3. Sonstige Besucher (4)


Auf subtile Art und Weise erinnerten Griselda von Radewitz Augen an die eines Raubvogels, als sie Zeichen um Zeichen, Zeile für Zeile das Schreiben auf dem cremeweißen Büttenpapier des Briefes abrasterten. Nicht zum ersten Mal fragte sich Fiedler insgeheim, was in ihrem Kopf wohl vorgehen musste, wenn sie das tat, wofür sie bekannt war: den Wahrheitsgehalt von Aussagen (seien sie schriftlich, mündlich oder in Bildform verfasst) zu überprüfen. Konnte man das als eine Art Seherei betrachten oder als Form des indirekten Gedankenlesens? Teilten ihr die Buchstaben mit, ob sie bedeuteten, was sie sagten oder hatte sie über das Geschriebene Zugang zu dem Teil der Realität, der von diesem beschrieben wurde? Eigentlich egal, dann was zählte war, dass sie sich offenbar bislang noch nie geirrt hatte.

Nach dreifacher Lektüre des Briefes wich etwas Anspannung aus ihrem Gesicht, sie senkte das Dokument und blickte Fiedler mit ernstem Blick an. "Nach allem was ich feststellen kann, entspricht das hier geschriebene in allen Aspekten der Wahrheit. Der Verfasser dieser Zeilen heißt Ebenezer Unbehaun und ist tatsächlich die Person, die mit den beschriebenen Ereignissen in Baltungshult in Verbindung steht. Der Auftrag ist Wort für Wort ernst gemeint und gilt bindend als Einlösung des von Ihnen geschuldeten Gefallens. Zu guter Letzt", ihre Augen nahmen nun Sina ins Visier, "ist diese Dame dort die bereits angekündigte und im Brief erwähnte beschworene Botin des Herrn Unbehaun - auch hier ist die Aussage vertrauenswürdig. Allein der Schlußabsatz mit dem besten Wünschen erscheint mir als Floskel und ohne Bedeutung - aber wenn ich Sie richtig enschätze, Herr Fiedler, darauf kommt es Ihnen wahrscheinlich nicht an."

Fiedler wirkte etwas gequält aber entschlossen. "Danke, Frau von Radewitz. Ich kann nicht sagen, dass ich mit dem Ergebnis besonders glücklich bin - aber danke." Er warf einen Blick zu der sehr mit dem Ergebnis und sich selbst zufrieden wirkenden Sina hinüber.

Griselda von Radewitz deutete ein höfliches Nicken an. „Nichts zu Danken, Herr Fiedler. Gibt es vielleicht noch etwas, mit dem ich Ihnen behilflich sein kann?“

Es entstand eine kurze Pause, in der Fiedler erst zu einer ablehnenden Geste anhob, dann zögerte und schließlich mit nachdenklicher Miene zurückfragte: „Nun, eine Sache vielleicht. Haben Sie nicht Quentin Fechtner in Ihre Dienste genommen?“

„Ja, in der Tat, das habe ich.“ Frau von Radewitz wirkte von der Frage überrascht. „Aber ich denke nicht, dass seine Expertise in dieser Angelegenheit weiterführt.“

Erneut schüttelte Fiedler den Kopf. „Mitnichten. Ich gehe nur davon aus, dass zu den Vertragsbedingungen Ihrer Leute wahrscheinlich ein Verzicht auf das Eingehen jeder Art von rituellen Verbindung steht. Irre ich mich?“

Diesmal war es Griselda, die verneinend entgegnete: „Sie irren sich nicht. Selbstverständlich ist das Eingehen einer rituellen Verknüpfung für meine Experten tabu. Das Potential zur Kompromittierung, das eine solche Verbindung mit sich bringt, ist in unserer Branche ein untragbares Risiko für die Integrität.“

Einen Moment lang fragte sich Fiedler, ob die von Radewitz sich wohl auf die Zunge beißen musste, um nicht nachzuhaken oder ob sie sich für den Hintergrund seiner Frage tatsächlich nicht interessierte. Wie dem auch sein mochte, der Brief war echt, der eingeforderte Gefallen damit auch und so war es an der Zeit, den Minotauren bei den Hörnern zu packen.

Die Sache mit Fechtner wäre eine nette Chance gewesen, so einfach wie zu ihm würde er wohl zu keinem anderen Kontakt aufnehmen können, der in den Tod von Astrid Kirchner verwickelt war, aber Vertrag war nun mal Vertrag und Fechtner kam als Anker für eine rituelle Verbindung nicht in Frage. Es musste also ein anderer Ansatzpunkt für eine Verbindung her – und Fiedler hatte schon eine Idee, wer ihm helfen könnte, die geeigneten Kandidaten zu finden.

„Danke, Frau von Radewitz, in diesem Fall gibt es wohl nichts, was Sie für uns und unser Anliegen tun können. Vielen Dank auch, dass Sie sich so ausgiebig Zeit für uns genommen haben – es ist wohl besser, wir gehen jetzt und lassen Sie Ihren sicher zahlreichen weiteren Verpflichtungen nachkommen.“ Höflich lächelnd stand er auf und wandte sich zu Sina: „Verehrte Statthalterin meines Auftraggebers, ich nehme an, es wird nicht nötig sein, Ihnen Ihre Jacke zu reichen?“

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