Floskel und ohne Bedeutung - aber wenn ich Sie
richtig enschätze, Herr Fiedler, darauf kommt es Ihnen
wahrscheinlich nicht an."
Fiedler
wirkte etwas gequält aber entschlossen. "Danke, Frau von
Radewitz. Ich kann nicht sagen, dass ich mit dem Ergebnis besonders
glücklich bin - aber danke." Er
warf einen Blick zu der sehr mit dem Ergebnis und sich selbst
zufrieden wirkenden Sina hinüber.
Griselda
von Radewitz deutete ein höfliches Nicken an. „Nichts zu Danken,
Herr Fiedler. Gibt es vielleicht noch etwas, mit dem ich Ihnen
behilflich sein kann?“
Es
entstand eine kurze Pause, in
der Fiedler erst zu einer
ablehnenden Geste anhob, dann zögerte und schließlich mit
nachdenklicher Miene zurückfragte: „Nun, eine Sache vielleicht.
Haben Sie nicht Quentin Fechtner in Ihre Dienste genommen?“
„Ja,
in der Tat, das habe ich.“ Frau von Radewitz wirkte von der Frage
überrascht. „Aber ich denke nicht, dass seine Expertise in dieser
Angelegenheit weiterführt.“
Erneut
schüttelte Fiedler den Kopf. „Mitnichten.
Ich gehe nur davon aus, dass zu den Vertragsbedingungen Ihrer Leute
wahrscheinlich ein Verzicht auf das Eingehen jeder Art von rituellen
Verbindung steht. Irre ich mich?“
Diesmal
war es Griselda, die verneinend entgegnete: „Sie irren sich nicht.
Selbstverständlich ist das Eingehen einer rituellen Verknüpfung für
meine Experten tabu. Das Potential zur Kompromittierung, das eine
solche Verbindung mit sich bringt, ist in unserer Branche ein
untragbares Risiko für die Integrität.“
Einen
Moment lang fragte sich Fiedler, ob die von Radewitz sich wohl auf
die Zunge beißen musste, um nicht nachzuhaken oder ob sie sich für
den Hintergrund seiner Frage tatsächlich nicht interessierte. Wie
dem auch sein mochte, der Brief war echt, der eingeforderte Gefallen
damit auch und so war es an der Zeit, den Minotauren bei den Hörnern
zu packen.
Die
Sache mit Fechtner wäre eine nette Chance gewesen, so einfach wie zu
ihm würde er wohl zu keinem anderen Kontakt aufnehmen können, der
in den Tod von Astrid Kirchner verwickelt war, aber Vertrag war nun
mal Vertrag und Fechtner kam als Anker für eine rituelle Verbindung
nicht in Frage. Es musste also ein anderer Ansatzpunkt für eine
Verbindung her – und Fiedler hatte schon eine Idee, wer ihm helfen
könnte, die geeigneten Kandidaten zu finden.
„Danke,
Frau von Radewitz, in diesem Fall gibt es wohl nichts, was Sie für
uns und unser Anliegen tun können. Vielen Dank auch, dass Sie sich
so ausgiebig Zeit für uns genommen haben – es ist wohl besser, wir
gehen jetzt und lassen Sie Ihren sicher zahlreichen weiteren
Verpflichtungen nachkommen.“ Höflich
lächelnd stand er auf und wandte sich zu
Sina: „Verehrte Statthalterin
meines Auftraggebers, ich
nehme an, es wird nicht nötig sein, Ihnen Ihre
Jacke zu reichen?“
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